European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0080OB00001.24S.0425.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Den Rekursen wird nicht Folge gegeben.
Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Die Klägerin ist Betreiberin eines großen Unternehmens. Sie erwarb in den Jahren 2011 bis 2015 bei verschiedenen Händlern insgesamt 26 näher bezeichnete Fahrzeuge, die mit dem Dieselmotor Typ EA189 ausgestattet sind und von der Beklagten hergestellt wurden. Die Fahrzeuge wiesen ursprünglich eine Abschalteinrichtung des Abgasrückführungssystems (sog „Umschaltlogik“ mit Erkennung des Prüfstandbetriebs; dazu näher 10 Ob 2/23a vom 21. 2. 2023 [Rz 3]) auf. Das deutsche Kraftfahrt‑Bundesamt (KBA) trug der Beklagten den Rückruf solcher Fahrzeuge und die nachträgliche Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit auf. Nach Prüfung eines von der Beklagten daraufhin entwickelten Software‑Updates ergänzte es die von ihm erteilte EG‑Typengenehmigung. Auch nach Durchführung des Software‑Updates bei allen Fahrzeugen kommen Abschalteinrichtungen, sogenannte „Thermofenster“, zum Einsatz, bei denen die volle Abgasrückführung nur zwischen 15 Grad Celsius und 33 Grad Celsius erfolgt. Darunter und darüber wird die Abgasrückführung schrittweise zurückgenommen (sog „Ausrampen“).
[2] Die von der Klägerin für die Fahrzeuge bezahlten Preise entsprachen im Ankaufszeitpunkt der Marktlage und waren auch „aus technischer Sicht“ nicht überhöht. Ein Fahrzeug mit der vom KBA als unzulässig beurteilten Software hätte um 10 % billiger angeboten werden müssen als ein verordnungskonformes Vergleichsfahrzeug. Diese 10 % gelten allerdings nur für den Fall, dass dem potentiellen Käufer verbindlich mitgeteilt worden wäre, dass binnen zweier Jahre die unzulässige gegen eine verordnungskonforme Software ausgetauscht wird.
[3] Im Wissen um die in den Fahrzeugen eingebaute Umschaltlogik oder die gesetzwidrigen Abschalteinrichtungen wären die Fahrzeuge seitens der Klägerin nicht angekauft worden.
[4] Die Beklagte informierte die Klägerin mit Schreiben vom Herbst 2015 über Unregelmäßigkeiten bei der Bestimmung von Abgaswerten und die Betroffenheit der Fahrzeuge vom verpflichtenden Software‑Update. 25 der 26 Fahrzeuge hat die Klägerin mittlerweile weiterverkauft. Der „Abgasskandal“ hat sich auf den Gebrauchtwagenmarkt nicht ausgewirkt; ein Rückgang bei den Verkaufspreisen der vom Skandal betroffenen Fahrzeuge konnte nicht festgestellt werden. Ein Fahrzeug, ein VW Sharan Karat TDI SCR BMT DSG mit der Fahrgestellnummer * (kurz: VW Sharan), den die Klägerin um 32.012,12 EUR (netto) erworben hat, steht nach wie vor in ihrem Eigentum und weist einen Kilometerstand von 261.000 auf. Mit Blick auf die geringe bisherige Benützungsdauer des erst Ende März 2015 erworbenen Fahrzeugs ist „wohl auf eine Gesamtlaufleistung von 400.000 km und nicht 300.000 km ab[zu]stellen“.
[5] Im ersten Rechtsgang wies das Erstgericht die am 25. 10. 2018 erhobene, auf Ersatz eines Minderwerts von jeweils 20 % des (Netto‑)Kaufpreises der Fahrzeuge, hilfsweise auf Feststellung der Haftung für (künftige) Schäden gerichtete Klage wegen Verjährung ab. Das Berufungsgericht bestätigte mit Teilurteil die Klageabweisung in Ansehung eines Betrags von 4.102,22 EUR und hob das Ersturteil im Übrigen zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Es trat der Rechtsauffassung des Erstgerichts bei, wonach die geltend gemachten Ansprüche der dreijährigen Verjährung des § 1489 Satz 1 ABGB (und nicht dem in Satz 2 geregelten Ausnahmetatbestand) unterlägen. Die dreijährige Frist sei zwar bereits vor Klageerhebung verstrichen. Ein Privatbeteiligtenanschluss vor Fristablauf im Betrag von 5.500 EUR pro Fahrzeug habe jedoch insoweit zu einer Unterbrechung der Verjährung geführt. Damit seien die jeweils geltend gemachten Forderungen nur in Ansehung ihres 5.500 EUR übersteigenden Teils verjährt.
