OGH 8ObA35/24s

OGH8ObA35/24s24.10.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Tarmann‑Prentner als Vorsitzende, die Hofräte MMag. Matzka und Mag. Dr. Sengstschmid sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Mörk (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Albert Kyncl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei F* B*, vertreten durch Dr. Stefan Lahnsteiner, Rechtsanwalt in Ebensee, gegen die beklagte Partei L* AG, *, vertreten durch Dr. Guido Bach, Rechtsanwalt in Wien, wegen 2.052,82 EUR netto und 14.962,33 EUR brutto sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. Mai 2024, GZ 12 Ra 21/24f‑45, mit dem über Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 27. Februar 2024, GZ 14 Cga 31/23d‑38, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:008OBA00035.24S.1024.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.410,90 EUR (darin enthalten 235,15 EUR an USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger war ab 25. 9. 2018 als Arbeiter in der Papierproduktion bei der Beklagten beschäftigt. Vom Schichtführer der Schichtgruppe, welcher der Kläger zugeteilt war, wurde eine WhatsApp‑Gruppe mit dem Namen „Schicht C“ eingerichtet. In diese stellte der Kläger am 14. 3. 2023 um 16:10 Uhr als Reaktion auf die Ankündigung eines anderen Mitarbeiters, er werde Würstel in die Nachtschicht mitbringen, ein Foto, das eine unmündige männliche Person beim oralen Geschlechtsverkehr mit einer anderen unmündigen männlichen Person zeigt. Der Schichtführer sah dieses Foto noch am selben Tag. Die Prokuristin und Personalverantwortliche der Beklagten erfuhr davon frühestens am 12. 4. 2023; am 13. 4. 2023 sprach sie die Entlassung des Klägers aus.

[2] Der Kläger begehrt 2.052,82 EUR netto Entgelte für den Zeitraum von 1. 1. bis 13. 4. 2023, 14.705,92 EUR brutto Kündigungsentschädigung und 256,41 EUR brutto BMSVG‑Beiträge. Die Entlassung sei unbegründet und verspätet erfolgt.

[3] Die Beklagte beantragt die Abweisung der Klage. Die Entlassung sei gerechtfertigt. Der Kläger sei zur Erstattung von Ausbildungskosten in Höhe von 7.046 EUR verpflichtet. Ein Teilbetrag von 2.112,82 EUR sei bei der Endabrechnung abgezogen worden, der Rest werde aufrechnungsweise eingewendet.

[4] Das Erstgericht gab der Klage statt. Die Beklagte habe sich die Passivität des Schichtleiters zurechnen zu lassen, weshalb die Entlassung verspätet sei.

[5] Über Berufung der Beklagten änderte das Berufungsgericht diese Entscheidung im klagsabweisenden Sinn ab. Unabhängig davon, ob die WhatsApp‑Gruppe zu beruflichen oder anderen Zwecken gegründet worden sei, sei die Verbreitung einer kinderpornografischen Darstellung in dieser Gruppe, der ausschließlich Arbeitnehmer der Beklagten angehörten, jedenfalls geeignet, das Vertrauen der Beklagten in eine ordnungsgemäße Erfüllung der Pflichten durch den Kläger zu erschüttern. Die Kompetenzen des Schichtführers gingen nicht über die eines üblichen „bloß unmittelbaren Vorgesetzten“ hinaus, weshalb dessen Kenntnis der Beklagten nicht zurechenbar sei. Die Entlassung sei rechtzeitig, weil von jenem Zeitpunkt auszugehen sei, in dem der Prokuristin der Entlassungsgrund bekannt geworden sei.

[6] Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil eine Klarstellung zur Abgrenzung von „einfachen Vorgesetzten“ – deren Kenntnis des Entlassungsgrundes dem Arbeitgeber nicht zuzurechnen sei – gegenüber „ganz oder überwiegend mit Personalagenden betrauten leitenden Angestellten“ – deren Kenntnis des Entlassungsgrundes dem Arbeitgeber zuzurechnen sei – angebracht erscheine.

Rechtliche Beurteilung

[7] Die von der Beklagten beantwortete Revision des Klägers ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts (§ 508a Abs 1 ZPO) mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[8] 1.1. Nicht jede strafbare Handlung ist ein Entlassungsgrund nach § 82 lit d GewO 1859. Macht sich der Arbeitnehmer einer anderen strafbaren Handlung als Diebstahl oder Veruntreuung schuldig, so muss diese, um eine Entlassung zu rechtfertigen, objektiv geeignet sein, den Verlust des Vertrauens des Arbeitgebers herbeizuführen. Ein Arbeitnehmer verliert dann das Vertrauen des Arbeitgebers, wenn sich dieser mit Rücksicht auf die strafbare Handlung nicht mehr darauf verlassen kann, dass der Dienstnehmer seine Pflichten getreulich erfüllen werde. Es kommt hiebei darauf an, ob das Verhalten des Dienstnehmers nach den gewöhnlichen Anschauungen der beteiligten Kreise objektiv Vertrauensunwürdigkeit bewirkt (RS0060363 [T4]). Maßgeblich ist, ob zufolge seines Verhaltens für den Arbeitgeber die objektiv gerechtfertigte Befürchtung besteht, dass seine Interessen und Belange durch den Arbeitnehmer gefährdet sind (RS0060407). Es ist auf die konkreten Auswirkungen, welche die Tat auf das Arbeitsverhältnis hatte, abzustellen, wobei sowohl die Tatumstände (insbesondere Schuldintensität und Folgen) als auch die Art der vom Arbeitnehmer verrichteten Arbeit Beachtung zu finden haben (RS0114536).

