OGH 4Ob19/24h

OGH4Ob19/24h22.10.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Schwarzenbacher als Vorsitzenden sowie den Vizepräsidenten Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Waldstätten und den Hofrat Dr. Stiefsohn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. *, 2. *, 3. *, und 4. *, alle *, vertreten durch Dr. Franz Kienesberger, Rechtsanwalt in Wien, sowie deren Nebenintervenientin *, vertreten durch die Urbanek Lind Schmied Reisch Rechtsanwälte OG in St. Pölten, gegen die beklagten Parteien 1. * Ges.m.b.H., *, vertreten durch die Ruggenthaler, Rest & Borsky Rechtsanwälte OG in Wien, und 2. * GmbH, *, Deutschland, vertreten durch die DORDA Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen gesamt 81.255,91 EUR sA, infolge Revisionen der beklagten Parteien (Revisionsinteresse je 69.670,60 EUR sA) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgerichtvom 24. Oktober 2023, GZ 2 R 123/23g-158, mit dem das Urteil des Handelsgerichts Wienvom 11. Mai 2023, GZ 11 Cg 13/17z-148, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0040OB00019.24H.1022.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Konsumentenschutz und Produkthaftung

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Den Revisionen wird nicht Folge gegeben.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, den klagenden Parteien die mit 3.407,86 EUR (darin 567,98 EUR an USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] In der Nacht vom 21. auf den 22. 1. 2015 verstarb die damals vierjährige *, die Tochter der Erstklägerin und Zwillingsschwester der Zweitklägerin. Der Drittkläger und die Viertklägerin sind Kinder der Erstklägerin aus einer früheren Beziehung und damit Halbgeschwister; sie alle lebten in einem gemeinsamen Haushalt.

[2] Todesursache war eine überdosierte Gabe von *, einem codeinhaltigen Hustensaft, im Zusammenwirken mit einer Lungenentzündung und der zusätzlichen Gabe von Dihydrocodein. Sowohl Codein als auch Dihydrocodein werden vom Körper zu Morphin metabolisiert und können in zu hoher Konzentration zum Tod führen. Die zusätzliche Gabe von Dihydrocodein, das beispielsweise in dem Hustenmedikament Paracodin enthalten ist, spielte hier aber eine untergeordnete Rolle. Wer zusätzlich zur verordneten Dosierung * und [etwa] Paracodin verabreicht hat, sowie wann und unter welchen Umständen dies geschehen ist, konnte nicht festgestellt werden.

[3] Seit vielen Jahrzehnten weiß man, dass die gleichzeitige Verabreichung von codein- und dihydrocodeinhaltigen Medikamenten selbst in der jeweils vorgeschriebenen Dosis toxisch und möglicherweise sogar letal ist. Jedenfalls seit dem Jahr 2010 ist einschlägig tätigen Pharmaunternehmen zudem bekannt, dass in Mitteleuropa 1 – 2 % der Bevölkerung sogenannte „ultrarapid Metabolizer“ sind. Bei diesen Personen tritt auch bei üblicher und gebrauchsinformationskonformer Gabe eines codeinhaltigen Medikaments eine toxische Wirkung durch eine erhöhte Morphinkonzentration ein, die bis zum Tod führen kann. [Anm: Wobei das Mädchen nach den dislozierten Feststellungen des Erstgerichts nicht zu dieser Gruppe gehörte.] Seit Beginn der 2000er-Jahre hat man erkannt, dass Todesfälle und die Gabe von Codein im Zusammenhang stehen. Im Fall der Codein-Anwendung bei Kindern ist bereits im Jahr 2013 das Risiko von Atemdepression bekannt gewesen.

[4] * war ein rezept- und apothekenpflichtiges Medikament, im Jänner 2015 aber auch für Kinder ab drei Jahren zugelassen. Zulassungsinhaber für Österreich war die Erstbeklagte, die sowohl auf der Verpackung als auch in der Gebrauchsinformation („Beipackzettel“) als „pharmazeutischer Unternehmer“ angeführt war. In der Gebrauchsinformation war zudem die Zweitbeklagte als „Hersteller“ genannt.

(Der Inhalt der dem konkret verabreichten Hustensaft beiliegenden Gebrauchsinformation [Augenscheinsgegenstand iVm Beilage ./C] ist unstrittig und wird daher dem Revisionsverfahren ungeachtet der bloß auszugsweisen Feststellungen zur Gänze zugrunde gelegt, vgl RS0121557, RS0040083 [T1].)

[5] Die erstklagende Mutter las die Gebrauchsinformation vor Verabreichung von * nicht. Sie erkundigte sich aber in Internetforen und bei der Nebenintervenientin (einer Vertretungsärztin des Hausarztes, die das Mädchen am 19. 1. 2015 wegen des Hustens untersuchte und * verschrieb) ausdrücklich nach einer potentiellen Gefährlichkeit von *. Eine potentiell tödliche Wirkung bei Überdosierung, bei „ultrarapid Metabolizern“ oder bei gleichzeitiger Einnahme von dihydrocodeinhaltigen Medikamenten wurde ihr nicht berichtet, ebenso wenig eine besondere Gefährlichkeit bei Überdosierung. Wäre auf eine derartige Wirkung in der Gebrauchsinformation hingewiesen worden oder hätte sie entsprechende Berichte erhalten, dann hätte sie * nicht an ihre Tochter verabreicht.

[6] Die viertklagende 20‑jährige Halbschwester las die Gebrauchsinformation vor der Verabreichung. Wäre in der Gebrauchsinformation ein Hinweis enthalten gewesen, dass es zu einer tödlichen Wirkung bei Überdosierung von * kommen kann, oder dass es zu einer tödlichen Wirkung bei zusätzlicher Einnahme von dihydrocodeinhaltigen Medikamenten (zB Paracodin) kommen kann, oder dass die Einnahme bei „ultrarapid Metabolizern“ tödlich wirken kann, oder dass die Verabreichung bei gleichzeitiger Lungenentzündung zum Tod führen kann, oder dass die Gefahrenlage für Kinder ungeklärt ist, hätte die Viertklägerin der Erstklägerin davon Mitteilung gemacht. Auch in diesem Fall hätte die Erstklägerin * nicht an ihre Tochter verabreicht.

[7] Alle vier Kläger begehrten von beiden Beklagten zur ungeteilten Hand Schmerzengeld und Therapiekosten, die erstklagende Mutter zusätzlich Verdienstentgang, Begräbniskosten und Spesenersatz; zudem erhoben sie ein Feststellungsbegehren. Sie stützten sich auf eine solidarische Haftung der Beklagten als (Anscheins-)Herstellerinnen wegen einer schuldhaften Verletzung der Produktbeobachtungspflicht sowie nach PHG. Obwohl diesen seit dem Jahr 2013 bekannt gewesen sei, dass die Verabreichung von * an Kinder unter zwölf Jahren tödlich wirken könne, hätten sie es unterlassen, in der Gebrauchsinformation entsprechend darauf hinzuweisen. Darin liege ein Instruktionsfehler im Sinn des PHG, der auch kausal gewesen sei.

[8] Die Beklagten bestritten – soweit für das Revisionsverfahren noch relevant – einen Produktions- und Instruktionsfehler sowie die behauptete Kausalität und ihr Verschulden und wandten ein Mitverschulden ein. Die Gebrauchsinformation habe dem damaligen Stand der Wissenschaft entsprochen. Ursächlich für den Tod sei eine nicht vorhersehbare Überdosierung trotz einer Lungenentzündung gewesen, die eine ausdrückliche Kontraindikation für die Gabe von * gewesen sei. Die Erstklägerin sei zudem nur Zulassungsinhaberin gewesen und die Zweitbeklagte lediglich Lohnherstellerin, sodass beide nicht nach dem PHG haften würden.

[9] Das Erstgericht sprach im zweiten Rechtsgang allen vier Klägern Schmerzengeld aufgrund jeweils eines „Schockschadens“ mit Krankheitswert zu, der Erstklägerin überdies Verdienstentgang, Begräbniskosten und Generalunkosten sowie dem Drittkläger Therapiekosten. Den Anspruch der Erstklägerin kürzte es wegen eines Mitverschuldens um ein Drittel, weil sie es als allein obsorgeberechtigte Person unterlassen habe, eine Verabreichung von Medikamenten an ihre erst vierjährige Tochter entsprechend den ärztlichen Vorgaben sicherzustellen.