[6] Mit Beschluss vom 25. 1. 2022, 8 Ob 28/21g, hob der Oberste Gerichtshof das Teilurteil des Berufungsgerichts auf und verwies die Rechtssache an das Erstgericht zurück. Die abgewiesenen Ansprüche wären dann nicht verjährt, wenn der Klägerin der Nachweis gelingt, dass der vorgebrachte Schaden aus einer mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedrohten Handlung eines Organs der Beklagten entstanden ist. Der festgestellte Sachverhalt, aus dem sich nicht ergebe, für welche konkreten strafbaren Handlungen welcher Repräsentanten die Beklagte als Verband verantwortlich gemacht werden soll, reiche für diese Beurteilung nicht aus. Zur Beurteilung der Voraussetzungen des § 1489 Satz 2 ABGB sei somit eine Ergänzung des Verfahrens erforderlich.
[7] Im zweiten Rechtsgang ergänzte die Klägerin ihren Prozessvortrag durch konkretes Vorbringen dazu, welchen (namentlich genannten) Repräsentanten und Organen der Beklagten welches qualifiziert strafbare Verhalten vorzuwerfen sei, das letztlich zur behaupteten Schädigung der Klägerin geführt habe. Mit Schriftsatz vom 12. 12. 2022 und späterem Vortrag in der mündlichen Verhandlung dehnte sie ihre neben §§ 874, 1295 Abs 2 ABGB auch auf Schutzgesetzverletzung gestützte Klage in Ansehung ihrer 25 bereits weiterveräußerten Fahrzeuge auf einen Betrag von insgesamt 263.932,89 EUR aus. Die Wertminderung der Fahrzeuge im Ankaufszeitpunkt habe nämlich aufgrund der darin verbauten unzulässigen Abschalteinrichtungen nicht bloß 20 %, sondern tatsächlich 50 % des jeweiligen Nettokaufpreises betragen. In Ansehung des VW Sharan stellte sie ihr bisheriges, auf den Ersatz des Minderwerts des Fahrzeugs gerichtetes Begehren insoweit auf Naturalherstellung um, als sie die Rückzahlung der Hälfte des Nettokaufpreises von 14.469,70 EUR zuzüglich der Zahlung des Wiederbeschaffungswerts des Fahrzeugs im Zeitpunkt der Naturalrückstellung von 17.980 EUR Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs an die Beklagte begehrte. Hilfsweise stellte sie (nur) in Ansehung dieses Fahrzeugs Feststellungsbegehren. Im Rahmen der Naturalrestitution stehe ihr unter Bedachtnahme auf den vorzunehmenden Vorteilsausgleich der Wiederbeschaffungswert des rückzustellenden Fahrzeugs zu; anderenfalls wäre die Beklagte bereichert.
[8] Die Beklagte erhob auch hinsichtlich dieser erst im Wege der Klageänderung geltend gemachten Ansprüche die Einrede der Verjährung nach § 1489 Satz 1 ABGB; die 30‑jährige Frist des § 1489 Satz 2 ABGB gelange mangels qualifiziert strafbarer Vorsatztat eines ihrer Organe nicht zur Anwendung. Das Naturalherstellungsbegehren der Klägerin sei unschlüssig, sei dieses doch auf Rückzahlung des Kaufpreises (unter Abzug eines angemessenen Benützungsentgelts) Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs zu richten. Im Ergebnis fordere die Klägerin mehr als den ursprünglichen Kaufpreis zurück.
