VwGH 2011/22/0007

VwGH2011/22/000718.10.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der M, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 6. Dezember 2010, Zl. 155.539/2-III/4/10, betreffend Aufenthaltskarte, zu Recht erkannt:

Normen

32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 lita;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 litb;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 litc;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 litd;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs2;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7;
NAG 2005 §54;
NAG 2005 §57;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 lita;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 litb;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 litc;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 litd;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs2;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7;
NAG 2005 §54;
NAG 2005 §57;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den am 24. Juli 2009 eingebrachten Antrag der Beschwerdeführerin, einer ukrainischen Staatsangehörigen, auf Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte zwecks Familienzusammenführung mit ihrem die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden Ehemann gemäß § 54 iVm § 57 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.

Zur Begründung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass die Beschwerdeführerin am 27. Mai 2004 illegal eingereist sei und am 1. Juni 2004 einen Asylantrag gestellt habe. Dieser Antrag sei in Verbindung mit einer Ausweisung am 22. Oktober 2008 rechtskräftig abgewiesen worden. Am 17. Juni 2009 habe die Beschwerdeführerin den österreichischen Staatsbürger G geheiratet und in der Folge die Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte beantragt. Dieser Antrag sei ab Inkrafttreten der Novelle BGBl. I Nr. 122/2009 als Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte zu werten.

Die Beschwerdeführerin habe vorgebracht, ihr Ehemann hätte auftrags seiner früheren Ehefrau für eine bestimmte Stiftung in V gearbeitet. Arbeitsort wäre u.a. auch Frankreich gewesen. Damit hätte G sein Recht auf Freizügigkeit im Sinn des § 57 NAG in Anspruch genommen. Dessen vormalige Ehefrau habe am 9. August 2003 bestätigt, dass G sie als Dolmetscher und Privatsekretär aus geschäftlichen Gründen auf ihrer Reise in Südfrankreich hätte begleiten müssen. Deren Aufenthalt wäre zwischen dem 1. August und dem 15. September 2003 das Hotel S R C in M gewesen. G sei seit 22. Dezember 1999 durchgehend mit Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet. Er habe seine frühere Ehefrau in der Zeit vom 1. August 2003 bis 15. September 2003 aus geschäftlichen Gründen als Dolmetscher und Privatsekretär auf deren Reise nach Südfrankreich begleitet. Hauptsächlich sei er jedoch in Österreich bei verschiedenen Firmen einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Der genannte Besuch in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union zwecks Begleitung seiner damaligen Ehefrau als Dolmetscher und Privatsekretär könne nicht als echte und tatsächliche Ausübung des Freizügigkeitsrechts angesehen werden. Die Beschwerdeführerin habe somit nicht darzutun vermocht, dass ihr Ehemann das Recht auf gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit in Anspruch genommen habe. Die Beschwerdeführerin sei daher die Ehe "mit einem nicht freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger" eingegangen und falle daher nicht unter § 54 NAG.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Eingangs ist festzuhalten, dass im Blick auf den maßgeblichen Zeitpunkt der Erlassung des zweitinstanzlichen Bescheides mit 6. Dezember 2010 die Rechtslage des NAG in der Fassung BGBl. I Nr. 135/2009 maßgeblich ist und sich nachfolgende Zitate auf diese Rechtslage beziehen.

Die von der Beschwerdeführerin begehrte Aufenthaltskarte nach § 54 NAG wäre ihr dann auszustellen, wenn ihr österreichischer Ehemann sein unionsrechtliches oder das ihm auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in einem anderen EWR-Mitgliedstaat oder in der Schweiz in Anspruch genommen hätte und im Anschluss an diesen Aufenthalt nach Österreich nicht bloß vorübergehend zurückgekehrt wäre.

Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom 23. Februar 2012, 2010/22/0011, ausführlich dargelegt, dass § 57 NAG in der genannten Fassung auf die Inanspruchnahme des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts nach Art. 7 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG (in der Folge: Richtlinie) abstellt. Es muss somit der österreichische Staatsbürger sein Recht nach Art. 7 der Richtlinie ausgeübt haben, damit seinen Familienangehörigen das Recht zusteht, sich für mehr als drei Monate oder auf Dauer im Bundesgebiet aufzuhalten.

Artikel 7 der Richtlinie lautet:

"Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate

(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

a) Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder

b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder

c) - bei einer privaten oder öffentlichen

Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und

- über einen umfassenden

Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder

d) ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstaben a, b oder c erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.

(2) Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a, b oder c erfüllt.

…"

Es steht fest, dass G seine damalige Ehefrau auf einer Geschäftsreise begleitet hat. Nach dem diesbezüglich unbestrittenen Vorbringen in der Berufung hatte die vormalige Ehefrau die dänische Staatsbürgerschaft. Zweifelsfrei hat sie somit durch die berufliche Tätigkeit in der Schweiz und in Frankreich ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen. Ihrem Ehemann kam dadurch ein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt nach Art. 7 Abs. 1 lit. d der Richtlinie zu.

