Normen
EURallg
NAG 2005 §11 Abs2 Z3
NAG 2005 §52 idF 2011/I/038
NAG 2005 §54 idF 2017/I/145
NAG 2005 §57 idF 2011/I/038
NAG 2005 §57 idF 2017/I/145
VwGG §42 Abs2 Z1
12010E045 AEUV Art45 Abs4 lita
12010E045 AEUV Art45 Abs4 litb
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 lita
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 litb
52009DC0313 Umsetzung Unionsbürger-RL
62019CJ0710 G. M. A. VORAB
62020CC0247 Commissioners for Her Majesty's Revenue and Customs Schlussantrag
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RO2021220013.J00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Gambias, beantragte am 24. Mai 2018 im Hinblick auf seine Ehe mit MH, einer österreichischen Staatsbürgerin, die Ausstellung einer Aufenthaltskarte durch den Landeshauptmann von Wien.
2 Mit Schriftsatz vom 20. November 2020 erhob der Revisionswerber Säumnisbeschwerde.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht den Antrag vom 24. Mai 2018 gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 iVm. § 54 Abs. 1 iVm. § 57 Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG erklärte das Verwaltungsgericht für zulässig.
4 Zusammengefasst führte das Verwaltungsgericht aus, MH habe sich ihren Angaben zufolge gemeinsam mit dem Revisionswerber von 1. Dezember 2017 bis 14. Mai 2018 mit kurzen Unterbrechungen in Italien (Sardinien) aufgehalten. Sie habe eine „Wohnsitzbestätigung“ der Gemeinde Sassari vorgelegt, wonach sie in dieser Gemeinde an einer näher genannten Adresse seit 7. Februar 2018 wohnhaft gewesen sei. Von 12. November 2017 bis 12. November 2018 sei sie Mitglied der Vereinigung W. Farms gewesen. Die über W. Farms abgeschlossene Krankenversicherung habe nur auf „den Bauernhöfen bzw. Ausbildungszentren“ gegolten, wobei MH angegeben habe, nicht auf „den Bauernhöfen“ gearbeitet zu haben. Eine von MH mit der G abgeschlossene Krankenversicherung sei mit € 75.000,‑‑ beschränkt und enthalte weitgehende Ausschlüsse, wie etwa für akute Krankenhausbehandlungen aufgrund von Vorerkrankungen und für Geisteskrankheiten.
5 In ihrer Einvernahme vor der belangten Behörde am 14. Mai 2019 habe die Ehegattin des Revisionswerbers angegeben, sie habe sich, da „ihre Firma“ schließe, etwas Neues suchen wollen. Daher habe sie den Entschluss gefasst, wegen der Projekte der W. Farms nach Italien zu gehen. In erster Linie sei dies aber wegen ihres Ehemannes erfolgt, der in Italien gelebt habe. Der Gedanke sei gewesen, wenn alles gut laufe, zu versuchen, ein solches Projekt selbst „auf die Beine zu stellen“ und in Italien Fuß zu fassen. Die Leute in Sardinien seien aber nicht sehr kooperativ gewesen und das Geld habe langfristig nicht für die Projekte gereicht. Sie sei nicht auf Jobsuche gewesen, sondern habe sich nur den Projekten gewidmet. Sie habe selbständig und nicht mehr „angestellt“ tätig sein wollen. Anfangs sei keine Niederlassung beabsichtigt gewesen; sie habe sich Sardinien nur anschauen und „testen“ wollen, ob das Zusammenleben mit dem Revisionswerber funktioniere. Im Dezember 2017 habe sie beschlossen, wenn alles gut laufe, sich dauerhaft in Italien niederzulassen. Es gebe keine Unterlagen zu den Projekten, da sie nicht bei den Projekten gearbeitet habe, sondern „Recherchen“ geführt bzw. mit den Bauern Kontakt aufgenommen und „recherchiert“ habe, wo sie arbeiten könne und wolle. Als sie im Mai 2018 erfahren habe, dass „das“ mit den Projekten nicht funktioniere, habe sie sich entschieden, nach Österreich zurückzukehren. Weiters sei im Anhang zu einer Stellungnahme vom 11. November 2019 angegeben worden, als Vorbereitung für die beabsichtigte Tätigkeit (selbständig oder als Dienstnehmerin) sei die Mitgliedschaft in der Vereinigung W. Farms beantragt worden, einer Vereinigung von Biobauern, die freiwilligen Helfern Kost und Logis sowie Unterricht/Mitarbeit an diversen Bio‑Projekten böten. Es sei geplant gewesen, „hier“ sowohl Unterkunft als auch Einblick in die Projekte zu erhalten.