[10] Die solidarische Haftung der Erstbeklagten als Vertreiberin und der Zweitbeklagten als Herstellerin ergebe sich aus einem kausalen Instruktionsfehler im Sinn des PHG. Die Gebrauchsinformation habe einen völlig unrichtigen Eindruck über die bereits bekannte Gefährlichkeit des Hustensaftes vermittelt und gerade nicht auf eine mögliche letale Wirkung hingewiesen, sondern die Nebenwirkungen sogar verharmlost. Die behördliche Zulassung des Medikaments und der Gebrauchsinformation habe die Beklagten nicht von ihrer Verantwortung und ihren Rückrufpflichten entbunden.

[11] Das Berufungsgericht gab den Berufungen beider Beklagten nicht Folge.

[12] Könne die Verwendung eines Produkts mit erheblichen Gefahren für die Gesundheit verbunden sein, so müssten nach der Rechtsprechung die Warnhinweise die Art der drohenden Gefahr deutlich herausstellen und Funktionszusammenhänge klar machen, sodass erkennbar werde, warum das Produkt gefährlich sein könne. Für unvorhersehbare oder geradezu absurde Gebrauchsarten habe der Hersteller zwar nicht einzustehen. Auch unterhalb der Schwelle der Sozialüblichkeit müsse er aber mit bestimmten Verbrauchergewohnheiten rechnen, solange es sich nicht bloß um einen theoretisch denkbaren, sondern um einen naheliegenden Abusus handle.

[13] Da es sich nach der Gebrauchsinformation um ein Medikament gegen Reizhusten für Kinder ab drei Jahren gehandelt habe, mit einer „üblichen Dosis“ von zwei Mal täglich einem Dosierlöffel, sei ein gewisses Überschreiten, etwa durch Gabe von drei Löffeln im Tagesverlauf, keineswegs unvorhersehbar. Dass eine Überdosierung potentiell tödlich sein könne, ergebe sich gerade nicht aus der Gebrauchsinformation. Ebenso wenig fänden sich darin klare Hinweise, dass die toxische Wirkung durch die Kombination mit anderen Medikamenten verstärkt werden könne, oder dass der Hustensaft nicht bei einer Lungenentzündung verabreicht werden dürfe.

[14] Die Zweitbeklagte hafte, auch wenn sie bloße Lohnherstellerin gewesen sei, als Anscheinsherstellerin nach § 3 PHG, weil ihre Nennung in der Gebrauchsinformation eine Verantwortlichkeit für das gesamte Produkt suggeriere.

[15] Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur über den Einzelfall hinaus bedeutsamen Frage der Instruktionsanforderungen an Medikamentenhersteller im Zusammenhang mit Überdosierungen fehle.

[16] Gegen diese Entscheidung richten sich die Revisionen beider Beklagten mit den Anträgen, das Urteil in eine Klagsabweisung abzuändern, hilfsweise aufzuheben und zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung in die erste Instanz zurückzuverweisen. Weiteres regen sie die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens an.

[17] Die Kläger beantragen in ihren Revisionsbeantwortungen, die Revisionen der Beklagten zurück-, in eventu abzuweisen.

[18] Die Revisionen sind aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie sind jedoch nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

I. Zur Revision der Erstbeklagten:

[19] I.1 In dritter Instanz ist nicht mehr strittig, dass den Klägern als Hinterbliebenen Ansprüche nach dem PHG zustehen können, sowie deren konkrete Art und Höhe (s dazu etwa Rabl, PHG § 1 Rz 149; Posch/Terlitza in Schwimann/Kodek, ABGB5 § 1 PHG Rz 4, 34).

[20] Weiters wendet sich die Erstbeklagte nicht gegen die Rechtsauffassung der Vorinstanzen, dass sie als Zulassungsinhaberin und pharmazeutische Unternehmerin für das von ihr in Österreich vertriebene Produkt nach §§ 1, 3 PHG hafte, sodass auch darauf nicht weiter einzugehen ist (vgl RS0043338).

[21] I.2 Die Erstbeklagte argumentiert vielmehr vorrangig damit, dass * als Arzneimittel zugelassen worden sei und sich die arzneimittelrechtliche Zulassung auch auf den Inhalt der Gebrauchsinformation beziehe. Dieser werde – abschließend – in § 16 AMG geregelt, der Art 59 der Richtlinie 2001/83/EG umsetze (Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel).

[22] Bei der zentralen Zulassung handle es sich um einen Beschluss der Europäischen Kommission gemäß Art 288 AEUV bzw eine verwaltungsbehördliche Entscheidung der europäischen Arzneimittelbehörde EMA. Die nationale Zulassung erfolge nach den §§ 7 ff AMG durch Bescheid des Bundesamtes für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG). All diesen Entscheidungen komme eine bindende Wirkung zu. Eine genehmigte und den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Gebrauchsinformation könne daher nie rechtswidrig sein und keine Haftung nach dem PHG für Instruktionsfehler begründen. Zumindest indiziere die Einhaltung der technischen Standards die Fehlerfreiheit. Nach § 16 Abs 2 Z 8 und 9 AMG seien auch nur die für eine „ordnungsgemäße Verwendung erforderlichen“ üblichen Anweisungen zu erteilen und jene Nebenwirkungen zu beschreiben, die bei „bestimmungsgemäßem Gebrauch“ auftreten würden.

[23] I.3.1 Ein Produkt im Sinn des PHG ist gemäß § 4 PHG „jede bewegliche körperliche Sache“, sohin auch ein Arzneimittel oder Medizinprodukt, sodass dessen „Fehlerhaftigkeit“ iSd § 5 PHG (vorbehaltlich allfälliger Sonderbestimmungen wie etwa im Gentechnikgesetz) eine Produkthaftung begründen kann (s etwa 2 Ob 197/97b [Tuberkulose-Impfstoff]; 10 Ob 8/18a [„Anti-Baby-Pille“]; 9 Ob 54/23s [Hüftprothese]).

[24] I.3.2 Gemäß § 5 Abs 1 PHG ist ein Produkt fehlerhaft, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die man unter Berücksichtigung aller Umstände zu erwarten berechtigt ist, besonders angesichts 1. der Darbietung eines Produkts, 2. des Gebrauchs des Produkts, mit dem billigerweise gerechnet werden kann, 3. des Zeitpunkts, zu dem das Produkt in den Verkehr gebracht worden ist.

[25] Dabei wird in ständiger Rechtsprechung zwischen Konstruktions-, Produktions- und Instruktionsfehlern unterschieden; beim Instruktionsfehler macht die unzureichende Darbietung das Produkt fehlerhaft (vgl RS0107606).

[26] I.3.3.1 Der Stand der Wissenschaft und Technik ist einerseits für die Beurteilung relevant, ob überhaupt ein Produktfehler iSd § 5 PHG vorliegt, und andererseits für den Haftungsausschluss nach § 8 Z 2 PHG (s jüngst 9 Ob 54/23s [Hüftprothese]).

[27] Während für den Produktfehler und den Kausalzusammenhang mit dem geltend gemachten Schaden der Kläger beweispflichtig ist (vgl RS0117103), müssen die Voraussetzungen des Haftungsausschlusses vom Beklagten nachgewiesen werden (vgl § 8 PHG; 9 Ob 60/09b).

[28] I.3.3.2 Ausschlaggebend für das Vorliegen eines Produktfehlers nach § 5 PHG sind die berechtigten Sicherheitserwartungen, ein objektiver Maßstab, dessen Konkretisierung im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände vorzunehmen ist; was im Einzelfall an Produktsicherheit erwartet werden darf, ist eine revisible Rechtsfrage (vgl RS0107605). Der Standard von Wissenschaft und Technik konkretisiert diese berechtigten Sicherheitserwartungen des durchschnittlichen Produktbenützers (vgl RS0071536). Werden gesetzliche Vorschriften, die der Produktsicherheit dienen, nicht eingehalten, liegt ein Produktfehler vor (RS0107606 [T15]). Umgekehrt indiziert die normgerechte oder anderen technischen Standards entsprechende übliche Herstellungsart die Fehlerfreiheit des Produkts (vgl RS0110464).

