European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0040OB00163.23H.1022.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Konsumentenschutz und Produkthaftung
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
I. Dem Rekurs der beklagten Partei wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.599,90 EUR (darin 266,65 EUR an USt) bestimmten Kosten der Rekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
II. Dem Rekurs der klagenden Partei wird teilweise Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst zu Recht erkannt, sodass die Entscheidung lautet:
1. Die Klagsforderung besteht mit 8.950 EUR zu Recht.
2. Die Gegenforderung besteht nicht zu Recht.
3. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 8.950 EUR samt 4% Zinsen ab 20.05.2020 Zug um Zug gegen Rückgabe des VW Passat CC 2.0 TDI, Fahrzeugidentifikationsnummer * zu zahlen und die mit EUR 371,50 (halbe Pauschalgebühr) bestimmten Prozesskosten zu Handen der Klagevertreterin zu ersetzen.
4. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei weitere 11.000 EUR samt 4% Zinsen ab 20.05.2020 zu zahlen, wird abgewiesen.
5. Die Eventualbegehren,
a. die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 6.000 EUR samt 4% Zinsen p.a. zu bezahlen; und
b. es werde mit Wirkung zwischen der klagenden Partei und der beklagten Partei festgestellt, dass die beklagte Partei für jeden Schaden haftet, welcher der klagenden Partei aus dem Kauf des Fahrzeuges VW Passat CC 2.0 TDI, Fahrzeugidentifikationsnummer * und dem darin verbauten Dieselmotor Typ EA189 zukünftig entsteht, werden abgewiesen.“
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 587,46 EUR bestimmten Kosten für das Berufungsverfahren sowie das Verfahren über den Rekurs der klagenden Partei zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Die Klägerin kaufte am 1. 9. 2014 einen von der Beklagten hergestellten Pkw der Type VW Passat mit einem Dieselmotor der Type EA189 als Gebrauchtwagen mit einem Kilometerstand von rund 70.000 km um 19.950 EUR.
[2] Die Beklagte hatte den Motor selbst entwickelt und ihn mit einer Software ausgestattet, die erkannte, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand der Zulassungsbehörde befand. In diesem Fall wurde der NOx‑optimierte Modus 1 mit einer höheren Abgasrückführrate aktiviert. Im normalen Straßenverkehr fuhr das Fahrzeug im Modus 0 mit einer geringeren Abgasrückführrate, bei der der vorgeschriebene Grenzwert für den NOx‑Ausstoß von 180 Milligramm je Kilometer nicht eingehalten werden konnte.
[3] Die Typengenehmigung des Fahrzeugs der Klägerin erfolgte 2009.
[4] Die Generalimporteurin teilte in Abstimmung mit der Beklagten der Klägerin mit Schreiben vom Oktober 2015 zur „aktuelle[n] Diskussion über Dieselmotoren […] in den Medien“ mit, dass an ihrem Fahrzeug „Nacharbeiten“ erforderlich sein würden und kündigte weitere Informationen an, sobald eine mit den Behörden abgestimmte technische Lösung zur Verfügung stehe, für „die [Firmenschlagwort der Beklagten] selbstverständlich die Kosten übernehmen“ werde.
[5] Im Auftrag der Beklagten übermittelte die Generalimporteurin der Klägerin weitere Schreiben vom 12. 12. 2016, vom 23. 6. 2017 und vom 17. 1. 2018. Diese lauteten auszugsweise:
„Wir bedauern sehr, dass Ihr Vertrauen in die Marke [Firmenschlagwort der Beklagten] derzeit auf die Probe gestellt wird, und möchten uns zunächst in aller Form bei Ihnen entschuldigen. Es tut uns leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass auch Ihr Fahrzeug von der Stickstoffproblematik betroffen ist.