[9] 1.2. Ob der Entlassungstatbestand des § 82 Abs 1 lit d GewO 1859 verwirklicht ist, kann immer nur aufgrund der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden und stellt daher in der Regel keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0029672 [T13]; RS0106298; RS0103201).

[10] 1.3. § 207a Abs 3 StGB pönalisiert bereits den Besitz einer Missbrauchsdarstellung von Minderjährigen. Durch die Übermittlung eines solchen Bildes an Arbeitskollegen setzte der Kläger diese daher dem Risiko der Strafverfolgung aus. In Anbetracht dessen hat das Berufungsgericht durch die Rechtsauffassung, das Verhalten des Klägers begründe Vertrauensunwürdigkeit, seinen Beurteilungsspielraum nicht überschritten.

[11] 2.1. Den Arbeitgeber trifft die Obliegenheit, ihm bekannt gewordene Entlassungsgründe unverzüglich geltend zu machen, widrigenfalls das Entlassungsrecht des Arbeitgebers erlischt (RS0028965). Bekannt geworden ist der Entlassungsgrund dem Arbeitgeber, sobald diesem alle für die Beurteilung des Vorliegens des Entlassungsgrundes wesentlichen Einzelheiten der Handlung und der Person zur Kenntnis gelangt sind, wobei der Kenntniserlangung durch den Arbeitgeber die Kenntnisnahme durch seinen Stellvertreter oder durch einen ganz oder teilweise mit Personalagenden befassten leitenden Angestellten gleich zu halten ist. Nicht entscheidend ist, ob dieser selbst berechtigt ist, die Entlassung auszusprechen. Die Kenntnis des bloß unmittelbaren bzw eines sonstigen Vorgesetzten reicht hingegen nicht (RS0029321 [insb T5, T6, T7, T8 und T9]).

[12] 2.2. Bereits durch diese Judikatur, die das Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, sind die Leitlinien für die Abgrenzung derjenigen Vorgesetzten, die sich der Arbeitgeber für die Beurteilung der Rechtzeitigkeit einer Entlassung zurechnen lassen muss, von jenen, bei denen dies nicht der Fall ist, hinreichend definiert. Außer dem (zur Entlassung befugten) Stellvertreter sind dem Arbeitgeber nur leitende Angestellte gleichzuhalten, die ganz oder teilweise mit Personalagenden betraut sind. Dagegen sind ihm sonstige Vorgesetzte nicht zuzurechnen, deren Weisungsbefugnis üblicherweise auf die fachliche Erledigung der Arbeit beschränkt ist. Personalagenden in geringerem Umfang, mit denen üblicherweise jeder Vorgesetzte betraut ist, wie die konkrete Arbeitseinteilung oder die Entgegennahme von Meldungen betreffend Dienstverhinderungen, begründen – unabhängig von der herangezogenen Definition (RS0052228; RS0051261; zum ArbVG: RS0050979; RS0053034; RS0051284; RS0051011; RS0051002; zum AZG: RS0051312; RS0051276) – jedenfalls nicht die Stellung als leitender Angestellter.

[13] 2.3. Welche Vorgesetzten damit konkret als dem Arbeitgeber zurechenbar qualifiziert sind, ist eine Frage des Einzelfalls, die keiner weiteren Generalisierung zugänglich ist und damit grundsätzlich – abgesehen von Fällen grober Fehlbeurteilung – keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO begründet (RS0044088).

[14] 2.4. Der Schichtführer des Klägers war zur Entgegennahme von Meldungen über Urlaube und Dienstverhinderungen befugt und hatte für entsprechenden Ersatz Sorge zu tragen. Disziplinlosigkeiten hatte er seinen Vorgesetzten zu melden. Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass diese Kompetenzen für die Qualifikation als mit Personalagenden betrauter leitender Angestellter nicht ausreichen, sodass der Schichtführer als bloßer unmittelbarer Vorgesetzter zu werten ist, ist nicht zu beanstanden. Gleiches gilt für die darauf aufbauende Auffassung, dass die Entlassung rechtzeitig erfolgt ist.

[15] 3. Die Feststellungsgrundlage ist nur dann mangelhaft, wenn Tatsachen fehlen, die für die rechtliche Beurteilung wesentlich sind und dies Umstände betrifft, die nach dem Vorbringen der Parteien und den Ergebnissen des Verfahrens zu prüfen waren (RS0053317).

[16] Ob die Behauptungen des Klägers zu einer betrieblichen Übung und damit zu einem entlassungsunabhängigen Rechtsanspruch auf die (erst im Mai 2023 an andere Mitarbeiter ausgezahlte) Prämie (siehe RS0014154) ausreichend sind, ist eine Frage des Einzelfalls (RS0042828). Indem die Vorinstanzen auch die Prämie als erfolgsabhängig behandelten, überschritten sie den ihnen zukommenden Beurteilungsspielraum nicht.

[17] Die Revision ist daher mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

[18] Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Die Beklagte hat in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.

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