OGH 1Ob232/22g

OGH1Ob232/22g13.7.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofrätin und die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely-Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei F*, vertreten durch die Raffling Tenschert Lassl Griesbacher & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei Stadt Wien, vertreten durch Mag. Dr. Dirk Just, Rechtsanwalt in Wien, wegen 63.038,26 EUR sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 20. September 2022, GZ 14 R 108/22p-12, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 24. März 2022, GZ 33 Cg 36/21p-8, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0010OB00232.22G.0713.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Amtshaftung inkl. StEG

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin ist Staatsbürgerin der Islamischen Republik Iran. Sie reiste im Jahr 2013 mit einer Aufenthaltsbewilligung für Studierende („Studentenvisum“) in Österreich ein und hält sich seither in Österreich auf.

[2] Bis 25. 8. 2016 verfügte sie über Aufenthaltsbewilligungen für Studierende und vom 26. 8. 2016 bis 26. 8. 2017 über eine Aufenthaltsbewilligung als Schülerin. Am 1. 9. 2017 brachte sie beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einen Antrag auf internationalen Schutz ein. Zur Aufnahme einer Arbeitstätigkeit war sie nicht berechtigt. Im Jahr 2018 absolvierte sie einen Haarstylingkurs und machte danach die Ausbildung zur Nageldesignerin.

[3] Am 25. 6. 2018 schloss sie die Ehe mit einem österreichischen Staatsbürger (idF: Mann), der seit Oktober 2017 bei einem Unternehmen in Deutschland arbeitete und daneben bei einem Unternehmen in Niederösterreich geringfügig beschäftigt war. Darüber hinaus bezog er eine Invaliditätspension.

[4] Nach der Eheschließung erkundigte sich die Klägerin beim Arbeitsmarktservice (AMS) und erhielt die Auskunft, dass sie arbeiten dürfe, aber „es nicht funktioniere“. Da sie von einem Rechtsanwalt die Information erhalten hatte, dass sie, weil ihr Mann in Deutschland arbeite, die „Freizügigkeit in Anspruch“ nehmen könne, beantragte sie am 2. 7. 2018 bei der Magistratsabteilung (idF: MA) 35 der Beklagten die Ausstellung einer „Aufenthaltskarte für Angehörige von Österreichern“ nach § 54 iVm § 57 NAG 2005 und begründete diesen Antrag im Wesentlichen damit, dass ihr Mann das Recht seiner unionsrechtlichen Freizügigkeit ausübe. Sie habe daher einen von ihm abgeleiteten Aufenthaltstitel und aus diesem Grund Anspruch auf die Ausstellung der Aufenthaltskarte nach dem NAG. Über diesen Antrag leitete die MA 35 ein Ermittlungsverfahren ein. Am 14. 1. 2019 reichte die Klägerin ihren Reisepass nach, den sie zunächst bei der Asylbehörde vorgelegt hatte.

[5] Im Zuge des Ermittlungsverfahrens forderte die MA 35 wiederholt Nachweise über die berufliche Tätigkeit des Mannes in Deutschland, wozu sie ihn mehrmals einvernahm und prüfte, ob sein Lebensmittelpunkt in Österreich war. Unter anderem übersendete der Mann mit E‑Mail vom 23. 2. 2019 der MA 35 eine Bestätigung eines in Deutschland ansässigen Unternehmens, nach der er seit Oktober 2017 für dieses als Bauleiter in Deutschland tätig war.

[6] Mit Schreiben vom 12. 6. 2019 verständigte die MA 35 die Klägerin vom Ergebnis der Beweisaufnahme, durch die ihrer Ansicht nach die tatsächliche Inanspruchnahme der Freizügigkeit durch den Mann nicht nachgewiesen werden habe können; weder seien dessen Gewerbeschein für Deutschland oder ein Dienstvertrag bzw die Zurücklegung des Gewerbes in Österreich vorgelegt worden, noch seien Hotelrechnungen, die den Aufenthalt in Deutschland, oder Unterlagen, die die rechtmäßige Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit in Deutschland hätten belegen können, übermittelt worden. Damit habe weder der tatsächliche Lebensmittelpunkt des Mannes noch eine Niederlassung in Deutschland nachgewiesen werden können. Daher seien die nationalen Regelungen anzuwenden; die Klägerin werde daher ersucht, binnen zwei Wochen bekanntzugeben, ob sie den Antrag modifizieren wolle, ansonsten werde er abgewiesen.

[7] Das Verfahren vor der MA 35 in Wien war bis Mai 2020 nicht abgeschlossen.