[29] I.3.3.3 Gemäß § 8 Z 2 PHG kann die Haftung zwar nicht durch den Mangel eines Verschuldens ausgeschlossen werden, allerdings ua durch den Nachweis, dass die Eigenschaften des Produkts nach dem Stand der Wissenschaft und Technik zu dem Zeitpunkt, zu dem es der in Anspruch Genommene in den Verkehr gebracht hat, nicht als Fehler erkannt werden konnten. Damit wird die Haftung für typische Entwicklungsrisiken ausgeschlossen (RS0071562), deren Kernelement darin liegt, dass die Gefährlichkeit einer bestimmten Produkteigenschaft beim Inverkehrbringen nicht erkennbar war (RS0107611).

[30] Für den Haftungsausschluss des § 8 Z 2 PHG ist auf den höchsten Stand der Wissenschaft und Technik abzustellen, wie er im Zeitpunkt des Inverkehrbringens des betreffenden Produkts existierte, solange die relevanten wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse zugänglich waren. Dabei gilt ein strenger Maßstab; nur die Unmöglichkeit, eine bekannte Eigenschaft der Sache als Fehler zu beurteilen, soll die Haftung beseitigen (vgl 9 Ob 60/09b; RS0126150).

[31] I.3.4 Schließlich normiert auch § 8 Z 1 PHG einen Haftungsausschluss, nämlich wenn der Haftpflichtige nachweist, dass „der Fehler auf eine Rechtsvorschrift oder behördliche Anordnung zurückzuführen ist, der das Produkt zu entsprechen hatte“.

[32] Er betrifft den Fall, dass der Fehler des Produkts auf die Befolgung zwingender Normen zurückzuführen ist, und diese für ihn ursächlich sind, also die Vorschrift dem Hersteller „befohlen hat“, den Fehler „einzubauen“. In der Konfliktsituation zwischen Ungehorsam und möglicher Haftung soll der Hersteller entlastet werden. Er darf also keine Alternative zur Befolgung der Vorschrift gehabt haben: Das Produkt musste „so und nicht anders“ hergestellt werden. Die Orientierung an behördlichen Mindestanforderungen reicht hingegen nicht aus (vgl Rabl, PHG § 8 Rz 4 ff, 14; Posch/Terlitza in Schwimann/Kodek, ABGB5 § 8 PHG Rz 5 jeweils mwN).

[33] I.3.5.1 Maßgeblicher Zeitpunkt sowohl für die Beurteilung der Fehlerhaftigkeit nach § 5 PHG, als auch des Haftungsausschlusses nach § 8 Z 1 oder Z 2 PHG, ist jener des Inverkehrbringens des konkreten Produkts. Ein fehlerfrei in den Verkehr gebrachtes Produkt bleibt ungeachtet späterer Entwicklungen ein für allemal fehlerfrei im Sinn des Gesetzes (RS0107605 [T5]; vgl auch § 5 Abs 2 PHG). Bei Serienprodukten bedeutet dies, dass immer auf den Zeitpunkt abzustellen ist, in dem das jeweilige schadensstiftende Produkt in Verkehr gebracht wurde, nicht jedoch auf den Zeitpunkt der erstmaligen Einführung der Serie (RS0107605 [T19]).

[34] I.3.5.2 Konkretes Vorbringen und Feststellungen zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens fehlen hier. Aus den unstrittigen Urkunden und dem als Augenscheinsgegenstand vorgelegten Hustensaft (zur Verwertbarkeit s neuerlich RS0121557, RS0040083 [T1]) ergibt sich zwar kein Auslieferungs- oder Produktionsdatum, aber zumindest, dass dieser von der Erstklägerin am 19. 1. 2015 in einer Apotheke erworben wurde (Erstattungskatalog Beilage ./P) und laut Verpackung „verwendbar bis 07/2016“ war.

[35] Die beliegende Gebrauchsinformation trägt den Vermerk „zuletzt genehmigt im Oktober 2010“ (Beilage ./C; Pflichtangabe nach § 16 Abs 2 Z 16 AMG), die von der Erstbeklagten vorgelegte Fachinformation hat den „Stand 06/2014“ (Beilage ./2; § 15 Abs 2 Z 10 AMG). Laut dieser hat das Arzneimittel eine Haltbarkeit von zwei Jahren, das ergäbe eine Produktion 07/2014.

[36] Die von der Erstbeklagten ins Treffen geführte arzneimittelrechtliche Zulassung stammt gemäß den vorgelegten Urkunden bereits aus dem Jahr 1978. Für die Zwecke des Revisionsverfahrens wird jedoch eine Anwendbarkeit des AMG sowie der RL 2001/83/EG unterstellt.

[37] I.3.6.1 § 16 Abs 2 AMG regelt die Pflichtangaben in Gebrauchsinformationen für Humanarzneimittelspezialitäten.

[38] Gemäß § 16 Abs 2 letzter Satz AMG (sowohl idF 31. 12. 2009 bis 14. 12. 2012 als auch idF 15. 12. 2012 bis 14. 2. 2022) sind weitere Angaben in der Gebrauchsinformation zulässig, „soweit sie mit der Verabreichung der Arzneispezialität in Zusammenhang stehen, für den Anwender oder Verbraucher wichtig sind und den Angaben der Fachinformation nicht widersprechen“.

[39] Art 62 der RL 2001/83/EG lautet insoweit: […] die Packungsbeilage [kann] weitere mit der Zusammenfassung der Merkmale des Erzeugnisses [Anm: Fachinformation] zu vereinbarende Informationen enthalten, die für die Gesundheitsaufklärung wichtig sind“.

[40] Schon daraus folgt, dass die Pflichtangaben in einer Gebrauchsinformation für Humanarzneispezialitäten in § 16 Abs 2 Z 1 ff AMG keineswegs abschließend geregelt sind, sondern zusätzliche Angaben aufgenommen werden können. Das Fehlen eines wichtigen Hinweises kann daher nicht zu einem Haftungsausschluss nach § 8 Z 1 PHG wegen der Einhaltung zwingender gesetzlicher Vorschriften führen.

[41] I.3.6.2 Im Übrigen hat die Gebrauchsinformation nicht nur „die für eine ordnungsgemäße Verwendung erforderlichen üblichen Anweisungen“ (Z 8) sowie „eine Beschreibung der Nebenwirkungen, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch auftreten können“ (Z 9) zu enthalten, sondern nach Z 7 auch „besondere Warnhinweise“, die gemäß Abs 2 erster Satz „in allgemein verständlicher Form“ zu erfolgen haben, und schließlich „Maßnahmen für den Fall einer Überdosierung“ (Z 8 lit e).

[42] Die dem zugrundeliegende lit c des Art 59 Abs 1 der RL 2001/83/EG lautet:

„c) eine Aufzählung von Informationen, die vor Einnahme des Arzneimittels bekannt sein müssen:

- Gegenanzeigen,

- entsprechende Vorsichtsmaßnahmen für die Verwendung,

- Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln und sonstige Wechselwirkungen (zB mit Alkohol, Tabak, Nahrungsmitteln), die die Wirkungsweise des Arzneimittels beeinträchtigen können,

- besondere Warnhinweise.

In dieser Aufzählung

- ist die besondere Situation bestimmter Verbrauchergruppen zu berücksichtigen (Kinder, schwangere oder stillende Frauen, ältere Menschen, Personen mit besonderen Erkrankungen),

- [...]“

 

[43] In § 11 GebrauchsinformationsVO 2008 (BGBl II Nr 176/2008; iVm § 16c Abs 2 AMG) ist zusätzlich festgelegt:

„(1) Bei Arzneispezialitäten, die auf Grund ihrer besonderen Beschaffenheit Maßnahmen im Hinblick auf ihre zweckdienliche oder sichere Anwendung erfordern, hat die Gebrauchsinformation entsprechende Warnhinweise oder Hinweise auf Applikationsmittel zu enthalten. Das sind insbesondere

1. Warnungen, die auf mögliche Schädigungen oder Gefährdungen des Lebens oder der Gesundheit von Mensch oder Tier oder andere schwerwiegende Nebenwirkungen oder Folgen hinweisen, die

a) bei bestimmungsgemäßer Anwendung der Arzneispezialität,

b) bei Nichtbeachtung der Angaben in der Gebrauchsinformation, oder

c) durch die Beeinflussung einer Diagnose als Folge der Anwendung der Arzneispezialität auftreten können, und

2. Vorsichtsgebote und -maßnahmen zur Vermeidung von Schädigungen oder Gefährdungen des Lebens oder der Gesundheit von Mensch oder Tier.