[9] Das Erstgericht gab dem Naturalherstellungsbegehren im Umfang von 11.124,22 EUR Zug um Zug gegen Rückstellung des VW Sharan statt. Das Mehrbegehren auf Zahlung weiterer 21.325,48 EUR wies es ebenso wie die hilfsweise gestellten Feststellungsbegehren sowie die in Ansehung der übrigen 25 Fahrzeuge erhobenen Begehren auf Ersatz des jeweiligen Minderwerts ab. Hinsichtlich dieser 25 weiterveräußerten Fahrzeuge habe sich kein Schaden eingestellt. Das „Wandlungsbegehren“ sei hingegen berechtigt; allerdings müsse sich die Klägerin – ausgehend von einer Restlaufleistung von 300.000 km – ein linear zu berechnendes Benützungsentgelt von 20.887,90 EUR anrechnen lassen.
[10] Das Berufungsgericht gab den Berufungen beider Parteien Folge und hob das Ersturteil zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Schon die durch die unzulässige Abschalteinrichtung bewirkte objektive Unsicherheit über die Fahrzeugnutzung und das nach dem Fahrzeugkauf nicht entsprechend den objektiv berechtigten Verkehrserwartungen oder dem Willen des Käufers zusammengesetzte Vermögen könne ein auszugleichender Schaden sein. Im Rahmen der Haftung wegen Schutzgesetzverletzung habe sich der Schädiger vom Verschulden frei zu beweisen. Zur Beurteilung der Frage, ob sich die Beklagte, wie von ihr vorgebracht, auf einen nicht vorwerfbaren Rechtsirrtum berufen könne, fehlten aber noch Feststellungen. Im Fall eines entschuldbaren Rechtsirrtums wären die Klagebegehren abzuweisen, anderenfalls wären sie dem Grunde nach berechtigt. Die Ansprüche seien nämlich nicht verjährt, weil es nicht auf die Kenntnis der Klägerin von der Umschaltlogik ankomme, sondern darauf, wann sie davon erfahren habe, dass auch nach dem erfolgten Software‑Update mit dem Thermofenster eine unzulässige Abschalteinrichtung in den Fahrzeugen verblieben sei. Dies sei aber überhaupt erst durch die Entscheidung des EuGH vom 14. 7. 2022, C‑145/20 , klargestellt worden. Auch die ausgedehnten, auf die Unzulässigkeit des Thermofensters gestützten Ansprüche seien daher innerhalb der kurzen Verjährungsfrist des § 1489 Satz 1 ABGB geltend gemacht worden.
[11] Den Rekurs ließ das Berufungsgericht zur Klarstellung jenes festzustellenden Tatsachenumfangs zu, dessen es zur Beurteilung des Vorliegens eines Verbotsirrtums bedürfe.
[12] Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts richten sich die Rekursebeider Parteien mit jeweils einem auf gänzliche Klagestattgebung bzw Klageabweisung gerichteten Abänderungsantrag. Die Klägerin beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, dem Rechtsmittel der Beklagten nicht Folge zu geben, die Beklagte in ihrer Rekursbeantwortung, das gegnerische Rechtsmittel zurückzuweisen, hilfsweise ihm den Erfolg zu versagen.
Rechtliche Beurteilung
[13] Beide Rekurse sind zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, aber nicht berechtigt.
[14] Vorauszuschicken ist, dass aus Anlass eines Rekurses gegen einen Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts der Oberste Gerichtshof nicht nur die aufgeworfene Rechtsfrage, sondern die rechtliche Beurteilung durch das Berufungsgericht in jeder Richtung zu überprüfen hat (RS0043903 [T1]) und die Rekurse zudem die selben Anspruchsgründe ansprechen, weshalb diese im Folgenden aus systematischen Gründen gemeinsam behandelt werden.