[8] Bereits am 18. 2. 2019 hatte die Klägerin beim AMS Wien die Ausstellung einer (Ausnahme-)Bestätigung nach § 3 Abs 8 AuslBG beantragt. Diesen Antrag wies das AMS Wien mit Bescheid vom 11. 7. 2019 ab. Dagegen erhob die Klägerin Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, das dieser mit Erkenntnis vom 13. 2. 2020 Folge gab. Es änderte den angefochtenen Bescheid dahin ab, dass der Klägerin bestätigt wurde, dasssie vom Geltungsbereich des AuslBG ausgenommen war. Die Klägerin erhielt vom AMS Wien in weiterer Folge eine Ausnahmegenehmigung nach § 3 Abs 8 AuslBG, die es ihr gestattete, ab 1. 3. 2020 in Österreich einer (unselbständigen) Beschäftigung nachzugehen. Am 14. 4. 2020 wurde der MA 35 das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts mit E-Mail übermittelt, worauf sie der Klägerin am 16. 6. 2020 eine Aufenthaltskarte im Sinn des § 54 NAG zuschickte.

[9] Die Klägerin hatte auch überlegt, sich als Nageldesignerin selbständig zu machen, und am 19. 11. 2019 ein Gewerbe (Nageldesign) angemeldet. Auch von der Gewerbebehörde hatte sie die Mitteilung erhalten, dass es „ohne Aufenthaltskarte nicht gehe“, was sie hinnahm, ohne etwas dagegen zu unternehmen.

[10] Gestützt auf den Titel der Amtshaftung begehrt die Klägerin für den Zeitraum Jänner 2019 bis Februar 2020 63.038,26 EUR an Schadenersatz für – näher ausgeführten – Verdienstentgang aus selbständiger und unselbständiger Erwerbstätigkeit als Kosmetikerin. Sie habe am 2. 7. 2018 den Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte eingebracht und spätestens mit 4. 7. 2018 alle erforderlichen Unterlagen zur Überprüfung dieses Anspruchs vorgelegt, womit sämtliche Voraussetzungen für die Ausstellung der Aufenthaltskarte erfüllt gewesen seien. Gestehe man der MA 35 sechs Monate für die Bearbeitung des Antrags und zur Abklärung allfälliger Unklarheiten zu, hätte die Aufenthaltskarte spätestens am 4. 1. 2019 ausgestellt werden müssen. Die Organe der Beklagten hätten das Verfahren demgegenüber willkürlich geführt und sich völlig überschießend mit den von ihrem Mann vorgelegten Unterlagen und Nachweisen über den von ihm verwirklichten unionsrechtlichen Freizügigkeitstatbestand nicht zufrieden gegeben. Durch unvertretbares Organverhalten habe sie für den Zeitraum von Jänner 2019 bis einschließlich Februar 2020 den geltend gemachten Verdienstentgang erlitten, weil sie weder einer selbständigen noch unselbständigen Tätigkeit nachgehen habe können.

[11] Die Beklagte wendet ein, ihre Organe hätten das Ermittlungsverfahren über den vom Mann behaupteten Freizügigkeitstatbestand aufgrund berechtigter Zweifel an dessen Angaben vertretbar bis zum Vorliegen der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts weitergeführt. Der Klägerin wäre es auch ohne Aufenthaltskarte möglich gewesen, einer Tätigkeit am Arbeitsmarkt nachzugehen, sodass ihr aus der behaupteten Pflichtverletzung kein Schaden entstanden sei.

[12] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Erledigungsfrist von sechs Monaten könne immer erst dann zu laufen beginnen, wenn alle erforderlichen Urkunden vorlägen. Zunächst habe der Reisepass der Klägerin gefehlt. Weiters sei die im Schreiben vom 12. 6. 2019 von der MA 35 geäußerte Rechtsansicht, dass die tatsächliche Inanspruchnahme der Freizügigkeit des Mannes nicht nachgewiesen habe werden können, vertretbar gewesen. Da er über keinen Gewerbeschein für seine selbständige Tätigkeit verfügt habe, sei die Annahme der Behörde vertretbar gewesen, er habe, wenn überhaupt, in Deutschland nicht legal gearbeitet. Dass er jemals drei Monate „am Stück“ in Deutschland gelebt hätte, habe sich aus dem Akteninhalt nicht ergeben. Da die MA 35 den Antrag der Klägerin zum Zeitpunkt 12. 6. 2019 also ohnehin vertretbar hätte abweisen können, sei der Klägerin durch die über dieses Datum hinausgehende Dauer des Verfahrens – das dann schließlich doch zur Ausstellung der Aufenthaltskarte geführt habe – kein (kausaler) Nachteil entstanden.

[13] Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und ließ die ordentliche Revision nicht zu.