(2) Bei den Angaben gemäß Abs. 1 sind besondere Tätigkeiten des Verbrauchers, bestimmte Verbrauchergruppen [...], besondere Zustände oder Funktionsstörungen des Verbrauchers [...] zu berücksichtigen.“

[44] Entgegen der Argumentation der Erstbeklagten ist sohin keine Unvereinbarkeit zwischen § 16 Abs 2 Z 7 bis 9 AMG, der RL 2001/83/EG und einer allfälligen Haftung nach dem PHG bzw der Produkthaftungs-RL 85/374/EWG gegeben.

[45] I.3.6.3 Schließlich ist zwar die Gebrauchsinformation eine verpflichtend vorzulegende Zulassungsunterlage (§ 9 Abs 1 Z 7 AMG) und damit auch Teil der arzneimittelrechtlichen Zulassung (Steinböck in Cerha/Heissenberger/Steinböck, AMG § 9–9e Rz 17; vgl auch Aigner/D’Orlando in Aigner/Kletečka/Kletečka-Pulker/Memmer, Handbuch Medizinrecht Kap V.4 Pkt 4.1.4.4.2.). Ein Antrag auf Zulassung einer Arzneimittelspezialität ist gemäß § 19 Abs 1 Z 12 AMG abzulehnen, wenn der Entwurf der Gebrauchsinformation nicht § 16 AMG oder einer gemäß § 16 Abs 5 AMG erlassenen Verordnung entspricht.

[46] Nach der herrschenden Ansicht schließt aber die behördliche Zulassung als Arzneimittel eine Haftung nach dem PHG nicht aus. Gerade weil § 16 AMG und die GebrauchsinformationsVO Spielräume lassen, wird auch eine Produkthaftung wegen eines Instruktionsfehlers als möglich angesehen (vgl etwa Hellbert in Hellbert, Handbuch Pharmarecht2 Zulassung von Arzneimitteln 145; PHG 304 f; Steinböck, Die Bedeutung der arzneimittel- und medizinprodukterechtlichen Vorschriften für die Produkthaftung, in Bernat et al, Festschrift Kopetzki [2019] 669 ff, 673 f; Steinböck in Holoubek/Potacs, Öffentliches Wirtschaftsrecht4 Arzneimittelrecht 827, 929; Hohl, Arzneimittelhaftung [2008] 72 ff; 83 ff; 115 f; Rabl, PHG § 5 Rz 143; Wendehorst, Haftung für Impfschäden beim Off‑Label‑Use, RdM 2021/333, 216).

[47] Im Übrigen besagt auch Art 25 der RL 2001/83/EG , dass die Genehmigung [für das Inverkehrbringen] die zivil- und strafrechtliche Haftung des Herstellers und gegebenenfalls des Inhabers der Genehmigung unberührt lässt (s auch Art 5 Abs 4). Gemäß Art 61 Abs 4 der RL 2001/83/EG hat „die Tatsache, dass die zuständigen Behörden das Inverkehrbringen eines Arzneimittels nach Absatz 2 oder eine Änderung der Etikettierung oder der Packungsbeilage nach Absatz 3 nicht abgelehnt haben, keinen Einfluss auf die allgemeine Haftung des Herstellers und gegebenenfalls des Inhabers der Genehmigung für das Inverkehrbringen“.

[48] Dementsprechend enthält das AMG auch keine zivilrechtlichen Haftungsbestimmungen.

[49] I.3.6.4 Angesichts dieser eindeutigen Rechtslage ist kein Vorabentscheidungsersuchen erforderlich, wie von beiden Revisionswerberinnen angeregt (vgl RS0082949 [T3]).

[50] Ebenso wenig verwirklicht die Begründung des Berufungsgerichts eine Nichtigkeit wegen Nichtbeachtung der Bindungswirkung oder Unzulässigkeit des Rechtswegs, wie von der Erstbeklagten in den Raum gestellt.

[51] I.3.7 Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass die arzneimittelrechtliche Zulassung des Hustensaftes sowie der Gebrauchsinformation einer Haftung nach dem PHG nicht entgegensteht. Für die Beurteilung, ob ein „Instruktionsfehler“ iSd § 5 PHG vorliegt, sind die Vorgaben des § 16 AMG (unter Rückgriff auf die RL 2001/83/EG ) sowie der GebrauchsinformationsVO 2008 (BGBl II Nr 176/2008) zu berücksichtigen und diese um die allgemeinen Anforderungen insbesondere an Warnhinweise nach dem PHG zu ergänzen.

[52] I.4.1 Die Erstbeklagte argumentiert weiters, dass ihr selbst bei einer Anwendbarkeit des PHG keine Verletzung der Instruktionspflicht vorgeworfen werden könne, weil sie nicht mit einem derartigen Abusus habe rechnen müssen, und die Erstklägerin von dritter Seite ausreichend aufgeklärt worden sei bzw sie zumindest darauf vertrauen habe dürfen. Sie macht in diesem Zusammenhang auch eine Mangelhaftigkeit des zweitinstanzlichen Verfahrens sowie sekundäre Feststellungsmängel geltend.

[53] I.4.2 Nach der ständigen Rechtsprechung zum PHG gehört es zur Instruktionspflicht, den Benützer auf gefährliche Eigenschaften des Produkts hinzuweisen (vgl RS0071549). Ein Instruktionsfehler kann sich dabei aus dem gänzlichen Fehlen einer Anweisung oder aufgrund inhaltlicher Mängel der Anleitung ergeben (vgl RS0071549 [T15]). Ihrem Inhalt nach müssen Warnhinweise klar und allgemein verständlich formuliert sein. Das spezielle Risiko ist in seiner ganzen Tragweite möglichst eindrucksvoll zu schildern. Die Instruktion muss daher geeignet sein, das Risiko einer Rechtsgutverletzung zu beseitigen (RS0071554). Warnhinweise müssen umso deutlicher ausfallen, je größer das Ausmaß der potentiellen Schadensfolgen und je versteckter die Gefährlichkeit ist (RS0071554 [T1]). Kann die Verwendung des Produkts mit erheblichen Gefahren für die Gesundheit von Menschen verbunden sein, so dürfen Warnhinweise nicht im sonstigen Text „versteckt“ werden. Die Hinweise müssen eine Art der drohenden Gefahr deutlich herausstellen und Funktionszusammenhänge klar machen, sodass erkennbar wird, warum das Produkt gefährlich ist (RS0111166).

[54] I.4.3 Die Pflicht zur Warnung vor gefährlichen Eigenschaften des Produkts besteht nur bei einem Schutzbedürfnis des Verbrauchers, also wenn der Hersteller/Importeur damit rechnen muss, dass ein Produkt in die Hände von Personen gerät, die mit den Produktgefahren nicht vertraut sind (RS0071549 [T6]; vgl auch RS0026022). Was im Bereich allgemeiner Erfahrung der in Betracht kommenden Abnehmer und Benützer liegt, braucht nicht zum Inhalt einer Warnung gemacht werden; entscheidend sind grundsätzlich die berechtigten Sicherheitserwartungen des idealtypischen durchschnittlichen Produktbenützers (RS0071543). Inhalt und Umfang der Instruktionen sind allerdings nach der am wenigsten informierten und damit gefährdetsten Benutzergruppe auszurichten (RS0026022 [T4]; s auch für Arzneimittel Art 59 Abs 1 lit c der RL 2001/83/EG , wonach die besondere Situation bestimmter Verbrauchergruppen zu berücksichtigen ist, sowie § 11 Abs 2 GebrauchsinformationsVO 2008).