[15] 1. Zum Haftungsgrund der Schutzgesetzverletzung infolge unzulässiger Abschalteinrichtung:
[16] 1.1. Das Erstgericht ging auf Tatsachenebene davon aus, dass alle streitgegenständlichen Fahrzeuge von der Beklagten hergestellt wurden. Die Beklagte hat diese Sachverhaltsannahme in ihrer Berufung unbekämpft gelassen und zieht sie erst in ihrer nunmehrigen Rekursbeantwortung in Zweifel. Die unterbliebene Geltendmachung einer Beweisrüge oder einer Aktenwidrigkeit kann aber in dritter Instanz nicht mehr nachgeholt werden (s 8 Ob 30/16v ua; vgl weiters RS0042163). Die Beklagte muss sich daher als Herstellerin im Sinn des hier noch anwendbaren (Art 88 VO 2008/858/EU ) Art 3 Z 27 RL 2007/46/EG und Adressatin der Pflicht zur Ausstellung der Übereinstimmungsbescheinigung (Art 18 Abs 1 RL 2007/46/EG ) behandeln lassen.
[17] 1.2. Die Beklagte wendet sich in ihrem Rekurs nicht gegen die den Entscheidungen der Vorinstanzen zugrunde liegende Rechtsansicht, dass die in den Fahrzeugen der Klägerin jeweils vorhandene Prüfstandserkennungssoftware („Umschaltlogik“) ebenso wie das nach dem Software‑Update in den Fahrzeugen verbliebene Thermofenster im Sinn der Entscheidungen 10 Ob 2/23a vom 21. 2. 2023 und vom 25. 4. 2023 als unzulässige Abschalteinrichtungen zu qualifizieren sind.
[18] 1.3. Bei schuldhaftem Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung liegt nach der Rechtsprechung des EuGH eine Schutzgesetzverletzung vor, für die der Fahrzeughersteller, der Inhaber der EG‑Typengenehmigung ist und die Übereinstimmungsbescheinigung ausgestellt hat, haftet (ausführlich dazu ua 3 Ob 40/23p [ErwGr 5.2.]; 6 Ob 161/22b [ErwGr 3.]).
[19] 1.4. Die Behauptungs‑ und Beweislast, dass das Schutzgesetz von ihr unverschuldet übertreten wurde, trifft die Beklagte als Fahrzeugherstellerin (10 Ob 2/23a vom 25. 4. 2023 [Rz 31]; 10 Ob 27/23b [Rz 32]; 6 Ob 197/23y [Rz 22]).
[20] Die Beweisführung dafür, dass dies bei der sogenannten Umschaltlogik der Fall gewesen wäre, ist die Beklagte gar nicht angetreten. Sie argumentiert lediglich, im Zuge des vom KBA als Typengenehmigungsbehörde freigegebenen Software‑Updates sei diesem die Funktionsweise des eingesetzten Thermofensters offengelegt worden und habe dieses die branchenübliche temperaturabhängige Regelung des AGR‑Systems akzeptiert. Es liege daher ein entschuldbarer Rechtsirrtum der Beklagten vor, der von der Klägerin nie substantiiert bestritten worden sei und deshalb schon vom Berufungsgericht hätte bejaht werden müssen.
[21] In der nach dem Kauf erfolgten Aufspielung des Software‑Updates kann aber nur mehr der gescheiterte Versuch einer Schadensbehebung liegen. Irrelevant ist damit, ob der Beklagten ein Verschulden vorzuwerfen wäre. Ob der Versuch, die unzulässigen Abschalteinrichtungen durch das Software‑Update zu beseitigen, verschuldet oder unverschuldet fehlschlägt, ist ohne Auswirkungen. Es hat dann bei der Haftung zu bleiben (6 Ob 84/23f [Rz 32 f]; 8 Ob 118/23w [Rz 17]; 8 Ob 76/23v [Rz 31]).
2. Zum Schaden und zur Höhe des Ersatzes:
[22] 2.1. Die einschlägigen unionsrechtlichen Rechtsgrundlagen (Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG sowie Art 18, 26 und 46 RL 2007/46/EG ) schützen auch die Einzelinteressen des Käufers eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs (EuGH C‑100/21 , QB gegen Mercedes‑Benz Group AG [Rn 85]).