6 Hinsichtlich ihres Aufenthalts in Italien habe die Ehegattin des Revisionswerbers diverse Unterlagen vorgelegt. Bis 31. Dezember 2017 sei sie in Österreich bei dem S Unternehmen beschäftigt gewesen. Ab 23. Oktober 2017 sei sie ihren Angaben zufolge von diesem Unternehmen freigestellt worden. Zunächst habe sie kein Arbeitslosengeld beantragt, weil sie sich im Ausland aufgehalten habe. Zwischen 14. und 30. Jänner 2018 sowie zwischen 25. März 2018 und 7. April 2018 habe sie sich zum Zweck von Arztbesuchen und wegen der Beantragung eines Ehefähigkeitszeugnisses in Wien aufgehalten. Um in den Genuss einer Krankenversicherung für Arztbesuche zu gelangen und um verschiedene verschriebene Medikamente zu erwerben, habe sie sich auf Anraten einer Mitarbeiterin des Arbeitsmarktservice arbeitslos gemeldet und von 23. bis 30. Jänner 2018 sowie von 26. März bis 6. April 2018 Arbeitslosengeld bezogen. Nach ihrer Rückkehr aus Italien nach Österreich habe sie von 15. Mai bis 2. September 2018 erneut Arbeitslosengeld bezogen. Seit 3. September 2018 sei sie (in Österreich) bei der R KG als Angestellte beschäftigt. Der Revisionswerber sei im Bundesgebiet bislang keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen.
7 Die Ehegattin des Revisionswerbers verfüge über ein Konto, das am 4. April 2018 ein Guthaben in der Höhe von € 28.756,89 aufgewiesen habe. Am 22. Dezember 2017 sei auf dieses Konto seitens ihres ehemaligen Arbeitgebers, des S Unternehmens, eine Überweisung in der Höhe von € 25.925,75 erfolgt. Weiters seien Überweisungen von Abfertigungsanwartschaften am 2. März 2018 ersichtlich.
8 Seit 16. Mai 2018 sei der Revisionswerber in der Wohnung seiner Ehegattin in Wien gemeldet, in der diese seit 27. September 2006 durchgehend über eine Meldung verfüge.
9 Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht u.a. aus, die Feststellungen zum Aufenthalt und zur Tätigkeit der Ehegattin des Revisionswerbers in Italien ergäben sich aus den vorgelegten Reiseunterlagen, aus deren Angaben gegenüber der belangten Behörde sowie aus den schriftlichen Eingaben.
10 In seiner rechtlichen Beurteilung legte das Verwaltungsgericht zunächst dar, aus welchen Gründen die Säumnisbeschwerde als zulässig und berechtigt zu erachten sei.
11 Hinsichtlich der beantragten Aufenthaltskarte führte das Verwaltungsgericht aus, die Voraussetzungen nach § 54 iVm. § 57 NAG seien nicht erfüllt, weil die Ehegattin des Revisionswerbers nicht von ihrem Recht auf Freizügigkeit für mehr als drei Monate Gebrauch gemacht habe.
12 Im Rahmen seiner Prüfung eines auf Art. 7 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG gestützten Aufenthaltsrechtes der Ehegattin in Italien wiederholte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen die in Rn. 5 dargestellten Textpassagen, in denen es das Vorbringen der Ehegattin des Revisionswerbers im Anhang zu einer Stellungnahme vom 11. November 2019 sowie in einer Einvernahme vor der belangten Behörde am 14. Mai 2019 betreffend den in Rede stehenden Aufenthalt in Italien wiedergab, und fügte schlussfolgernd hinzu, dass ihr somit eine Eigenschaft als Arbeitnehmerin im Sinn des Art. 7 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG bzw. des § 51 Abs. 1 Z 1 NAG nicht zugekommen sei. Die Mitgliedschaft in einer Freiwilligenorganisation könne keinesfalls mit einer ernsthaften Suche nach einem Arbeitsplatz, einem ernsthaften und nachhaltigen Bemühen um eine Arbeitsstelle, das objektiv nicht aussichtslos sei, gleichgesetzt werden.
13 Für die Frage, ob die „Recherchetätigkeiten“ der Ehegattin des Revisionswerbers (Hinweis auf den die Niederschrift vom 14. Mai 2019 betreffenden Aktenbestandteil) als Tätigkeit einer Selbständigen im Sinn von Art. 7 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG bzw. von § 51 Abs. 1 Z 1 NAG zu qualifizieren sei, sei auf den unionsrechtlichen Begriff der Niederlassungs‑ und Dienstleistungsfreiheit abzustellen. Gemäß Art. 49 AEUV umfasse die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und die Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften im Sinn des Art. 54 Abs. 2 AEUV, nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen. Von der Ehegattin des Revisionswerbers sei in Italien kein Unternehmen gegründet worden. Es sei auch nicht hervorgekommen, dass sie eine Eintragung in ein Berufsregister, eine Mitgliedschaft in einen Biobauernverband oder eine etwaig nach italienischem Recht vorgesehene Registrierung/Bewilligung für die Vermarktung oder den Verkauf von Bioprodukten beantragt habe. Zudem biete ihr Vorbringen keine Anhaltspunkte dafür, dass sie die in Italien angestrebte selbständige Tätigkeit bereits in Österreich ausgeübt hätte, sodass die Ernsthaftigkeit des Vorhabens in Zweifel habe gezogen werden können und jedenfalls nicht von einer „effektiven“ Ausübung der Niederlassungsfreiheit auszugehen sei.
14 Im Hinblick auf Art. 7 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2004/38/EG hielt das Verwaltungsgericht fest, dass die Ehegattin des Revisionswerbers aus näher dargestellten Gründen und insbesondere in Anbetracht der hg. Rechtsprechung zu § 11 Abs. 2 Z 3 NAG über keinen umfassenden Krankenversicherungsschutz in Italien verfügt habe, sodass sie ihren Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat auch nicht auf Art. 7 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2004/38/EG habe stützen können. Betreffend eine private Krankenversicherung der Ehegattin des Revisionswerbers führte es aus, diese weise eine „in einer gesetzlichen Pflichtversicherung oder freiwilligen Versicherung nach dem ASVG nicht vorhandene“ betragsmäßige Beschränkung der Versicherungsleistungen sowie weitreichende Risikoausschlüsse auf und sei daher nicht als umfassender Krankenversicherungsschutz zu erachten.
15 Die Zulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht dahin, dass Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Auslegung des Begriffs des „umfassenden Krankenversicherungsschutzes“ u.a. im Sinn des Art. 7 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2004/38/EG fehle.
16 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 25. Juni 2021, E 2232/2021‑5, ablehnte und sie in der Folge über nachträglichen Antrag mit Beschluss vom 8. Juli 2021, E 2232/2021‑7, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
17 Die vorliegende Revision beruft sich betreffend ihre Zulässigkeit zum einen auf die Zulassungsbegründung des Verwaltungsgerichts und macht zum anderen geltend, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen; diese sei insbesondere zur Klärung des sachverhaltsbezogenen Vorbringens des Revisionswerbers erforderlich gewesen, demzufolge seine Ehegattin in Italien auch die Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit beabsichtigt habe und ihr sohin ein Aufenthaltsrecht als Arbeitssuchende zugekommen sei.
18 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
19 Im Hinblick auf die Zulässigkeitsausführungen des Verwaltungsgerichts sowie der Revision erweist sich diese als zulässig; sie ist schon angesichts des zu Art. 7 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG erstatteten Vorbringens des Revisionswerbers berechtigt.