Das deutsche Kraftfahrt-Bundesamt hat als zuständige Typengenehmigungsbehörde bestätigt, dass die Umprogrammierung keine Auswirkungen auf Kraftstoffverbrauchswerte, CO2‑Emissionen und Motorisierung hat und die Grenzwerte für die Schadstoffemissionen eingehalten werden. Die technische Lösung für Ihr nachfolgend angeführtes Fahrzeug steht nun zur Verfügung: […]Bitte setzen Sie sich mit einem [Firmenschlagwort der Beklagten]‑Betrieb in Verbindung, damit ein Termin vereinbart werden kann.“
[6] Die Klägerin ließ das Update nie durchführen.
[7] Durch das Update würde die Abgasrückführungs-Rate bei Temperaturen zwischen +10 Grad Celsius und ca +45 Grad Celsius nicht mehr reduziert. Schon 2008 vertrieb die Beklagte jedoch in den USA Fahrzeuge mit einem Niederdruck‑AGR, mit dem die Abgasreinigung in einem noch größeren Temperaturbereich möglich war. In Österreich liegt der Tagestiefstwert für die Außentemperatur an zumindest 200 Tagen pro Jahr unter 10 Grad Celsius, an zumindest 100 Tagen pro Jahr liegt sogar der Tageshöchstwert unter 10 Grad Celsius.
[8] Das Fahrzeug der Klägerin wies bei Schluss der Verhandlung erster Instanz einen Kilometerstand von rund 194.500, einen Händlereinkaufspreis von 7.500 EUR und einen Händlerverkaufspreis von 8.950 EUR auf.
[9] Es kann nicht festgestellt werden, welche Gesamtlaufleistung das Fahrzeug der Klägerin erzielen wird.
[10] Die Klägerin begehrte mit Klage vom 4. 5. 2020 aus dem Titel des Schadenersatzes die Rückabwicklung des Kaufvertrags ohne Anrechnung eines Nutzungsentgelts, hilfsweise eine Preisminderung von 6.000 EUR sowie die Feststellung der Haftung für künftige Schäden. Machthaber der Beklagten hätten Zulassungsbehörde und Autokäufer aus Profitstreben vorsätzlich getäuscht. Die Anrechnung eines Nutzungsentgelts unter diesen Umständen würde dem Effektivitätsgrundsatz widersprechen, weil die Beklagte dadurch mit einem redlichen Autohersteller gleichgestellt wurde. Das Software‑Update hätte nur eine unzulässige Abschalteinrichtung durch eine andere ersetzt. Das Verbesserungsanbot sei ein Anerkenntnis und schließe die Verjährung aus.
[11] Die Beklagte wandte – soweit in dritter Instanz noch relevant – ein, dass allfällige Ansprüche bei Klagseinbringung am 4. 5. 2020 schon verjährt gewesen seien, weil die Generalimporteurin alle betroffenen Kunden schon mit Schreiben vom 30. 9. 2015 informiert habe. Sie wandte 12.500 EUR an Benutzungsentgelt als Gegenforderung ein. Dieses errechne sich als Differenz zwischen dem Kaufpreis von 19.950 EUR und dem aktuellen Händlereinkaufspreis von 7.500 EUR.
[12] Das Erstgericht sah die Klagsforderung mit dem Klagsbetrag von 19.950,80 EUR und die Gegenforderung mit 11.000 EUR als berechtigt an. Es sprach der Klägerin deshalb 8.950 EUR Zug um Zug gegen Rückgabe des Pkws zu. Die Eventualbegehren wies es ab.
[13] Die Schreiben zur „Stickoxidproblematik“ in den Jahren 2015 und 2016 hätten der Klägerin nicht vermittelt, dass die Nichtdurchführung der „technischen Lösung“ zum Widerruf der Typengenehmigung führen könnte, und hätten daher die dreijährige Verjährungsfrist noch nicht in Gang gesetzt. Außerdem seien die Ankündigungen einer technischen Lösung in den Schreiben vom 12. 12. 2016, 23. 6. 2017 und 17. 1. 2018 als deklarative Anerkenntnisse zu werten und würden eine allenfalls schon begonnene Verjährungsfrist unterbrechen.