[23] Unionsrechtlich ist vorgegeben, dass der Schaden im Fall einer vom Hersteller im Fahrzeug verbauten unzulässigen Abschalteinrichtung bereits in der Unsicherheit hinsichtlich der Möglichkeit liegen kann, das Fahrzeug anzumelden, zu verkaufen oder in Betrieb zu nehmen (EuGH C‑100/21 , QB gegen Mercedes‑Benz Group AG [Rn 84]). Dieser Schaden tritt bereits durch den Kaufvertrag ein (10 Ob 2/23a vom 25. 4. 2023 [Rz 22]; 10 Ob 27/23b [Rz 25]), es sei denn, es wäre im konkreten Fall ein Schadenseintritt deshalb zu verneinen, weil das objektiven Verkehrserwartungen nicht genügende Fahrzeug dennoch konkret dem Willen des Klägers entsprochen hätte (vgl 10 Ob 27/23b [Rz 26]; 8 Ob 10/24i [Rz 3] mwN).
[24] Davon ist hier jedoch nicht auszugehen, steht doch fest, dass die Fahrzeuge in Kenntnis der darin eingebauten Umschaltlogik nicht angekauft worden wären. Der Eintritt des Schadens durch den Kauf der streitgegenständlichen Fahrzeuge ist damit erwiesen.
[25] 2.2. Für die Höhe des Ersatzes sind primär die unionsrechtlichen Anforderungen an die Ersatzleistung zu beachten: Aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben, wonach die Sanktion für Verstöße gegen die Vorschriften der VO 715/2007/EG wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen und nationale Vorschriften dem Erwerber die Erlangung eines angemessenen Schadenersatzes nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (EuGH C‑100/21 , QB gegen Mercedes‑Benz Group AG [Rn 90, 93]), ist jedenfalls ein angemessener Ersatzbetrag zu gewähren. Wie bereits vom Obersten Gerichtshof wiederholt entschieden, kann der zu ersetzende Betrag in Übereinstimmung mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgebot im Sinn des § 273 Abs 1 ZPO vom Gericht nach freier Überzeugung – selbst mit Übergehung eines von der Partei angebotenen (etwa: Sachverständigen‑)Beweises – innerhalb einer Bandbreite von 5 % und 15 % des vom Kläger gezahlten und dem Wert des Fahrzeugs angemessenen Kaufpreises festgesetzt werden (10 Ob 27/23b [Rz 39 f]; 8 Ob 88/22g [Rz 25] ua; RS0134498). Dies schließt allerdings nicht aus, dass die Wertminderung exakt festgestellt wird und der Käufer Ersatz derselben verlangt (8 Ob 70/23m [Rz 26]; 8 Ob 109/23x [Rz 22]; RS0134498 [T6]).
[26] 2.3. Hier hat die Klägerin in Ansehung der 25 von ihr erworbenen und bereits weiterverkauften Fahrzeuge einen durch die unzulässigen Abschalteinrichtungen bewirkten Minderwert von 50 % des Nettokaufpreises im Ankaufszeitpunkt behauptet.
[27] Das Erstgericht hat zu dieser Frage zwar Feststellungen getroffen. Diese sind jedoch nicht eindeutig: Einmal geht es davon aus, dass der für die Fahrzeuge bezahlte Kaufpreis der Marktlage entsprach und „auch aus technischer Sicht nicht überhöht“ war, womit offenbar zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass trotz der in den Fahrzeugen jeweils installierten unzulässigen Motorsteuerungssoftware eine Wertminderung dieser Fahrzeuge nicht eintrat. Einmal stellte es – in offenem Widerspruch zu dieser Annahme – fest, dass ein Fahrzeug mit der tatsächlich verbauten, nach Meinung des KBA unzulässigen Software um 10 % billiger angeboten hätte werden müssen (wohl gemeint: damit es gleich gerne und gleich wahrscheinlich gekauft worden wäre; vgl 8 Ob 70/23m [Rz 3]), wobei dies nach den Feststellungen allerdings nur für den Fall gelten sollte, dass dem potentiellen Käufer verbindlich mitgeteilt wird, dass binnen einer Frist von zwei Jahren eine verordnungskonforme Software aufgespielt wird.