[55] Die nach § 5 PHG maßgebenden Sicherheitserwartungen sind zudem nur berechtigt, wenn der Benutzer den Anforderungen an seine Eigenverantwortung gerecht wird, spricht doch § 5 Abs 1 Z 2 PHG vom Gebrauch des Produkts, mit dem billigerweise gerechnet werden könne. Zu prüfen ist daher, ob das Verbraucherverhalten für den Hersteller vorhersehbar war; denn für unvorhersehbare oder geradezu absurde Gebrauchsarten hat der Hersteller keinesfalls einzustehen. Wohl aber ist ein sozial übliches Verhalten für den Unternehmer ohne weiteres vorhersehbar. Auch unterhalb der Schwelle der Sozialüblichkeit ist mit bestimmten Verbrauchergewohnheiten zu rechnen, so lange es sich nicht nur um einen theoretisch denkbaren, sondern um einen naheliegenden Abusus handelt (vgl RS0107610, RS0106978, RS0114946). Daher muss der Hersteller unter Umständen selbst vor widmungswidrigem Gebrauch warnen (vgl RS0071549 [T2]).

[56] I.4.4 Dass bei rezeptpflichtigen Medikamenten ein Aufklärungsgespräch durch Arzt und Apotheker hinzutritt, könnte zwar im Einzelfall eine Auswirkung auf die berechtigten Sicherheitserwartungen oder etwa die Kausalität oder ein Mitverschulden des Anwenders haben, entbindet die Erstbeklagte entgegen ihrer Argumentation aber keineswegs generell von ihrer Verpflichtung zu klaren und ausdrücklichen Warnhinweisen nach § 16 Abs 2 AMG und § 5 PHG (vgl auch 6 Ob 182/09x [Infrarotkabine]).

[57] Daher vermag auch ein Warnhinweis in der Fachinformation eine Verharmlosung eines Risikos in der Gebrauchsinformation, die gemäß § 16 Abs 1 AMG damit übereinstimmen muss, nicht zu rechtfertigen.

[58] I.5.1 Angewendet auf den konkreten Fall ist dem Berufungsgericht beizupflichten, dass ein – wenn auch rezept- und apothekenpflichtiger – Hustensaft gegen Reizhusten, der löffelweise an Kinder ab drei Jahren verabreicht werden kann und soll, jedoch (und nicht bloß bei Überdosierung) tödliche Wirkung haben kann, nicht den berechtigten Sicherheitserwartungen iSd § 5 Abs 1 PHG genügt. Auf diesen Umstand hätte in der Gebrauchsinformation sowohl nach der ständigen Rechtsprechung zum PHG, als auch nach § 16 Abs 2 Z 7 („besondere Warnhinweise“) oder Abs 2 letzter Satz AMG („für den Anwender wichtig“) ausdrücklich und verständlich hingewiesen werden müssen.

[59] I.5.2.1 Die Erstbeklagte moniert in diesem Zusammenhang, dass das Erstgericht keine Feststellungen zur Dosieranweisung der Nebenintervenientin und der tatsächlich verabreichten Menge getroffen und das Berufungsgericht dahingehende Rügen unerledigt gelassen bzw eigene Feststellungen ohne Beweiswiederholung nachgetragen habe.

[60] Die von der Erstbeklagten angegriffenen Erwägungen des Berufungsgerichts sind aber keine Feststellungen, sondern verneinen eine Relevanz der Berufungsargumente, weil auch bei den von der Erstbeklagten behaupteten Mengen kein sozialinadäquater Abusus vorliege, mit dem die Erstbeklagte nicht habe rechnen müssen und der eine Warnung entbehrlich gemacht hätte.

[61] I.5.2.2 Unstrittig heißt es zur Dosierung in der Gebrauchsinformation: „Falls vom Arzt nicht anders verordnet, ist die übliche Dosis […] Kinder von 6 bis 12 Jahren: 2 mal täglich 2 Dosierlöffel; Kinder von 3 bis 6 Jahren: 2 mal täglich 1 Dosierlöffel.“ (Beilage ./C; diese Dosierung entspricht jener laut Fachinformation Beilage ./2).

[62] Die Erstbeklagte unterstellt, dass die Nebenintervenientin ausdrücklich nur einen Löffel vor dem Schlafengehen angeordnet habe.

[63] Weiters begehrt sie, die ergänzende Feststellung zu treffen, dass an das Mädchen eine „erhebliche Überdosierung im Ausmaß von zumindest 16 ml bzw rund drei Dosierlöffel (zusätzlich zur vorgesehenen Dosis)“ verabreicht worden sei und sohin „täglich die vierfache Menge“ im Verhältnis zur verschriebenen. Dies leitet sie aus den Gutachten im Straf- und Zivilverfahren ab, die darauf verwiesen, dass die Familienmitglieder den Zwillingen laut eigenen Angaben vier Mal je einen Dosierlöffel verabreichten (19. 1. abends; 20. 1. morgens und abends; 21. 1. abends; daher in Summe acht), die Restmenge in der beschlagnahmten Flasche jedoch geringer gewesen sei und rund 16 ml bzw drei Dosierlöffel fehlen würden.

[64] Aber selbst wenn man unterstellt, dass die gesamte Fehlmenge im Laufe des 21. 1. 2015 ausschließlich an das verstorbene Zwillingsmädchen verabreicht wurde, hätte sie an diesem Tag daher vier Löffel erhalten; das ist die vierfache Menge der behauptetermaßen verordneten, die doppelte Menge der „üblichen Dosis“ laut Gebrauchs- und Fachinformation für Kinder ab drei Jahren oder die „übliche Dosis“ für ein Kind ab sechs Jahren.

[65] Dass einem vierjährigen Kind eine derartige Menge eines Hustensaftes gegeben wird (etwa weil ihn versehentlich mehrere Familienmitglieder verabreichen, die verabreichende Person die ärztliche Anordnung nicht kennt und sich bei der Altersspalte verliest, oder sie dem Kind aufgrund starken Hustens [sukzessive] zu viel verabreicht), ist aber keineswegs in jedem Fall sozialinadäquat, unvorhersehbar oder geradezu absurd.

[66] Auch wenn man der Erstbeklagten folgt, dass eine Überdosierung jedweden Arzneimittels zum Tod führen kann und dies Allgemeinwissen ist, stellt sich doch stets die Frage, wie viel davon wie schnell wie gefährlich wird. So gibt es zahlreiche „harmlose“ Hustenmittel, die bedenkenlos in größeren Mengen auch an Kinder verabreicht werden können. Die potentiell tödliche Wirkung von codeinhaltigen (Husten-)Medikamenten auf Kinder war im Jänner 2015 für Verbraucher gerade nicht offenkundig und allgemein bekannt.

[67] I.5.2.3 Die Vorhersehbarkeit des Verbraucherverhaltens und die Fehlerhaftigkeit des Produkts könnte anders zu beurteilen sein, wenn die Gebrauchsinformation auf eine möglicherweise tödliche Wirkung hingewiesen und die Gefahren insbesondere einer Überdosierung in diesem Sinne deutlich hervorgestrichen hätte.

[68] Zur Problematik der – weder nach Löffeln bzw Milliliter noch nach Gewicht des Anwenders näher spezifizierten – Überdosierung heißt es in der für Anwender bestimmten Gebrauchsinformation iSd § 16 AMG aber lediglich: „Wenn Sie eine größere Menge von * eingenommen haben, als Sie sollten: Eine Überdosierung von *-Hustensaft kann zu verflachter, unregelmäßiger Atmung, ausgeprägter Müdigkeit und Schläfrigkeit bis zu Bewusstseinstrübungen und Bewusstlosigkeit, zu Muskelschwäche, Erbrechen, Kopfschmerzen, Harn- und Stuhlverhalten, gelegentlich (insbesondere bei Kindern) Krämpfe, zu feuchtkalter Haut und manchmal zu einer Verlangsamung des Pulses und Blutdruckabfall, später violette Verfärbung der Haut und Kreislaufkollaps führen. In diesen Fällen ist unverzüglich ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.“

[69] Weiters heißt es unter „Besondere Vorsicht bei der Einnahme von * ist erforderlich“ […] „Bei Auftreten von Überempfindlichkeitsreaktionen und plötzlicher Atemnot, was in seltenen Fällen geschehen kann (siehe unter 'welche Nebenwirkungen sind möglich'), müssen Sie die Behandlung sofort abbrechen und so rasch wie möglich einen Arzt aufsuchen.“