20 Die maßgeblichen Bestimmungen des Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetzes, BGBl. I Nr. 100/2005 (§§ 52 und 57 in der Fassung BGBl. I Nr. 38/2011; § 54 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017), lauten:
„Aufenthaltsrecht für Angehörige von EWR‑Bürgern
§ 52. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR‑Bürger, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR‑Bürgern (§§ 51 und 53a) sind, zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie
1. Ehegatte oder eingetragener Partner sind;
...
Aufenthaltskarten für Angehörige eines EWR‑Bürgers
§ 54. (1) Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR‑Bürgern (§ 51) sind und die in § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen erfüllen, sind zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt. Ihnen ist auf Antrag eine Aufenthaltskarte für die Dauer von fünf Jahren oder für die geplante kürzere Aufenthaltsdauer auszustellen. Dieser Antrag ist innerhalb von vier Monaten ab Einreise zu stellen. § 1 Abs. 2 Z 1 gilt nicht.
...
Schweizer Bürger und deren Angehörige sowie Angehörige von Österreichern
§ 57. Die Bestimmungen der §§ 51 bis 56 finden auch auf Schweizer Bürger, die das ihnen auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG‑Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in Anspruch genommen haben, und deren Angehörige Anwendung. Für Angehörige von Österreichern gelten die Bestimmungen der §§ 52 bis 56 sinngemäß, sofern der Österreicher sein unionsrechtliches oder das ihm auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG‑Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in einem anderen EWR‑Mitgliedstaat oder in der Schweiz in Anspruch genommen hat und im Anschluss an diesen Aufenthalt nach Österreich nicht bloß vorübergehend zurückkehrt.“
21 Gemäß Art. 45 Abs. 4 AEUV gibt die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ‑ vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen ‑ den Arbeitnehmern (u.a.) das Recht, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben (lit. a) und sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen (lit. b).
22 Die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Richtlinie 2004/38/EG ) lautet auszugsweise:
„KAPITEL III
AUFENTHALTSRECHT
...
Artikel 7
Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate
(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er
a) Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder
...
Artikel 14
Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts
...
4) Abweichend von den Absätzen 1 und 2 und unbeschadet der Bestimmungen des Kapitels VI darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden, wenn
a) die Unionsbürger Arbeitnehmer oder Selbstständige sind oder
b) die Unionsbürger in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen. In diesem Fall dürfen die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nicht ausgewiesen werden, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden.
...“
23 Der Abweisung des Antrags des Revisionswerbers auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 iVm. § 57 zweiter Satz NAG legte das Verwaltungsgericht zugrunde, die Ehegattin des Revisionswerbers, eine österreichische Staatsbürgerin, habe sich von Anfang Dezember 2017 bis Mitte Mai 2018 mit kurzfristigen Unterbrechungen in Italien aufgehalten. Allerdings habe sie dort nach Auffassung des Verwaltungsgerichts von ihrem unionsrechtlichen Freizügigkeitsrecht im Sinn von Art. 7 Abs. 1 lit. a und b der Richtlinie 2004/38/EG nicht Gebrauch gemacht.
24 Die Ausübung des Freizügigkeitsrechts setzt ‑ wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführte ‑ eine gewisse Nachhaltigkeit voraus. Wenn die Freizügigkeit auf die Arbeitnehmereigenschaft im Sinn des Art. 7 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG gestützt wird, ist aber keine Mindestaufenthaltsdauer von drei Monaten zu fordern; weiters begründet auch schon eine ernsthafte, objektiv nicht aussichtslose Arbeitssuche die Arbeitnehmereigenschaft. Eine mehr als dreimonatige Aufenthaltsdauer ist nur dann für die Inanspruchnahme der unionsrechtlichen Freizügigkeit erforderlich, wenn das Aufenthaltsrecht nicht auf Art. 7 Abs. 1 lit. a, sondern auf Art. 7 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2004/38/EG gestützt wird (vgl. zu alldem VwGH 21.12.2021, Ra 2020/21/0343, Rn. 23, mwN).