[28] Schon diese widersprüchlichen Feststellungen und der dadurch bewirkte rechtliche Feststellungsmangel (vgl RS0042744) stehen der von der Klägerin angestrebten Stattgebung ihrer Ansprüche auf Ersatz der Wertminderung entgegen. Die Sache ist insoweit noch nicht entscheidungsreif.
[29] 2.4. Dies gilt im Ergebnis auch für das Ersatzbegehren der Klägerin betreffend das von ihr noch nicht weiterveräußerte Fahrzeug:
[30] Mit Blick auf den erhobenen Unschlüssigkeitseinwand der Beklagten ist zunächst klarzustellen, dass es für die Schlüssigkeit einer Klage genügt, wenn das Sachbegehren des Klägers materiell-rechtlich aus den zu seiner Begründung vorgetragenen Tatsachenbehauptungen abgeleitet werden kann (RS0037516). Es müssen also die Behauptungen aufgestellt werden, die es zulassen, dass der vom Kläger begehrte Ausspruch als sich daraus herleitende Rechtsfolge gegebenenfalls auch im Wege eines Versäumungsurteils ergehen könnte (RS0001252 [insb T4]).
[31] Aus dem gesamten Prozessvortrag der Klägerin ergibt sich eindeutig, dass ihr infolge Klageänderung umgestelltes Rechtsschutzziel hinsichtlich des nach wie vor in ihrem Eigentum stehenden Fahrzeugs – wie von den Vorinstanzen zutreffend erkannt – auf Rückabwicklung der ungewünschten Vermögensdisposition im Sinn einer vollständigen Naturalherstellung gerichtet ist, auch wenn die Klägerin ihre Ersatzforderung von gesamt 32.449,70 EUR unter nicht nachvollziehbaren rechtlichen Erwägungen zur Vorteilsanrechnung in zwei Teile, nämlich die Rückerstattung der Hälfte des Nettokaufpreises und den Ersatz des Wiederbeschaffungswerts des Fahrzeugs (im Zeitpunkt der Zug-um-Zug-Rückstellung), aufgliedert. Da der unter dem Titel der Naturalrestitution geltend gemachte Schadenersatzbetrag den nach den eigenen Tatsachenbehauptungen der Klägerin bezahlten Kaufpreis (28.939,39 EUR zuzüglich USt) nicht übersteigt, ist eine Unschlüssigkeit der Klage in diesem Punkt nicht gegeben.
[32] Allerdings lässt sich die Höhe des zu bemessenden Schadens auch in Ansehung dieses Fahrzeugs mangels hinreichender Urteilsfeststellungen zu dieser Frage nicht abschließend beurteilen: Die Beklagte hat substantiiert vorgebracht, dass sich die Klägerin auf einen allfälligen Schadenersatzanspruch ein dem Gebrauch des Fahrzeugs angemessenes Benützungsentgelt anrechnen lassen müsse. Ein solcher Anspruch vermindert im Rahmen des Vorteilsausgleichs die Ersatzpflicht des Schädigers unmittelbar. Die Anrechnung hat – anders als bei der Wandlung – durch unmittelbaren Abzug von der Klageforderung und nicht aufrechnungsweise in Form einer Gegenforderung zu erfolgen (10 Ob 2/23a vom 25. 4. 2023 [Rz 38 f]; 9 Ob 55/23p [Rz 46]; 8 Ob 76/23v [Rz 33 f]).
[33] DerGebrauchsnutzenist nach der mittlerweile ständigen Rechtsprechung grundsätzlich in Abhängigkeit von den gefahrenen Kilometern linear zu berechnen. Er ist ausgehend vom Kaufpreis anhand eines Vergleichs zwischen tatsächlichem Gebrauch (gefahrene Kilometer) und voraussichtlicher Gesamtnutzungsdauer (erwartete Gesamtlaufleistung bei Neufahrzeugen und erwartete Restlaufleistung bei Gebrauchtwagen) zu bestimmen (RS0134263).