[70] Unter „Welche Nebenwirkungen sind möglich?“ heißt es bei „Atemwege“: „Selten [1 bis 10 Behandelte von 10.000]: Atemnot durch Verengung der Atemwege“ sowie weiters: „Bei höheren Dosierungen können gelegentlich auftreten […] Blutdruckabfall (Schwarzwerden vor den Augen, Schwindelanfälle), plötzlich andauernde Bewusstlosigkeit (Synkope), Ansammlung von Flüssigkeit in der Lunge und Atembeschwerden (Verlangsamung und Verflachung der Atmung)“ […] „Zusätzlich kann es bei höheren Dosierungen zu Überempfindlichkeitsreaktionen (Allergien) kommen, die sich in einem oder mehreren der folgenden Anzeichen bemerkbar machen: […] in seltenen Fällen Atembeschwerden mit Atemnot (durch Verengung der unteren Atemwege).“

[71] Betreffend die Einnahme anderer codein- oder dihydrocodeinhaltigen Medikamenten (wie zB Paracodin-Hustentropfen) findet sich unter „Bei Einnahme von * mit anderen Arzneimitteln“ lediglich der Hinweis: „Bitte informieren Sie Ihren Arzt oder Apotheker, wenn Sie andere Arzneimittel einnehmen/anwenden bzw vor kurzem eingenommen/angewendet haben, auch wenn es sich nicht um verschreibungspflichtige Arzneimittel handelt. Die gleichzeitige Einnahme anderer Substanzen, die wie * Hustentropfen [sic] auf das zentrale Nervensystem wirken, können die durch Codein verursachte Müdigkeit und Dämpfung der Atmung verstärken. Dazu zählen gewisse Mittel gegen Schlafstörungen (Hypnotika), Erregungszustände (Sedativa), Depressionen (wie etwa Neuroleptika) und gewisse Mittel gegen Allergien (H 1 ‑Antihistaminika) sowie auch Alkohol. […] “

[72] Der Hinweis am Ende der Passage „Besondere Vorsicht bei der Einnahme von * ist erforderlich“ […] „Außerdem besteht eine Kreuztolerenz (Risiko einer nachlassenden Wirkung bei verwandten Substanzen zu anderen Opioiden (Opiatabkömmlingen)“ mag sich nach dem Gesamtzusammenhang ausschließlich auf die einleitend genannte Langzeitbehandlung beziehen, wie die Erstbeklagte in ihrer Revision argumentiert. Wie ein Anwender darauf schließen soll, dass die Kumulation von codeinhaltigen (Husten-)Medikamenten schon bei einer Kurzzeitbehandlung zu einer sogar tödlichen Überdosierung führen kann, lässt die Revision allerdings offen. Dasselbe gilt für die Gefahren bei Überdosierung insbesondere bei Kindern.

[73] I.5.2.4 Insgesamt bleibt die Gebrauchsinformation bezogen auf die Überdosierung des Arzneimittels sowie bei Kombination mit anderen codein- oder dihydrocodeinhaltigen (Husten-)Medikamenten daher hinter den Anforderungen des § 16 AMG sowie den berechtigten Sicherheitserwartungen nach § 5 PHG zurück.

[74] I.5.3 Dass die Erstklägerin von zumindest zwei Ärzten über die Verwendung des Hustensaftes und die Folgen einer Überdosierung aufgeklärt worden wäre, wie von der Erstbeklagten in ihrer Revision behauptet, steht nicht fest und ist nur insofern unstrittig, als dass * den Zwillingen bereits mehrfach verschrieben und von beiden gut vertragen wurde (wobei der Kinderarzt laut Erstklägerin bis zu zwei Löffel täglich verschrieben habe). Vielmehr wurde die Erstklägerin nach den Feststellungen gerade nicht auf eine potentiell tödliche Wirkung oder eine besondere Gefährlichkeit bei Überdosierung hingewiesen.

[75] Die von der Erstbeklagten ergänzend begehrte (unspezifizierte) Feststellung, wonach die Erstklägerin „über die korrekte Dosierung von * sowie über mögliche Folgen einer Überdosierung und daher über die Gefährlichkeit im Falle einer Abweichung von der Dosierungsanleitung aufgeklärt wurde“, ist sohin keine Rüge eines sekundären Feststellungsmangels, sondern eine – in dritter Instanz allerdings unzulässige – Beweisrüge (vgl RS0053317 [T1]). Selbst wenn die Nebenintervenientin darüber aufgeklärt hätte, dass * „zu Atemdepressionen führen kann“, wie die Erstbeklagte weiters ins Treffen führt, durften die Kläger dies bloß als – nicht letale – „Atembeschwerden“ im Sinn der Gebrauchsinformation verstehen.

[76] I.6.1 Die Erstbeklagte bekämpft schließlich die Rechtsansicht des Berufungsgerichts zur unzureichenden Aufklärung über Kontraindikationen, weil aus der Gebrauchsinformation sehr wohl eindeutig hervorgehe, dass * nicht bei einer Lungenentzündung eingenommen werden dürfe, und zwar aus der Passage: „* darf nicht eingenommen werden […] wenn Sie an akuten Schüben von Bronchialasthma (Zustände der Atemnot durch Verengung der unteren Atemwege), oder an anderen Zuständen, die mit einer schweren Einschränkung der Atemfunktion einhergehen, leiden.“

[77] Darauf kommt es aber schon deswegen nicht an, weil keinerlei Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Lungenentzündung des Mädchens und eine „schwere Einschränkung der Atemfunktion“ vor deren Obduktion überhaupt erkennbar gewesen wäre, wurde sie doch wegen Reizhustens behandelt.

[78] I.6.2 Soweit die Erstbeklagte mit dem Stand der Wissenschaft und der gesetzlich geregelten Vorgehensweise zur Meldung und Bewertung von Nebenwirkungen und Vorfällen argumentiert (ohne dabei näher zwischen der berechtigten Sicherheitserwartung nach § 5 PHG und dem Haftungsausschluss nach § 8 Z 2 PHG zu differenzieren), ist ihr entgegenzuhalten, dass es in der von ihr selbst mit ihrer Klagebeantwortung vorgelegten, an Ärzte gerichteten Fachinformation iSd § 15 AMG (Beilage ./2) mit Stand „06/2014“ im Punkt „Überdosierung“ bereitsheißt: „Bei Überdosierung treten toxische Wirkungen auf. Die letale Dosis beim Erwachsenen wird mit Werten von 0,5-1 g Codein angegeben. Bei Kindern muss altersabhängig mit einer toxischen Schwellendosis bei einer Einmaldosis ab 2 mg Codein/kg Körpergewicht gerechnet werden. Eine akute Überdosierung mit der Einmaldosis von 5 mg/kg kann tödlich verlaufen. [...]“

[79] Bezogen auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens des konkreten Produkts, der hier – mangels anderer Behauptungen der Erstbeklagten (vgl § 7 PHG) – nach 06/2014 anzusetzen ist (Erwerb am 19. 1. 2015), war die möglicherweise letale Wirkung von codeinhaltigen Hustensäften für Kinder bei Überdosierung sohin nicht bloß Stand der Wissenschaft, sondern der Erstbeklagten bekannt. Die Kläger stützten sich in erster Instanz im Rahmen ihrer Urkundenerklärung auch ausdrücklich auf die Diskrepanz zwischen Fach- und Gebrauchsinformation.

[80] Nach den erstgerichtlichen Feststellungen hatten Pharmaunternehmen damals zudem Kenntnis, dass die gleichzeitige Verabreichung von codein- und dihydrocodeinhaltigen Medikamenten selbst in der jeweils vorgeschriebenen Dosis letal sein kann, bei „ultrarapid Metabolizer“ auch bei gebrauchsinformationskonformer Gabe eine tödliche Wirkung eintreten kann, und bei Kindern das Risiko einer Atemdepression besteht.

[81] Damit ist aber ein Produktfehler iSd § 5 PHG zu bejahen und zugleich ein Haftungsausschluss nach § 8 Z 2 PHG zu verneinen.