[14] Die Fortführung des – im Ermessen der Behörde liegenden (§ 39 AVG) – Ermittlungsverfahrens auch nach dem Vorliegen der am 3. 7. 2018 nachgereichten Unterlagen und auch noch nach den Vernehmungen des Mannes am 18. 1. 2019 und am 8. 10. 2019 liege innerhalb des behördlichen Ermessensspielraums und sei durch die im Sinne des Amtshaftungsrechts zumindest vertretbar angenommenen Zweifel begründet gewesen. Die Organe der Beklagten hätten bei pflichtgemäßer Überlegung zudem durchaus vertretbare Zweifel daran hegen dürfen, dass der Mann tatsächlich ohne Unterbrechung mehr als drei Monate lang in Deutschland aufhältig gewesen und in diesem Zeitraum als Selbständiger – nach deutscher Rechtslage legal – erwerbstätig gewesen sei. Einer Amtshaftung sei daher grundlegend der Boden entzogen.

Rechtliche Beurteilung

[15] Die von der Beklagten beantwortete Revision der Klägerin ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; sie ist im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantragsauch berechtigt.

1. Allgemein zur Amtshaftung:

[16] 1.1. Amtshaftungsansprüche setzen gemäß § 1 Abs 1 AHG ein rechtswidriges und schuldhaftes Organverhalten voraus (1 Ob 47/14i; zur Unterlassung  RS0081378 [T12]; vgl auch RS0049955 [T15]). Ganz allgemein begründet nur eine unvertretbare Rechtsanwendung Amtshaftungsansprüche (RS0049912; RS0049955; RS0049969; RS0050216). Unvertretbarkeit der Rechtsansicht und damit ein Verschulden des Organs wird in der Regel dann angenommen, wenn die Entscheidung oder Verhaltensweise des Organs von einer klaren Rechtslage oder einer ständigen Rechtsprechung ohne sorgfältige Überlegung der Gründe abweicht (RS0049951 [T4]; RS0049912).

[17] 1.2. Ein Organverhalten durch Unterlassung ist nach ständiger Rechtsprechung dann rechtswidrig, wenn und soweit eine Handlungspflicht bestand und pflichtgemäßes Handeln den Schadenseintritt verhindert hätte (RS0081378 [T3]). Voraussetzung für eine Haftung des Rechtsträgers ist zudem, dass die von Amts wegen zu treffende Maßnahme schuldhaft nicht gesetzt wurde (1 Ob 128/15b mwN; vgl RS0081378 [T12]).

[18] 1.3. Ein haftungsbegründendes Fehlverhalten kann auch in der Unterlassung einer straffen Verfahrensführung liegen, das zu einer überlangen Verfahrensdauer führt (1 Ob 129/17b = RS0081378 [T15]).

2. Zu den Voraussetzungen für die Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 54 iVm § 57 NAG (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz, BGBl I 2005/100) und zurVerfahrensdauer:

[19] 2.1. Nach § 54 Abs 1 NAG sind Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§ 51 NAG) sind und die in § 52 Abs 1 Z 1 bis Z 3 NAG genannten Voraussetzungen erfüllen, zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt. Ihnen ist auf Antrag eine Aufenthaltskarte für die Dauer von fünf Jahren oder für die geplante kürzere Aufenthaltsdauer auszustellen. Dieser Antrag ist innerhalb von vier Monaten ab Einreise zu stellen.

[20] „§ 52 Abs 1 Z 1 bis Z 3 NAG lauten:

(1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§§ 51 und 53a) sind, zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie

1. Ehegatte oder eingetragener Partner sind;

2. Verwandter des EWR-Bürgers, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader absteigender Linie bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres und darüber hinaus sind, sofern ihnen von diesen Unterhalt tatsächlich gewährt wird;

3. Verwandter des EWR-Bürgers, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader aufsteigender Linie sind, sofern ihnen von diesen Unterhalt tatsächlich gewährt wird; [...]“

 

[21] Für Angehörige von Österreichern gelten die §§ 52 bis 56 NAG sinngemäß, sofern der Österreicher sein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in einem anderen EWR-Mitgliedsstaat in Anspruch genommen hat und im Anschluss an diesen Aufenthalt nach Österreich nicht bloß vorübergehend zurückkehrt (§ 57 NAG).

[22] Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 57 NAG ist, dass der österreichische Staatsangehörige (die „Ankerperson“), von dem ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht des (drittstaatsangehörigen) Angehörigen abgeleitet werden soll, sein unionsrechtlich garantiertes Freizügigkeitsrecht (nach der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004) ausgeübt hat (Abermann in Abermann/Czech/Kind/Peyrl, NAG, § 57 NAG Rz 5; VwGH Ra 2015/22/0114, VwGH 2007/18/0395; vgl auch VwGH 2009/21/0386).

[23] 2.2. Maßgeblich ist im vorliegenden Fall Art 7 Abs 1 der Richtlinie 2004/38/EG („Freizügigkeitsrichtlinie“ oder „Unionsbürgerrichtlinie“). Diese Bestimmung hat folgenden Wortlaut:

„Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

a) Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder

b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder

c) – bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und

– über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder

d) ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.“

 

[24] 2.3. Wurde ein Angehörigenverhältnis zwischen einem Drittstaatsangehörigen und einem Österreicher („Ankerperson“) begründet, wie hier durch die Verehelichung der Klägerin, kann sich der Drittstaatsangehörige zufolge § 57 NAG auf die Richtlinie 2004/38/EG berufen, wenn der Österreicher von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Wenn der Drittstaatsangehörige die Voraussetzungen nach § 52 Abs 1 Z 1 bis Z 3 NAG erfüllt, ist er zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt. Darüber ist eine Aufenthaltskarte auszustellen, die nach § 9 Abs 1 Z 2 NAG der Dokumentation dieses unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts dient.

[25] 2.3.1. Seit der Entscheidung 2009/21/0386 vertritt der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass das Recht auf Freizügigkeit nicht nur das Recht eines EWR‑Bürgers, sich in Österreich niederzulassen, sondern auch die Ausübung aller Freiheiten nach dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Art 18 und Art 39 ff EG; nunmehr Art 21 und Art 45 ff AEUV) umfasst, was entsprechend auf Österreicher umzulegen ist, wenn sie eines ihrer Rechte gemäß diesen Bestimmungen außerhalb Österreichs ausüben. Die Voraussetzung, dass eine österreichische Ankerperson von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, ist nicht nur im Fall der Niederlassung in Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit erfüllt, sondern erfasst etwa auch die Freizügigkeit in Ausübung der Dienstleistungsfreiheit (für viele Ra 2017/09/0034).

[26] 2.3.2. Nach der verwaltungsrechtlichen Judikatur zu § 57 NAG können auch solche Angehörige eine abgeleitete unionsrechtliche Berechtigung in Anspruch nehmen, die unabhängig vom Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat gelangt sind und erst dort die Angehörigeneigenschaft erworben oder das Familienleben mit diesem Unionsbürger begründet haben. Unionsrechtlich gesehen kommt einem zeitlichen Zusammenhang zwischen der Inanspruchnahme der Freizügigkeit durch den Unionsbürger und der Begründung des Angehörigenverhältnisses keine Relevanz zu. Daher ist es auch nicht von rechtlicher Bedeutung, wann der österreichische Staatsbürger begonnen hat, seine unionsrechtliche Freizügigkeit auszuüben, wann er nach Österreich zurückgekehrt ist und wann das Angehörigenverhältnis mit dem Drittstaatsangehörigen begonnen wurde (VwGH 2011/22/0163 mwN; VwGH 2011/22/0003).

[27] 2.3.3. Wird die Freizügigkeit auf die Arbeitnehmereigenschaft (oder die Tätigkeit als Selbständiger) im Sinn des Art 7 Abs 1 lit a der Freizügigkeitsrichtlinie (2004/38/EG ) gestützt, ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs keine Mindestaufenthaltsdauer von drei Monaten erforderlich (VwGH 2011/22/0007; Ra 2016/22/0051; zuletzt etwa Ra 2020/21/0343 und Ro 2021/22/0013 mwN); vgl zur Drei-Monatsregel auch Abermann in Abermann/Czech/Kind/Peyrl, NAG2 [2019], § 57 NAG Rz 10). Bereits eine ernsthafte, objektiv nicht aussichtslose Arbeitssuche begründet nach der genannten Rechtsprechung die Arbeitnehmereigenschaft im Sinn von Art 7 Abs 1 lit a der Freizügigkeitsrichtlinie; eine mehr als dreimonatige Aufenthaltsdauer ist für die Inanspruchnahme der unionsrechtlichen Freizügigkeit nur dann erforderlich, wenn das Aufenthaltsrecht nicht auf die Arbeitnehmereigenschaft, sondern auf Art 7 Abs 1 lit b der Freizügigkeitsrichtlinie gestützt wird (VwGH 2010/22/0129; Ra 2020/21/0343 mwN).