[34] Nach dem vom Obersten Gerichtshof unter Beachtung der Vorgaben des EuGH zur Festlegung eines „effektiven“ Schadenersatzanspruchs als sachgerecht erachteten, auch vom Bundesgerichtshof praktizierten Ermittlungsansatz (10 Ob 2/23a vom 21. 2. 2023 [Rz 114] mwN) kommt es auf die unter gewöhnlichen Umständen zu erzielende durchschnittliche Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs und nicht darauf an, welche Gesamtlaufleistung das Fahrzeug unter günstigen Bedingungen erreichen kann oder in bestimmten Einzelfällen erreicht hat. Der gezogene Gebrauchsvorteil pro gefahrenem Kilometer wird unabhängig davon bemessen, ob der konkrete Nutzer eine schonende oder beanspruchende Fahrweise an den Tag gelegt hat (2 Ob 82/23g [Rz 10]; 2 Ob 108/23f [Rz 11]; 8 Ob 76/23v [Rz 36]).
[35] Ausgehend von diesen Rechtsprechungsgrundsätzen ist zunächst festzuhalten, dass es für die Berechnung des anzurechnenden Gebrauchsnutzens auf die im Urteilssachverhalt ins Treffen geführte Gesamtlaufleistung des konkreten Fahrzeugs von „wohl“ 400.000 km nicht ankommen kann.
[36] Zudem ist mit Blick auf das Prozessvorbringen der Klägerin im zweiten Rechtsgang zur Höhe des Wiederbeschaffungswerts des Fahrzeugs von 17.980 EUR darauf hinzuweisen, dass im Einzelfall zur Bemessung des angemessenen Benützungsentgelts auch § 273 ZPO herangezogen werden kann (RS0018534 [T5]), was im vorliegenden Zusammenhang insbesondere dann von Bedeutung sein kann, wenn der Fahrzeugkäufer nach der linearen Berechnungsmethode nur einen Betrag erhielte, der deutlich unter dem aktuellen Zeitwert liegt (3 Ob 121/23z [Rz 29 f]; 4 Ob 171/23k [Rz 48]). Ob im vorliegenden Fall eine solche Angemessenheitskorrektur womöglich mit Blick auf den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz geboten ist, lässt sich derzeit aber schon deshalb nicht abschließend beurteilen, weil Urteilsfeststellungen zum aktuellen Zeitwert des Fahrzeugs fehlen.
3. Zur Verjährung:
[37] Unter Bedachtnahme auf die von der Beklagten bis zuletzt aufrecht erhaltene Einrede der Verjährung nach § 1489 Satz 1 ABGB ist die Rechtssache aber auch zum Grund der geltend gemachten Ansprüche noch nicht spruchreif.
[38] 3.1. Die Beklagte greift in ihrem Rekurs im Ausgangspunkt zutreffend auf, dass der Senat bereits im ersten Rechtsgang in seinem Aufhebungsbeschluss (8 Ob 28/21g) in Ansehung der ursprünglich geltend gemachten Ansprüche der Klägerin auf Ersatz von jeweils 20 % des Nettokaufpreises der 26 Fahrzeuge zur dreijährigen Verjährungsfrist nach § 1489 Satz 1 ABGB Stellung genommen hat und vom Ablauf der kurzen Verjährungsfrist vor Einbringung der Klage ausgegangen ist, soweit die Klägerin nicht durch die mit pauschalen Schadenersatzbeträgen von jeweils 5.500 EUR pro Fahrzeug erklärten Privatbeteiligtenanschlüsse im Strafverfahren eine Unterbrechung der Verjährung im Sinn des § 1497 ABGB herbeigeführt hat. Ausgehend von dieser rechtlichen Beurteilung gelangte der Senat zum Ergebnis, dass eine Ergänzung des Verfahrens zur Klärung der verbleibenden Frage geboten sei, ob im Sinne der Prozessbehauptungen der Klägerin der Anwendungsbereich der langen Verjährung nach § 1489 Satz 2 ABGB eröffnet ist.