[82] I.6.3 Grundsätzlich zutreffend ist schließlich der Hinweis der Erstbeklagten, dass sie die Gebrauchsinformation nicht beliebig ändern hätte können, sondern nur in Abstimmung mit der Zulassungsbehörde.

[83] Änderungen der Gebrauchs- oder Fachinformation einer Arzneispezialität hinsichtlich etwa der besonderen Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung sowie der Überdosierung bedürfen der Zustimmung durch das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen – es sei denn, diese Änderungen sind ausschließlich im Hinblick auf eine verbesserte Produktsicherheit erforderlich (§ 24 Abs 3 AMG idF 4. 8. 2013 bis 31. 12. 2023). Zudem gilt die Zustimmung nach Abs 3 als erteilt, wenn der Änderung nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten widersprochen worden ist (§ 24 Abs 4 AMG; vgl auch Art 61 Abs 3 der RL 2001/83/EG ).

[84] Dass die europäischen und nationalen Behörden bei Sicherheitsbedenken von Amts wegen vorgehen können, entbindet die Erstbeklagte nicht von ihren eigenen Pflichten. Warum sie als Zulassungsinhaberin und pharmazeutische Unternehmerin zwar im Juni 2014 eine neue Fachinformation nach § 15 AMG veröffentlichte, aber nicht gleichzeitig auch eine Gebrauchsinformation nach § 16 AMG, sondern noch im Jahr 2015 Produkte mit einer solchen zum Stand Oktober 2010 vertreiben ließ, lässt die Revision offen (s dazu auch 9 Ob 76/99p).

[85] I.7 Die von den Vorinstanzen übereinstimmend bejahte Kausalität wird von der Erstbeklagten nur insofern bestritten, als sie mit einer umfassenden ärztlichen Aufklärung argumentiert (die aber nicht festgestellt wurde, s oben Punkt I.5.3) sowie mit einer Kenntnis der Viertklägerin von der möglichen letalen Wirkung (die ebenso wenig festgestellt wurde). Selbst wenn die Viertklägerin zu dem Zeitpunkt, zu dem sie die Gebrauchsinformation las, eine Ausbildung zur Krankenschwester absolvierte, kann die Revision nicht schlüssig begründen, wie sie aus der „Nebenwirkung: Atemnot durch Verengung der Atemwege“ auf eine potentielle Todesgefahr für Kinder bei Überdosierung und Kombination mit anderen codein- oder dihydrocodeinhaltigen Hustenmitteln hätte schließen können und müssen.

[86] Auch sonst entfernt sich die Erstbeklagte mit ihrer Argumentation zum Fehlen bzw der Durchbrechung der Kausalität sowie der Behauptung, dass sich ein Hinweis auf mögliche letale Folgen in der Gebrauchsinformation nicht ausgewirkt hätte, unzulässiger Weise vom festgestellten Sachverhalt, sodass die Rechtsrüge insoweit nicht gesetzmäßig ausgeführt ist (vgl RS0043603).

[87] I.8 Im Ergebnis haftet die Erstbeklagte daher ungeachtet der arzneimittelrechtlichen Zulassung wegen eines kausalen Instruktionsfehlers, sodass ihrer Revision nicht Folge zu geben war.

II. Zur Revision der Zweitbeklagten:

[88] II.1 Soweit die Zweitbeklagte in ihrer Revision ebenfalls das Verhältnis zwischen dem PHG und dem AMG thematisiert und einen kausalen Instruktionsfehler gemäß § 5 PHG bestreitet, kann sie auf die Ausführungen zur Revision der Erstbeklagten verwiesen werden.

[89] Die Anwendbarkeit materiellen österreichischen Rechts (s dazu Art 5 Rom II‑VO) und eine grundsätzliche Soildarhaftung mehrerer Haftpflichtiger nach § 10 PHG wird von ihr nicht angezweifelt.

[90] II.2 Die Vorinstanzen bejahten eine Haftung der Zweitbeklagten als (Anscheins-)Herstellerin gemäß § 3 PHG, weilsie in der Gebrauchsinformation als „Hersteller“ genannt ist.

[91] Die Zweitbeklagte verweist in ihrer Revision erneut darauf, dass sie nur „Lohnherstellerin“ für die erstbeklagte Zulassungsinhaberin gewesen sei. Sie habe die Ware im Auftrag der Erstbeklagten produziert und an diese geliefert. Für die Gestaltung und den Inhalt von Verpackung und Gebrauchsinformation sei sie hingegen nie verantwortlich gewesen, sie habe auch keine Nebenwirkungsmeldungen erhalten und hätte keinen Änderungsantrag gemäß AMG stellen können. Weder habe sie das Produkt daher iSd § 1 PHG in Verkehr gebracht, noch könne sie für einen Instruktionsfehler verantwortlich gemacht werden.

[92] II.3.1 Gemäß § 16 Abs 2 AMG sind in der Gebrauchsinformation sowohl der Zulassungsinhaber (Z 13) als auch der Hersteller (Z 14) anzugeben. Letzter ist schon im Zulassungsantrag zu benennen, sofern er nicht mit dem Antragsteller ident ist (vgl § 9a Abs 1 Z 1 AMG).

[93] „Herstellen“ ist gemäß § 2 Abs 10 AMG das Gewinnen, Anfertigen, Zubereiten, Be- oder Verarbeiten, Umfüllen einschließlich des Abfüllens und das Abpacken von Arzneimitteln oder Wirkstoffen sowie das Kennzeichnen von Arzneispezialitäten und Prüfpräparaten.

[94] „Pharmazeutischer Unternehmer“ ist ein im EWR ansässiger Unternehmer, der dazu berechtigt ist, Arzneimittel oder Wirkstoffe unter seinem Namen in Verkehr zu bringen, herzustellen oder damit Großhandel zu treiben (§ 2 Abs 13a AMG).

[95] Für die Zwecke des AMG bedeutet „Inverkehrbringen“ das Vorrätighalten, Feilhalten oder die Abgabe von Arzneimitteln oder Wirkstoffen (§ 2 Abs 11 AMG). Ein Inverkehrbringen liegt nicht vor, wenn durch geeignete Maßnahmen sichergestellt ist, dass ein Arzneimittel, das dem Gesetz nicht entspricht, nicht zum Verbraucher oder Anwender gelangt.

[96] II.3.2 Gemäß § 1 Abs 1 Z 1 PHG haftet der Unternehmer, der das fehlerhafte Produkt hergestellt und in den Verkehr gebracht hat. Hersteller in diesem Sinne ist derjenige, der das Endprodukt, einen Grundstoff oder ein Teilprodukt erzeugt hat, sowie jeder, der als Hersteller auftritt, indem er seinen Namen, seine Marke oder ein anderes Erkennungszeichen auf dem Produkt anbringt (§ 3 PHG).

[97] Nach § 6 PHG ist ein Produkt in den Verkehr gebracht, sobald es der Unternehmer, gleich aufgrund welchen Titels, einem anderen in dessen Verfügungsmacht oder zu dessen Gebrauch übergeben hat.

[98] Behauptet ein Hersteller oder Importeur, die Sache nicht in Verkehr gebracht zu haben, so obliegt ihm der Beweis dafür (§ 7 Abs 1 PHG). Ein Beklagter, der behauptet, dass das Produkt den für den Schaden kausalen Fehler noch nicht hatte, als er es in den Verkehr gebracht hat, hat dies als unter Berücksichtigung der Umstände wahrscheinlich darzutun (§ 7 Abs 2 PHG).

[99] Schließlich kann die Haftung gemäß § 8 Z 3 PHG zwar nicht durch mangelndes Verschulden, aber durch den Nachweis ausgeschlossen werden, dass – wenn der in Anspruch Genommene nur einen Grundstoff oder ein Teilprodukt hergestellt hat – der Fehler durch die Konstruktion des Produkts, in welches der Grundstoff oder das Teilprodukt eingearbeitet worden ist, oder durch die Anleitungen des Herstellers dieses Produkts verursacht worden ist.

[100] Im Übrigen bleibt dem in Anspruch Genommenen der Regress nach § 12 PHG, der ua auf eine Verursachung des Fehlers und ein Verschulden abstellt.