[28] 2.3.4. Zwar billigt der Verwaltungsgerichtshof in seiner ständigen Judikatur nicht schon jeder auch noch so geringfügigen Ausübung des Freizügigkeitsrechts im Rahmen des § 57 NAG Relevanz zu. Für die Anwendung dieser Bestimmung genügt es aber, dass die österreichische Ankerperson mit einer gewissen Nachhaltigkeit von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat (für viele Ra 2020/21/0343; Ra 2017/09/0034). Dazu stellt er – auchmit Bezug auf § 57 NAG – auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitnehmerbegriff ab, die eine „tatsächliche und echte Tätigkeit“, die keinen so geringen Umfang hat, dass es sich um eine „völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit“ handelt, verlangt. Erforderlich ist daher eine „tatsächliche und effektive“ Ausübung. Diese „Bagatellschranke“ ist etwa schon dann überschritten, wenn die österreichische Ankerperson über einige Monate hinweg im EU-Ausland zwei Tage in der Woche für jeweils zweieinhalb Stunden Deutschunterricht erteilt; ob es sich dabei um eine „angemeldete“ Erwerbstätigkeit handelt, ist für die Beurteilung der Freizügigkeit im Sinn des § 57 NAG ohne Relevanz (VwGH 2009/21/0386).

[29] 2.3.5. Zusammengefasst folgt aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, dass für die Beurteilung der Freizügigkeit im Sinn des § 57 NAG lediglich darauf abzustellen ist, ob die österreichische Ankerperson zu irgend einem Zeitpunkt eine berufliche Tätigkeit gemäß Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 2004/38/EG in einem anderen Mitgliedsstaat mit einer gewissen Nachhaltigkeit ausgeübt hat. Ob diese Tätigkeit rechtmäßig („angemeldet“) oder ohne Unterbrechung über zumindest drei Monate hindurch ausgeübt wurde, ist demgegenüber ebenso unerheblich wie die Frage, ob die Ankerperson ihren Lebensmittelpunkt verlagerte, weil bereits die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit nach Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 2004/38/EG in einem anderen Mitgliedsstaat – etwa im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit – bei Aufrechterhaltung des Wohnsitzes in Österreich einen Freizügigkeitstatbestand begründet.

2.4. Für das hier zu beurteilende Verfahren vor der MA 35 ergibt sich:

[30] 2.4.1. Die von der Klägerin beantragte Aufenthaltskarte nach § 54 Abs 1 NAG dokumentiert die Berechtigung von Angehörigen eines EWR-Bürgers zum Aufenthalt von mehr als drei Monaten und in Verbindung mit der Richtlinie 2004/38/EG zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder als Selbständiger. Dazu hat sie sich darauf berufen, dass ihr Mann das Recht seiner unionsrechtlichen Freizügigkeit ausübe, weil er einer selbständigen Tätigkeit in Deutschland nachgehe. Dafür wäre nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs lediglich zu prüfen gewesen, ob der Mann der Klägerin irgendwann von der Freizügigkeit nach Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 2004/38/EG Gebrauch gemacht hat, was nur dann nicht angenommen hätte werden können, wenn er in Deutschland entweder überhaupt keine Tätigkeit nach dieser Bestimmung oder lediglich eine solche, die in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs herausgearbeitete Bagatellgrenze nicht überschritt, ausgeübt hätte. Unerheblich ist entgegen der Ansicht der Vorinstanzen für die Inanspruchnahme dieses Freizügigkeitstatbestands demgegenüber, ob sich der Mann ohne Unterbrechung („in einem Stück“) für die Dauer von drei Monaten zum Zwecke der Ausübung einer Tätigkeit als Selbständiger in Deutschland aufgehalten oder ob er eine solche Tätigkeit nach den dort geltenden Vorschriften rechtmäßig ausgeübt hat.

[31] 2.4.2. Der Mann hat mit E-Mail vom 23. 2. 2019 eine Bestätigung seines deutschen Partnerunternehmens vom 15. 1. 2018 vorgelegt, nach der er seit Oktober 2017 für dieses Unternehmen als Bauleiter tätig war. Aus der Verständigung der Klägerin über das Ergebnis der Beweisaufnahme vom 12. 6. 2019 ergibt sich kein Hinweis, dass die Organe der Beklagten am Inhalt dieses Schreibens und damit an der tatsächlichen Ausübung der darin genannten Tätigkeit grundsätzlich gezweifelt hätten. Ihre Ansicht, dass die Inanspruchnahme der Freizügigkeit durch den Mann nicht nachgewiesen wurde, beruhte vielmehr darauf, dass die Rechtmäßigkeit der Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung durch den Mann in Deutschland und dessen tatsächlicher Lebensmittelpunkt nicht belegt worden sei. Diese Auffassung widerspricht jedoch der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs.

[32] 2.4.3. Ist der Sachverhalt hinreichend geklärt, ist die Behörde nach § 39 Abs 2 letzter Satz AVG nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, von weiteren Erhebungen Abstand zu nehmen (vgl VwGH 89/09/0157; 86/07/0091; Hengstschläger/Leeb, AVG § 39 Rz 40 [Stand 1. 4. 2021, rdb.at]). Das korrespondiert mit der in § 73 Abs 1 AVG normierten Verpflichtung, über Anträge der Parteien ohne unnötigen Aufschub, spätestens aber sechs Monate nach deren Einlangen zu entscheiden.

[33] 2.4.4. Zwar beginnt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die Entscheidungsfrist gemäß § 73 Abs 1 AVG grundsätzlich erst mit dem Einlangen des verbesserten Antrags – also etwa mit der Vorlage der zur Vervollständigung des Antrags dienenden Unterlagen – zu laufen (Hengstschläger/Leeb,AVG § 73 Rz 52 [Stand 1. 3. 2018, rdb.at] mwN). Da die Behörde nach § 73 Abs 1 AVG verpflichtet ist, über Anbringen der Parteien ohne ungebührliche Verzögerung (ohne unnötigen Aufschub) zu entscheiden, legt diese Bestimmung aber eine Höchstfrist fest, aus der nicht abgeleitet werden kann, dass sie der Behörde jedenfalls zur Gänze zur Verfügung steht. Eine säumige Behörde kann sich daher bei einer unnötigen Verzögerung innerhalb der sechs Monate nicht mit dem Hinweis exkulpieren, es sei ihr jedenfalls diese Zeitspanne zur Verfügung gestanden (Hengstschläger/Leeb, AVG § 73 Rz 46 [Stand 1. 3. 2018, rdb.at] mwN).

[34] Nichts anderes kann gelten, wenn ein Parteienanbringen Anlass zur Einleitung eines Verbesserungsverfahrens (§ 13 Abs 3 AVG) gibt. Auch in einem solchen Fall trifft die Behörde die Verpflichtung, nach Einlangen des verbesserten Antrags (Nachreichen der fehlenden Unterlagen) ohne unnötigen Aufschub zu entscheiden, sodass ihr nicht ausnahmslos die Maximalfrist von sechs Monaten ab der erfolgten Verbesserung zur Verfügung steht. Es ist vielmehr im Einzelfall zu prüfen, ob die Behörde vor Ablauf der Frist des § 73 Abs 1 AVG die Entscheidung unnötigerweise aufgeschoben hat (vgl 1 Ob 292/03b zu der mit BGBl 2013/87 aufgehobenen [wortgleichen] Bestimmung des § 410 Abs 2 ASVG).

[35] 2.4.5. Fallbezogen ergibt sich daher: Die in der am 23. 2. 2019 übermittelten Bestätigung beschriebene Tätigkeit des Mannes in Deutschland überschritt unzweifelhaft die in ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur Bagatellgrenze vertretenen Kriterien. Keinesfalls kann davon gesprochen werden, dass die österreichische Ankerperson der Klägerin bloß in einem ganz geringfügigen, nicht relevanten Ausmaß von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätte. Da zu diesem Zeitpunkt auch der von der Behörde abverlangte Reisepass der Klägerin vorlag, waren alle Voraussetzungen für eine (positive) Entscheidung über ihren Antrag gegeben. Ab diesem Zeitpunkt wären die Organe der Beklagten verpflichtet gewesen, über den (mit Ende Februar 2019 verbesserten) Antrag der Klägerin ohne unnötigen Aufschub (und nicht erst mit Ablauf der Maximalfrist des § 73 Abs 1 AVG) zu entscheiden. In Anbetracht der bisherigen Verfahrensdauer und der eindeutigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs kann ihnen dafür eine Frist von mehr als zwei Monaten nicht zugebilligt werden.

[36] Die Weiterführung des Ermittlungsverfahrens und die damit unterbliebene Entscheidung über den 1. 5. 2019 hinaus beruhte demgegenüber, weil von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abweichend, auf einer unvertretbaren Rechtsansicht von Organen der Beklagten. Die Ansicht der Vorinstanzen zur Vertretbarkeit der Verfahrensdauer wird vom erkennenden Senat daher nicht geteilt. Für die Zeit ab 1. 5. 2019 ist vielmehr von einer schuldhaften Säumnis auszugehen.

3. Zur Kausalität der Pflichtverletzung:

[37] 3.1. Im Amtshaftungsprozess muss der Geschädigte nicht bloß die Rechtsverletzung durch das Organ behaupten und beweisen, sondern auch, dass ihm der geltend gemachte Schaden ohne diese Rechtsverletzung nicht erwachsen wäre (1 Ob 85/18h; RS0022469). Den Geschädigten trifft daher auch im Amtshaftungsverfahren grundsätzlich die Beweislast für den Kausalzusammenhang zwischen dem haftungsbegründenden Ereignis und dem eingetretenen Schaden (RS0022469 [T2]).

[38] 3.2. Die Klägerin hat – sinngemäß – geltend gemacht, sie hätte einer unselbständigen oder selbständigen Tätigkeit nachgehen können, wenn ihr die Aufenthaltskarte nach § 54 Abs 1 NAG früher ausgestellt worden wäre. Damit hat sie die Kausalität des pflichtwidrigen Unterlassensvon Organen der Beklagten für den begehrten Verdienstentgang behauptet. Im fortgesetzten Verfahren ist daher festzustellen, ob das tatsächlich zutrifft. Für die Kausalität einer Unterlassung gilt das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (RS0022900).

3.3. Bei der Prüfung der Kausalität ist im Zusammenhang mit der unselbständigen Beschäftigung von folgender Rechtslage auszugehen:

[39] 3.3.1. Nach § 1 Abs 2 AuslBG ist dieses Gesetz auf Ausländer, die aufgrund eines Rechtsakts der Europäischen Union Arbeitnehmerfreizügigkeit genießen, sowie auf Ehegatten österreichischer Staatsbürger, die zur Niederlassung berechtigt sind, nicht anzuwenden (§ 1 Abs 2 lit l und lit m AuslBG). Darüber hat die regionale Geschäftsstelle des AMS Ausländern, die (hier relevant) gemäß dieser Bestimmung vom Geltungsbereich diesesGesetzes ausgenommen sind, auf deren Antrag eine Bestätigung auszustellen (§ 3 Abs 8 AuslBG). Im Verfahren über die Ausstellung einer solchen Bestätigung sind die Voraussetzungen vom AMS selbständig zu prüfen; eine Bindungswirkung an eine Aufenthaltskarte gemäß § 54 Abs 1 NAG besteht nicht (VwGH Ra 2015/09/0137).

[40] 3.3.2. Bereits das Berufungsgericht hat daher zutreffend aufgezeigt, dass die Aufenthaltskarte nach § 54 Abs 1 NAG bloß deklarative Bedeutung hat und keine konstitutive Zuerkennung eines unionsrechtlichen Aufenthaltstitels ist. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, nach der die Aufenthaltskarte die Berechtigung für Angehörige eines EWR-Bürgers zum Aufenthalt und damit iVm Art 23 der Richtlinie 2004/38/EG auch zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger bloß bescheinigt. Das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht (und damit auch die Berechtigung zur Aufnahme einer unselbständigen Arbeit) ergibt sich in diesem Fall nicht aus einer nationalen gesetzlichen Berechtigung, sondern Kraft unmittelbar anwendbaren Unionsrechts (VwGH Ra 2015/09/0137; Ro 2019/21/004; Ro 2020/09/0011 ua).

[41] 3.3.3. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs muss sich der Arbeitgeber von der Zulässigkeit der Beschäftigung eines Ausländers grundsätzlich vor Arbeitsantritt überzeugen (VwGH Ra 2015/09/004 mwN). Dazu dient in erster Linie die Bestätigung nach § 3 Abs 8 AuslBG. Ob die Klägerin einer unselbständigen Tätigkeit nachgehen hätte können und den behaupteten Verdienstentgang nicht erlitten hätte, wenn ihr von den Organen der Beklagten pflichtgemäß eine Aufenthaltskarte gemäß § 54 NAG ausgestellt worden wäre – sei es, weil sich potentielle Arbeitgeber damit zufrieden gegeben hätten, sei es, weil sie die Bestätigung nach § 3 Abs 8 AuslBG früher bekommen hätte –, ist als Frage der Kausalität auf tatsächlicher Ebene zu klären. In diese Richtung deutet zwar die Feststellung, die Klägerin habe beim AMS nachgefragt und die Auskunft erhalten, dass sie arbeiten dürfe, aber „es nicht funktioniere“. Letztlich fehlen aber gesicherte Feststellungen, um die von der Klägerin behaupteten Ansprüche prüfen zu können.

3.4. Im Zusammenhang mit einer selbständigen Beschäftigung ist bei der Prüfung der Kausalität von folgender Rechtslage auszugehen:

[42] 3.4.1. Der Gesetzgeber hat Art 23 der Richtlinie 2004/38/EG mit § 14 Abs 3 GewO umgesetzt. Diese Bestimmung richtet sich an Familienangehörige von EWR‑Staatsangehörigen (Werinos in Ennöckl/Raschauer/Wessely, GewO § 14 Rz 1 und Rz 5; Stolzlechner/Müller/Seider/Vogelsang/Höllbacher, GewO4 [2020] § 14 GewO 1994 Rz 2 und Rz 23). Danach sind aufenthaltsberechtigte Familienangehörige eines EWR‑Bürgers unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer berechtigt, ein Gewerbe auszuüben. Auch insoweit folgt das Aufenthaltsrecht aus dem unmittelbar anwendbaren Unionsrecht. Die Klägerin als Ehegattin einer österreichischen Ankerperson ist Familienangehörige nach § 14 Abs 3 Z 1 GewO.