[39] 3.2. Die Beantwortung von Fragen, die vom Rechtsmittelgericht, das die Aufhebung verfügt hat, auf der Grundlage des gegebenen Sachverhalts bereits abschließend entschieden wurden, kann (auch) aufgrund neuer Tatsachen nicht mehr in Zweifel gezogen werden; abschließend erledigte Streitpunkte können im fortgesetzten Verfahren somit nicht mehr aufgerollt werden (RS0042031; vgl zur dreijährigen Verjährungsfrist nach § 1489 Satz 1 ABGB 6 Ob 118/22d). Das Verfahren im zweiten Rechtsgang ist stets auf den von der Aufhebung ausdrücklich betroffenen Teil zu beschränken (RS0042031 [T4]). Dies gilt auch bei Aufhebungsbeschlüssen wegen des Vorliegens von Feststellungsmängeln; die Verfahrensergänzung ist auf den durch die Aufhebung betroffenen Teil einzugrenzen (RS0042031 [T18]).
[40] Soweit das Berufungsgericht im nunmehr bekämpften Aufhebungsbeschluss – auch in Ansehung der erstmals durch Klageausdehnung im Dezember 2022 geltend gemachten Ersatzansprüche (zur zeitlichen Unterbrechungswirkung bei Geltendmachung von Ansprüchen im Wege der Klageänderung oder ‑ausdehnung (vgl nur RS0034556 [T4]; RS0034740 [T3, T4, T6]) – hinsichtlich des Eintritts der kurzen Verjährung nach § 1489 Satz 1 ABGB zu einer gegenteiligen Auffassung gelangt, setzt es sich über die nicht nur die Vorinstanzen (§ 511 Abs 1 ZPO), sondern auch den Obersten Gerichtshof selbst bindende (RS0007010; RS0043752 [T1]) Rechtsansicht zum Ablauf der dreijährigen Verjährung des § 1489 Satz 1 ABGB hinweg.
[41] 3.3. Wenn die Klägerin schließlich in ihrer Rekursbeantwortung erstmals sinngemäß behauptet, durch die Geltendmachung eines auf Naturalrestitution gerichteten Anspruchs betreffend den nach wie vor in ihrem Eigentum stehenden VW Sharan bereits im Privatbeteiligtenanschluss sei die kurze Verjährung dieses nunmehr auch im Zivilverfahren erhobenen Naturalherstellungsanspruchs rechtzeitig unterbrochen worden, so verstößt sie mit diesem Vorbringen gegen das im Rechtsmittelverfahren zu beachtende Neuerungsverbot.
[42] 3.4. Ausgehend davon bleibt zu klären, ob der Klägerin der Nachweis der – in Erwiderung auf den Verjährungseinwand der Beklagten behaupteten – Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der langen Frist des § 1489 Satz 2 ABGB gelingt (zur Behauptungs‑ und Beweislast des Geschädigten vgl RS0034398 [T3]). Auch zu diesem Punkt wird der bisherige Urteilssachverhalt somit zu verbreitern sein.
[43] 4. Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass im fortgesetzten Verfahren zunächsthinsichtlich der auf Ersatz des Minderwerts der 25 bereits weiterveräußerten Fahrzeuge gerichteten Begehren, soweit diese den Betrag von 5.500 EUR übersteigen, sowie in Ansehung des Naturalherstellungsbegehrens betreffend den VW Sharan die Einrede der Verjährung (im soeben näher dargelegten Sinn) zu prüfen sein wird. In Ansehung der 5.500 EUR nicht übersteigenden Teilbegehren und soweit eine Verjährung der darüber hinaus geltend gemachten Ersatzansprüche aufgrund der Anwendbarkeit der langen Frist des § 1489 Satz 2 ABGB zu verneinen sein sollte, sind weiters konsistente Feststellungen, namentlich zum (allfälligen) Minderwert der 25 Fahrzeuge im Kaufzeitpunkt sowie zum aktuellen Wert des VW Sharan, zu treffen, auf deren Grundlage sich der Umfang der Ersatzpflicht der Beklagten abschließend beurteilen lässt.
[44] 5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO. Die Rechtsmittel haben zur Klarstellung der Rechtslage beigetragen (vgl RS0036035).
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