[101] II.3.3.1 Produkt im Sinn des PHG ist hier das Arzneimittel „Hustensaft“, das unstrittig von der Zweitbeklagten in ihrem Unternehmen faktisch hergestellt wurde.„Endprodukt“im Sinn des PHG ist das „fertige“ Produkt, wie es für den Vertrieb bestimmt ist und vom Konsumenten üblicherweise zum Ge- oder Verbrauch erworben wird (vgl 7 Ob 175/16k = RS0131130). Dessen Gebrauchsinformation ist produkthaftungsrechtlich nicht als „Teilprodukt“ zu qualifizieren, sondern als produktbezogene Information (vgl Rabl, PHG § 4 Rz 15).

[102] II.3.3.2 Fraglich ist, ob die Zweitbeklagte für die Zwecke des PHG auch rechtlich als (End-)Herstellerin iSd §§ 1, 3 PHG anzusehen ist, die das Produkt in Verkehr gebracht hat.

[103] Art 25 und Art 61 Abs 4 der RL 2001/83/EG kann entnommen werden, dass der Hersteller eines Arzneimittels und der Inhaber der Genehmigung für dessen Inverkehrbringen grundsätzlich nebeneinander haften können.

[104] Im Übrigen ist selbst der „Anscheinshersteller“ gemäß § 3 PHG primär haftpflichtig und kann sich nicht – wie ein Händler – durch Benennung des Herstellers bzw Vormannes von seiner Haftung befreien (vgl RS0111579).

[105] Die Zweitbeklagte behauptet, bloß „Lohnherstellerin“ gewesen zu sein, führt dies aber im Hinblick auf die Einordnung unter §§ 1, 3 PHG nicht näher aus. Ihrem Vorbringen kann insbesondere nicht entnommen werden, dass sie – abgesehen vom Inhalt der Gebrauchsanweisung – nicht Herrin des Produktionsprozesses gewesen wäre, und die Gebrauchsanweisung, die einerseits zumindest diesen Anschein und andererseits die Fehlerhaftigkeit des Produkts begründet, im Zeitpunkt des Inverkehrbringens durch sie noch nicht Produktbestandteil gewesen wäre (vgl § 7 Abs 2 PHG; RS0130209).

[106] Damit ist aber zu unterstellen, dass die Zweitbeklagte (Anscheins-)Endherstellerin des Produkts war.

[107] II.3.3.3 Inverkehrbringen bedeutet nach ständiger Rechtsprechung zu § 6 PHG die aufgrund eines Rechtsverhältnisses vorgenommene freiwillige Übertragung der selbständigen Gewahrsame an einem Produkt und die sonstige Einräumung des Gebrauchs daran. Wesentlich ist die willentliche Aufgabe der eigenen Verfügungsmacht über das Produkt (vgl RS0071557). Wurde ein Produkt in Vertriebsabsicht aus dem Unternehmensbereich abgegeben und einer anderen Stufe des Wirtschaftskreislaufs zugänglich gemacht, so wurde es dadurch in Verkehr gebracht (RS0071557 [T5]).

[108] Im Zusammenhang mit den Haftungsbefreiungen nach Art 7 der RL 85/374/EG ging der EuGH in seiner Entscheidung C-203/99 Veedfald von einem strengen Verständnis zu Lasten des Herstellers aus und bejahte das Inverkehrbringen eines Produkt, das nie den Herrschaftsbereich des Spitalsbetreibers verlassen hatte.

[109] Zu C-127/04 O‘Byrnehielt der EuGH im Zusammenhang mit der Verjährung und einem Vertrieb über eine 100%ige Tochtergesellschaft fest, dass ein Produkt als iSv Art 11 der RL 85/374/EWG in den Verkehr gebracht anzusehen ist, wenn es den vom Hersteller eingerichteten Prozess der Herstellung verlassen hat und in einen Prozess der Vermarktung eingetreten ist, in dem es in ge- oder verbrauchsfertigem Zustand öffentlich angeboten wird (Rn 27). Es sei Sache der nationalen Gerichte, anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalls festzustellen, ob die Verbindungen zwischen dem Hersteller und einer anderen Einrichtung so eng sind, dass der Begriff des Herstellers iSd Art 7 und 11 der Richtlinie auch diese andere Einrichtung umfasst und die Übergabe des Produkts von der einen Einrichtung an die andere nicht sein Inverkehrbringen im Sinn der genannten Bestimmungen bewirkt (Rn 30).

[110] Allein das Vorbringen, dass die Zweitbeklagte das Produkt als (nicht näher definierte) „Lohnherstellerin“ über Auftrag der – gesellschaftsrechtlich nicht verbundenen und auch nicht erkennbar in den Herstellungsprozess eingebundenen – Erstbeklagten produziert hat, genügt damit aber noch nicht für eine Haftungsbefreiung nach § 7 Abs 1 PHG mangels Inverkehrbringens. Vielmehr ist von einem (zumindest) zweimaligen Inverkehrbringen (in Österreich) im Sinn des PHG zunächst durch die Auslieferung von der Zweit- an die Erstbeklagte und sodann durch die Erstbeklagte auszugehen.

[111] II.3.3.4 Die Zweitbeklagte stützt sich in ihrer Revision schließlich auf die Rechtsansicht von Rabl (Produkthaftungsgesetz, § 5 Rz 65 f mwN). Demnach solle der Hersteller uneingeschränkt nur für Konstruktions- und Produktionsfehler bis zum Inverkehrbringen haften. Wer dem Hersteller die Darbietung des Produkts durch jeglichen Dritten ohne Einschränkung zurechne, befürworte dessen Haftung für Vorgänge, die er nicht einmal abstrakt beherrschen könne.

[112] Auch Rabl geht aber davon aus (Rz 67), dass eine Darbietung dem Hersteller zuzurechnen ist, wenn sie mit seinem Wissen vorgenommen und zumindest geduldet wurde, was hier schon mangels gegenteiliger Behauptungen für die Gebrauchsinformationzu unterstellen ist. Auch wenn die Zweitbeklagte nicht für den Inhalt der Gebrauchsinformation verantwortlich gewesen wäre und diesen nicht beim BASG ändern lassen hätte können, behauptet sie nicht, dass sie auf die Erstbeklagte als ihre Vertragspartnerin nicht einwirken hätte können, die Gebrauchsinformation regelmäßig und im Einklang mit der Fachinformation zu ändern.

[113] Wie bereits zur Revision der Erstbeklagten in Punkt I.3.5.2 und I.6.1aufgezeigt wurde, hat die Zweitbeklagte als einschlägig tätiges Unternehmen das klagsgegenständliche Produkt (irgendwann im Zeitraum Juli 2014 bis Jänner 2015) noch mit der fehlerhaften Gebrauchsinformation zum Stand Oktober 2010 hergestellt. Dass sie diesen Vorgang nicht einmal abstrakt beherrschen hätte können, erschließt sich aus ihren Ausführungen nicht.

[114] II.3.3.5 Die Zweitbeklagte kann sich somit als ([Anscheins‑]End-)Herstellerin, die das schadensstiftende Produkt in Verkehr gebracht hat, gegenüber den Klägern nicht auf eine Haftungsbefreiung nach § 7 oder § 8 Z 3 PHG berufen.

[115] Ob sie von der Erstbeklagten als (behauptetermaßen) Verursacherin des Fehlers Regress nach § 12 PHG erlangen kann, muss hier nicht geklärt werden.

[116] II.4 Schließlich argumentiert die Zweitbeklagte noch mit einem Alleinverschulden der Erstklägerin (§ 11 PHG iVm § 1304 ABGB). Dabei geht sie jedoch nicht vom festgestellten Sachverhalt aus und kann keine Fehlbeurteilung des Erstgerichts aufzeigen, das deren Mitverschulden mit einem Drittel ausmittelte.

[117] II.5 Im Ergebnis ist daher auch der Revision der Zweitbeklagten ein Erfolg zu versagen.

[118] III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 46 Abs 2 iVm § 50 ZPO.

[119] Eine kostenrechtliche Notwendigkeit iSd § 41 ZPO, § 22 RATG zur gesonderten Einbringung von zwei Revisionsbeantwortungen am selben Tag ist nicht ersichtlich (vgl RS0036159), sodass den Klägern deren Kosten nur einfach zuzusprechen waren, dafür mit einem 25%igen Streitgenossenzuschlag.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte