OGH 9Ob54/23s

OGH9Ob54/23s18.10.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Fichtenau als Vorsitzende sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Hargassner, die Hofrätin Mag. Korn und den Hofrat Dr. Annerl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J*, vertreten durch die Minihold Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei I* GmbH in Liquidation, *, vertreten durch Dr. Sacha Pajor als Nachtragsliquidator, Rechtsanwalt in Mödling, wegen 60.643,78 EUR und Feststellung (Streitwert 3.000 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 30. Juni 2023, GZ 1 R 12/23a‑83, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0090OB00054.23S.1018.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Konsumentenschutz und Produkthaftung

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Bei einer Operation des Klägers am 28. 4. 2010 wurde eine von der Beklagten im Jahr 2009 in Verkehr gebrachte Hüftprothese mit einer modularen Schenkelhalskomponente verwendet. Im November 2017 kam es aufgrund eines Konstruktionsfehlers zu einem Bruch der Schaftkomponente im Bereich des Halsteils des Implantats, wodurch ein operativer Austausch der gebrochenen Prothese vorgenommen werden musste. Der Bruch des Prothesen‑Schaftes nach wenigen Jahren ist keine normale Verschleißerscheinung und unterschreitet die zu erwartende Haltbarkeit eines Implantats.

[2] Zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens war eine erhöhte Komplikationsrate durch aufgetretene Prothesenbrüche in der Fachwelt noch nicht bekannt. Das Produkt entsprach dem damaligen Kenntnisstand der Wissenschaft und Technik. Eine erhöhte Bruchrate wurde in der Fachwelt erstmals 2009/2010 diskutiert. Die erste Arbeit, die die erhöhte Bruchrate als systemimmanent beschreibt, stammt aus dem Jahr 2010 und diese führt auch Risikofaktoren an, wie erhöhtes Körpergewicht, männliches Geschlecht und Aktivität. In dieser Arbeit wird aber nicht generell davon abgeraten, diese Prothesen‑Typen zu verwenden. Erst die Auswertung wissenschaftlicher Daten führte in der Folge dazu, dass sämtliche Fachgesellschaften den routinemäßigen Einsatz modularer Halsteile nicht mehr empfahlen, da die möglichen Vorteile die Nachteile und Komplikationen nicht rechtfertigten. Im Mai 2011 versendete die Beklagte in Entsprechung dieser Ergebnisse eine Sicherheitsinformation, in der auf eine vermehrte Bruchrate von 0,28 % hingewiesen wurde und ein freiwilliger Produktrückruf erfolgte.

[3] Der Kläger begehrte – gestützt auf (österreichisches) Produkthaftungs‑ und Schadenersatzrecht – die Zahlung von (zuletzt) 60.643,78 EUR sA und die Feststellung der Haftung für weitere Schäden aus dem Produktversagen.

[4] Das Erstgericht gab dem Leistungsbegehren im Umfang von 31.113,78 EUR sA sowie dem Feststellungsbegehren statt.

[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies die Klagebegehren ab. Eine Hüftprothese, die grundsätzlich dauerhaft und zumindest zehn bis 15 Jahre im Körper des Klägers verbleiben sollte, aber – trotz bestimmungsgemäßen Gebrauchs – bereits nach rund 7,5 Jahren gebrochen sei und eine Körperverletzung verursacht habe, habe nicht einmal für jenen Gebrauch, der im Rahmen der Zweckwidmung des Erzeugers gelegen habe, die erforderliche Sicherheit geboten, die Patienten unter Berücksichtigung aller Umstände zu erwarten berechtigt gewesen seien. Eine erhöhte Komplikationsrate durch Prothesenbrüche sei in der Fachwelt zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens im Jahr 2009 aber noch nicht bekannt gewesen und das Produkt habe dem damaligen Kenntnisstand der Wissenschaft und Technik entsprochen, sodass die Beklagte die Voraussetzungen des § 8 Z 2 Produkthaftungsgesetz (PHG) ausreichend nachgewiesen habe.

[6]

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision des Klägers ist mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[7] 1. Allein der Umstand, dass ein gleichgelagerter (oder ähnlicher) Sachverhalt vom Obersten Gerichtshof noch nicht beurteilt worden sein mag, bedeutet noch nicht, dass eine Rechtsfrage von der im § 502 Abs 1 ZPO umschriebenen Bedeutung vorliegt (RS0110702; RS0107773; RS0102181). Das gilt insbesondere dann, wenn – wie hier – die für vergleichbare Sachverhalte entwickelten Grundsätze der Rechtsprechung auf den konkreten Sachverhalt anwendbar sind und angewendet wurden (RS0107773 [T3]), der Streitfall daher also bereits mit Hilfe vorhandener Leitlinien höchstgerichtlicher Rechtsprechung gelöst werden kann und gelöst wurde (RS0042742 [T13]; RS0042656 [T48]).