25 Zu Art. 7 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG und Art. 45 Abs. 4 lit. a und b AEUV führt der Revisionswerber aus, das Verwaltungsgericht habe das Aufenthaltsrecht seiner Ehegattin in Italien als Arbeitssuchende verkannt. Zudem sei im Hinblick auf das dazu erstattete sachverhaltsbezogene Vorbringen des Revisionswerbers die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unerlässlich gewesen. Bereits damit zeigt die Revision eine inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses auf:
26 In der vom Verwaltungsgericht wiedergegebenen Stellungnahme vom 11. November 2019 wurde ausgeführt, die Ehegattin des Revisionswerbers habe in Italien zur Vorbereitung für die von ihr beabsichtigte Tätigkeit als Selbständige oder als Dienstnehmerin die Mitgliedschaft in der Vereinigung W. Farms beantragt, einer Vereinigung von Biobauern, die freiwilligen Helfern Kost und Logis sowie Unterricht bzw. Mitarbeit an diversen Projekten biete. Es sei geplant gewesen, „hier“ sowohl Unterkunft als auch Einblick in die Projekte zu erhalten.
27 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist derjenige, der tatsächlich eine Arbeit sucht, als „Arbeitnehmer“ zu qualifizieren. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schließt das Recht der Angehörigen der Mitgliedstaaten ein, sich im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten frei zu bewegen und sich dort aufzuhalten, um eine Stelle zu suchen (vgl. etwa EuGH 17.12.2020, G.M.A., C‑710/19 , Rn. 24 und 26).
28 Angesichts des Vorbringens, die Ehegattin des Revisionswerbers habe sich in Italien aufgehalten, weil sie dort (u.a.) die Ausübung einer unselbständigen Tätigkeit beabsichtigt habe und diese durch eine Mitgliedschaft bei der W. Farms habe vorbereiten wollen, war das Verwaltungsgericht zwecks Ermittlung des rechtlich relevanten Sachverhaltes gehalten, eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Keinesfalls durfte sich das Verwaltungsgericht im vorliegenden (Säumnis‑)Beschwerdeverfahren ‑ überdies ohne zu den behaupteten Erwerbsabsichten der Ehegattin des Revisionswerbers in Italien im Indikativ gehaltene konkrete Feststellungen zu treffen (vgl. dazu etwa VwGH 25.3.2022, Ra 2020/08/0163, Rn. 16) ‑ damit begnügen, den Ausführungen in der Stellungnahme vom 11. November 2019 die Angaben der Ehegattin des Revisionswerbers im Zuge ihrer behördlichen Einvernahme vom 14. Mai 2019 „textlich“ gegenüberzustellen.
29 Wenn das Verwaltungsgericht in seiner weiteren Begründung ausschließlich auf die Mitgliedschaft der Ehegattin des Revisionswerbers in einer „Freiwilligenorganisation“ (gemeint der W. Farms) Bezug nahm und diese, da sie mit einer ernsthaften Suche nach einem Arbeitsplatz, einem ernsthaften und nachhaltigen Bemühen um eine Arbeitsstelle, das objektiv nicht aussichtslos sei, nicht gleichzusetzten sei, als im Lichte von Art. 7 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG nicht maßgeblich erachtete, verkürzte es das dazu erstattete Parteienvorbringen, ohne Ermittlungsschritte zu den tatsächlichen Erwerbsabsichten der Ehegattin im Rahmen einer mündlichen Verhandlung gesetzt und ohne dazu Feststellungen getroffen zu haben (siehe oben).
30 Weiters lässt sich mangels konkreter verwaltungsgerichtlicher Feststellungen zu der Ausgestaltung einer Tätigkeit bei der W. Farms (laut dem Parteienvorbringen: gegen Ausbildung, Kost und Logis) nicht beurteilen, ob eine solche Tätigkeit, wenn sie aufgenommen worden wäre, entsprechend dem Revisionsvorbringen als unselbständige Erwerbstätigkeit im Sinn der maßgeblichen unionsrechtlichen Bestimmungen zu qualifizieren gewesen (vgl. EuGH 3.7.1986, Lawrie‑Blum, C‑66/85 , Rn. 18 f; 13.11.2003, Morgenbesser, C‑313/01 , Rn. 60; 7.9.2004, Trojani, C‑456/02 , Rn. 20 ff) und infolge allfälliger ernsthafter, objektiv nicht aussichtsloser Bemühungen, diese „Stelle“ zu erlangen, daher ein Aufenthaltsrecht der Ehegattin als Arbeitssuchende zu bejahen gewesen wäre.