Bei der nunmehr vorzunehmenden Prüfung, ob er im Sinn des § 57 NAG sein Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen hat, ist jedoch nicht auf ein abgeleitetes, sondern auf ein originäres Freizügigkeitsrecht abzustellen. Dies ergibt sich aus der klaren Textierung des Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie. Demnach gilt das abgeleitete Aufenthaltsrecht für jene Familienangehörigen eines Unionsbürgers, sofern dieser die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 lit. a, b oder c erfüllt, nicht jedoch für Familienangehörige eines Unionsbürgers, der (lediglich) selbst als Familienangehöriger einen Unionsbürger im Sinn des Art. 7 Abs. 1 lit. d begleitet hat.

Dass der Ehemann der Beschwerdeführerin jedoch damals sein Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate im Sinn des Art. 7 Abs. 1 lit. a, b oder c der Richtlinie in Anspruch genommen hat, lässt sich aus dem Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht ableiten. Die Beschwerde ist zwar insofern im Recht, als der Nachweis eines Mindestaufenthalts von drei Monaten nicht erforderlich ist (vgl. das bereits zitierte Erkenntnis 2010/22/0011). Es wurde aber nicht behauptet und nachgewiesen, dass - soweit fallbezogen relevant - der Ehemann der Beschwerdeführerin (damals) Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat (Schweiz oder Frankreich) gewesen ist.

Kein Dienstverhältnis bzw. arbeitnehmerähnliches Verhältnis ist nämlich bei Verwandten (und Ehepartnern) anzunehmen, wenn es sich lediglich um Gefälligkeitshandlungen handelt, die ihr gesamtes Gepräge, insbesondere nach Art, Umfang und Zeitdauer von den familiären Bindungen zwischen Angehörigen erhalten. Dabei sind die gesamten Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu beachten, insbesondere Art, Umfang und Zeitdauer der verrichteten Tätigkeiten, die Stärke der tatsächlichen verwandtschaftlichen Beziehungen sowie die Motive des Betroffenen. Ob die Tätigkeit wie ein Beschäftigter oder als "Familiendienst" verrichtet wird, entscheidet sich somit nach dem Gesamtbild der den Einzelfall prägenden Umstände. Wesentlich ist dabei der Verwandtschaftsgrad. Je enger die Beziehungen sind, umso mehr spricht dafür, dass die Tätigkeit durch diese Beziehung geprägt ist und nicht wie von einem Beschäftigten verrichtet wird. In Verbindung mit dem Verwandtschaftsgrad sind außerdem Art und Umfang der Tätigkeit maßgebend. Es ist das Gesamtbild der ausgeführten oder beabsichtigten Verrichtungen zu beurteilen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 25. März 2010, 2009/09/0140, unter Hinweis auf das Urteil des OGH vom 18. Juli 2002, 10 ObS 196/02z).

Angesichts dieser Überlegungen lässt sich aus dem Berufungsvorbringen "der Gatte half bei der Arbeit" ein Beschäftigungsverhältnis zwischen G und seiner damaligen Ehefrau ebenso wenig ableiten wie aus dem Beschwerdevorbringen über ein "in der Schweiz und in Frankreich geteiltes Leben und Arbeiten". Das Antragsvorbringen, G habe auftrags seiner früheren Ehefrau gearbeitet, ist nach dem Gesamtbild nicht geeignet, ein von G eingegangenes Beschäftigungsverhältnis in einem Mitgliedstaat der Union außerhalb Österreichs aufzuzeigen, wobei auch der kurzen Dauer des gemeinsamen Aufenthalts anlässlich der Tätigkeit im Ausland von nur sechs Wochen Bedeutung zukommt.

Somit ist die belangte Behörde im Recht, dass sie die Inanspruchnahme der unionsrechtlichen Freizügigkeit durch den Ehemann der Beschwerdeführerin verneint hat.

Daran ändert auch eine Bedachtnahme auf das von der Beschwerdeführerin zitierte Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 11. Dezember 2007, C-291/05 "Eind", nichts. In diesem Urteil stellte der EuGH darauf ab, dass der Unionsbürger nach der Ausübung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis in einem anderen Mitgliedstaat in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zurückkehrt. Erst dann hat er seine Freizügigkeit in Anspruch genommen und kann dem drittstaatszugehörigen Familienangehörigen ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht verschaffen. Wie erwähnt kann aber vorliegend von einer "Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis" nicht die Rede sein.

Dennoch ist der angefochtene Bescheid mit Rechtswidrigkeit behaftet. Der Beschwerdefall gleicht nämlich vor dem Hintergrund der Ausführungen des EuGH im Urteil vom 15. November 2011, C- 256/11 "Dereci u.a.", darin, dass die belangte Behörde in Verkennung der durch den EuGH nunmehr klargestellten Rechtslage nicht anhand des unionsrechtlich vorgegebenen Maßstabes geprüft hat, ob der vorliegende Fall einen solchen Ausnahmefall, wonach es das Unionsrecht gebietet, dem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt zu gewähren, darstellt, jenem Fall, der dem hg. Erkenntnis vom 19. Jänner 2012, 2011/22/0309, zu Grunde lag. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird sohin insoweit auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.

Demnach war der angefochtene Bescheid wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 18. Oktober 2012

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