[8] Letzteres ist hier der Fall.

[9] 2. Die Haftung nach dem PHG setzt einen Produktfehler voraus. Ein Produkt ist gemäß § 5 PHG fehlerhaft, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die man unter Berücksichtigung aller Umstände zu erwarten berechtigt ist. Die Haftung kann (unter anderem) durch den Nachweis ausgeschlossen werden, dass die Eigenschaften des Produkts nach dem Stand der Wissenschaft und Technik zu dem Zeitpunkt, zu dem es der in Anspruch Genommene in den Verkehr gebracht hat, nicht als Fehler erkannt werden konnte (§ 8 Z 2 PHG). Damit wird die Haftung für typische Entwicklungsrisiken ausgeschlossen (RS0071562), deren Kernelement darin liegt, dass die Gefährlichkeit einer bestimmten Produkteigenschaft beim Inverkehrbringen nicht erkennbar war (RS0107611).

[10] 2.1. Die in der Revision als entscheidend bezeichnete Rechtsfrage nach dem Verhältnis zwischen begründeten Sicherheitserwartungen des Geschädigten und dem Stand der Technik im Zeitpunkt des Inverkehrbringens, ist von der Rechtsprechung geklärt. Ausschlaggebend für das Vorliegen eines Produktfehlers sind die berechtigten Sicherheitserwartungen, ein objektiver Maßstab, dessen Konkretisierung im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände vorzunehmen ist (RS0107605). Der Standard von Wissenschaft und Technik konkretisiert die berechtigten Sicherheitserwartungen des durchschnittlichen Produktbenützers (RS0071536). Erst bei Bejahung eines Produktfehlers kann der Haftungsausschluss der mangelnden Erkennbarkeit dieses Produktfehlers nach § 8 Z 2 PHG zum Tragen kommen (3 Ob 106/05t).

[11] 2.2. Der Hinweis des Klägers auf die getroffenen Feststellungen, wonach der Bruch des Prothesenschafts nach wenigen Jahren die zu erwartende Haltbarkeit eines Implantats unterschreitet, betrifft die – von den Vorinstanzen übereinstimmend bejahte – Frage des Vorliegens eines Produktfehlers. Dadurch wird die Prüfung des Haftungsausschlusses des § 8 Z 2 PHG, ob dieser Produktfehler nach dem Stand der Wissenschaft und Technik als solcher erkannt werden konnte, erst eröffnet. Eine unrichtige Beurteilung der Voraussetzungen dieses Haftungsausschlusses durch das Berufungsgericht zeigt die Revision damit nicht auf.

[12] 3. Dem Kläger ist insofern zuzustimmen, als für den Haftungsausschluss des § 8 Z 2 PHG nach der Rechtsprechung auf den höchsten Stand der Wissenschaft und Technik abzustellen ist, wie er im Zeitpunkt des Inverkehrbringens des betreffenden Produkts existierte (RS0126150). Entgegen der Rechtsansicht des Klägers sind diese Voraussetzungen nach den getroffenen Feststellungen erfüllt.

[13] 3.1. Der Argumentation des Klägers, dass das Erstgericht im Rahmen der Beweiswürdigung festgehalten habe, dass andere modulare Systeme bereits 2006 eine erhöhte Bruchrate aufgewiesen hätten, woraus sich ergebe, dass (wohl gemeint: bekannt gewesen sei, dass) modulare Systeme (generell) eine erhöhte Bruchrate aufgewiesen hätten, hielt bereits das Berufungsgericht die weiteren auf den Ausführungen des Sachverständigen beruhenden Erwägungen des Erstgerichts im Rahmen der Beweiswürdigung entgegen, dass aus der Bruchrate anderer modularer Systeme keine Rückschlüsse auf das hier verwendete System gezogen werden könnten, weil jedes System (wegen unterschiedlicher Konstruktion und der Verwendung anderer Materialien) anders sei.

[14] 3.2. Die Auslegung der Urteilsfeststellungen im Einzelfall ist regelmäßig keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO (RS0118891). Wenn das Berufungsgericht die im Rahmen der Beweiswürdigung angestellten Erwägungen des Erstgerichts dahin interpretierte, dass im Zeitpunkt des Inverkehrbringens des gegenständlichen Implantats weder die Bruchgefährlichkeit der konkreten Konstruktion per se noch ein dahingehender Verdacht erkennbar gewesen sei, hält sich dies im Rahmen des ihm zukommenden Beurteilungsspielraums.

[15] 4. Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision des Klägers somit zurückzuweisen.

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