31 Darüber hinaus sei zur Klarstellung hinzugefügt, dass sich ein Aufenthaltsrecht der Ehegattin des Revisionswerbers in Italien nicht nach dem im angefochtenen Erkenntnis mehrfach erwähnten § 51 Abs. 1 Z 1 NAG richtete.
32 Da das Verwaltungsgericht aus den genannten Gründen die gemäß § 54 iVm. § 57 NAG sowie Art. 7 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG erforderlichen Feststellungen unterließ, belastete es das angefochtene Erkenntnis mit ‑ prävalierender ‑ inhaltlicher Rechtswidrigkeit.
33 Was das vom Revisionswerber ins Treffen geführte Aufenthaltsrecht seiner Ehegattin nach Art. 7 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2004/38/EG und die im angefochtenen Erkenntnis angestellten Überlegungen zum Fehlen eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes für die Ehegattin des Revisionswerbers während ihres Aufenthalts in Italien anbelangt, sei in erster Linie auf das jüngst ergangene hg. Erkenntnis VwGH 21.6.2022, Ro 2021/22/0001, hingewiesen:
34 Demnach unterscheiden sich die jeweiligen Formulierungen („alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz“ in § 11 Abs. 2 Z 3 NAG bzw. „umfassenden Krankenversicherungsschutz“ in Art. 7 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2004/38/EG ) deutlich voneinander und kann die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 11 Abs. 2 Z 3 NAG schon aus diesem Grund nicht unbesehen auf die Regelungen betreffend die Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen übertragen werden (VwGH 21.6.2022, Ro 2021/22/0001, Rn. 13; siehe auch die Schlussanträge des Generalanwalts vom 30. September 2021 in der Rechtssache VI gegen Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs, C‑247/20 , Rn. 61).
35 Die Europäische Kommission hat zudem in ihrer Mitteilung zur Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG vom 2. Juli 2009, KOM(2009) 313 endgültig, unter Pkt. 2.3.2. „Krankenversicherungsschutz“, die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips als geboten erachtet (dazu sowie zur Maßgeblichkeit dieser Mitteilung als Auslegungshilfe vgl. VwGH 21.6.2022, Ro 2021/22/0001, Rn. 15).
36 Ferner besteht kein Zweifel daran, dass der vom Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat abgeschlossene Krankenversicherungsschutz rechtens jedenfalls nicht deshalb als unzureichend erachtet werden kann, weil dieser Versicherungsschutz der gesetzlichen Krankenversicherung jenes Mitgliedstaates nicht vollumfänglich entspricht, über dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger verfügt.
37 Folglich ist der Revision darin beizupflichten, dass das vom Verwaltungsgericht Wien in Anbetracht der von der Ehegattin des Revisionswerbers vorgelegten Polizze einer privaten Krankenversicherung ins Treffen geführte Argument, demzufolge diese private Versicherung eine „in einer gesetzlichen Pflichtversicherung oder freiwilligen Versicherung nach dem ASVG“ nicht vorgesehene betragsmäßige Beschränkung der Versicherungsleistungen aufweise, und u.a. aus diesem Grund ein umfassender Versicherungsschutz in Italien zu verneinen sei, unzutreffend ist.
38 Da sich das angefochtene Erkenntnis schon aus den oben dargestellten Erwägungen zu dem nach Art. 7 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG zu prüfenden Aufenthaltsrecht der Ehegattin des Revisionswerbers als inhaltlich rechtswidrig erweist, war es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
39 Die in der Revision beantragte Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 VwGG unterbleiben.
40 Der Ausspruch über den Kostenersatz stützt sich auf §§ 47 ff iVm. der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 28. Juli 2022
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