[43] 3.4.2. Die Aufenthaltskarte bescheinigt auch in diesem Fall bloß das Aufenthaltsrecht und im Zusammenhang mit Art 23 der Richtlinie 2004/38/EG die Berechtigung zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit als Selbständiger (vgl VwGH Ra 2015/09/0137). Die Gewerbebehörde hätte daher – wie das AMS – selbständig und unabhängig vom Vorliegen einer Aufenthaltskarte zu prüfen gehabt, ob die Voraussetzungen nach § 14 Abs 3 GewO vorliegen; eine Bindung an eine Aufenthaltskarte bestand auch für sie nicht.

[44] 3.4.3. Beim Gewerbe „Modellieren von Fingernägeln (Nagelstudio)“ handelt es sich nach § 162 Abs 1 Z 13 GewO 1994 um kein reglementiertes Gewerbe. Da bei der Klägerin die Voraussetzungen des § 14 Abs 3 GewO vorlagen, wäresie ab dem Zeitpunkt ihrer Gewerbeanmeldung berechtigt gewesen, dieses Gewerbe auszuüben. Die Gewerbebehörde wäre bei Nachweis einer Aufenthaltsberechtigung nach § 340 Abs 1 GewO verpflichtet gewesen, die Klägerin längstens binnen drei Monaten in das Gewerbeinformationssystem Austria (GISA) einzutragen und durch Übermittlung eines Auszugs aus dem GISA von der Eintragung zu verständigen.

[45] 3.4.4. Es steht fest, dass die Klägerin von der Gewerbebehörde Ende 2019 die Mitteilung erhielt, dass es „ohne Aufenthaltskarte nicht gehe“, und dass sie – was ihr keinesfalls vorgeworfen werden kann – diese Auskunft hinnahm. Es ist daher zu prüfen, ob die Klägerin dann, wenn sie die Aufenthaltskarte erhalten hätte, eine selbständige Tätigkeit aufgenommen hätte, etwa deswegen, weil sie dann eine positive Antwort der Gewerbebehörde erhalten hätte. Auch dabei handelt es sich wiederum um eine Frage der Kausalität der Pflichtverletzung, zu der Feststellungen zu treffen sind.

[46] 3.5. Sollte der Klägerin der Beweis gelingen, dass sie bei rechtzeitiger Ausstellung der Aufenthaltskarte eine selbständige oder unselbständige Tätigkeit aufgenommen hätte, hätte ihr die Beklagte den dadurch erzielten Verdienst zu ersetzen. Auch für dessen Höhe trifft die Klägerin die Behauptungs- und Beweislast.

[47] 4. Nur zur Klarstellung ist festzuhalten, dass bei Nachweis der Kausalität kein Zweifel am Rechtswidrigkeitszusammenhang bestünde. Die Pflicht der Behörde zur Ausstellung der Aufenthaltskarte nach § 54 NAG hat den Zweck, dem Inhaber eine Urkunde in die Hand zu geben, die zwar andere Behörden nicht bindet, aber dennoch das Wahrnehmen der aus der materiellen Aufenthaltsberechtigung folgenden Rechte erleichtert. Ein Verdienstentgang, der mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten wäre, hätte der Aufenthaltsberechtigte mit der Aufenthaltskarte seine Berechtigung zur Aufnahme einer selbständigen oder unselbständigen Tätigkeit nachweisen können, steht daher im Rechtswidrigkeitszusammenhang mit der verletzten Pflicht.

[48] 5. Diese Erwägungen führen zur Zurückverweisung in die erste Instanz. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren nach Erörterung der Rechtslage und Entgegennahme von entsprechendem Vorbringen Feststellungen zur Frage zu treffen haben, ob und gegebenenfalls welchen Verdienstentgang die Klägerin dadurch erlitten hat, dass die Organe der Beklagten die Aufenthaltskarte nicht bis 1. 5. 2019 ausgestellt haben.

[49] 6. Die diese Entscheidung tragenden Erwägungen können wie folgt zusammengefasst werden:

Die Aufenthaltskarte nach § 54 NAG bescheinigt das unionsrechtlich begründete Aufenthaltsrecht und im Zusammenhalt mit Art 23 der Richtlinie 2004/38/EG die Berechtigung zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger. Wird sie schuldhaft nicht oder verspätet ausgestellt, haftet der Rechtsträger für den dadurch verursachten Verdienstentgang.

 

[50] 7. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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