[14] Das Benützungsentgelt sei zu bemessen, indem vom Kaufpreis der Händlerverkaufspreis abgezogen werde. Würde – wie von der Beklagten gefordert – nur der Händlereinkaufspreis abgezogen, wäre die beklagte Schädigerin bereichert, weil sie bei Wiederverkauf des Pkw auf dem Gebrauchtmarkt den höheren Händlerverkaufspreis erzielen könne.
[15] Das Berufungsgericht hob die Entscheidung wegen sekundärer Feststellungsmängel auf. Die Ansprüche der Klägerin seien nicht verjährt, weil erst seit der Entscheidung des EuGH vom 14. 7. 2022 feststehe, dass auch das angebotene Software‑Update die Rechtsbeständigkeit der Typengenehmigung nicht sichern könne. Es würden jedoch Feststellungen fehlen, ob die Abgaswerte für die Klägerin bei der Kaufentscheidung von Relevanz gewesen seien.
[16] Es ließ den Rekurs an den Obersten Gerichtshof zu, weil die Verjährungsfrage von verschiedenen Senaten unterschiedlich gelöst werde.
[17] Der Rekurs der Klägerin will eine sofortige gänzliche Klagsstattgebung erreichen, jener der Beklagten zielt auf eine vollständige Klagsabweisung ab.
[18] Die Parteien beantragen jeweils die Zurück‑ bzw Abweisung des Rekurses der Gegenseite.
Rechtliche Beurteilung
[19] Beide Rekurse sind zur Klarstellung der Rechtslage zulässig. Der Rekurse der Beklagten ist nicht, jener der Klägerin teilweise berechtigt.
I. Zum Rekurs der Beklagten
[20] 1. Die Beklagte argumentiert, dass das Informationsschreiben vom Oktober 2015 die Verjährungsfrist nach § 1489 ABGB unabhängig davon in Gang gesetzt habe, ob die Klägerin die Rechtsfolgen der Umschaltlogik selbst habe einschätzen können. Die Verjährungsfrist bleibe anders als bei Gewährleistungsansprüchen durch Verbesserungsversuche unberührt. Als Herstellerin sei die Beklagte der Klägerin allenfalls zu deliktischem Schadenersatz, nicht aber zu Gewährleistungsansprüchen verpflichtet.
[21] 1.1. Die kurze Verjährungsfrist des § 1489 Satz 1 ABGB für Schadenersatzansprüche beginnt erst zu laufen, wenn dem Geschädigten sowohl der Schaden und die Person des Schädigers als auch die Schadensursache bekannt werden (RS0034951). Kenntnis der Schadenshöhe ist nicht Voraussetzung für den Verjährungsbeginn (RS0034440 [T1]). Die bloße Möglichkeit zur Ermittlung maßgeblicher Tatsachen ersetzt deren Bekanntsein an sich zwar nicht (RS0034366 [T6, T20]), der Geschädigte darf sich aber auch nicht einfach passiv verhalten (RS0065360; RS0034374 [T15]). Wenn er die für die erfolgreiche Anspruchsverfolgung notwendigen Voraussetzungen ohne nennenswerte Mühe in Erfahrung bringen kann, gilt die Kenntnisnahme schon als in dem Zeitpunkt erlangt, in dem sie ihm bei angemessener Erkundigung zuteil geworden wäre (RS0034327 [T1]; RS0034335; RS0034366 [T20]).
[22] Im vorliegenden Fall kommt es auf die Kenntnisnahmemöglichkeit der Klägerin aber aus anderen Gründen nicht an:
[23] 1.2. Nach § 1497 ABGB wird die Verjährung unter anderem dann unterbrochen, „wenn derjenige, welcher sich auf dieselbe berufen will, vor dem Verlaufe der Verjährungszeit [...] ausdrücklich oder stillschweigend das Recht des andern anerkannt hat“. Nach Rechtsprechung und Literatur ist – schon aufgrund der verba legalia „vor dem Verlaufe der Verjährungszeit“ – die Unterbrechung einer bereits abgelaufenen Verjährungsfrist nicht denkbar; die „Unterbrechung“ setzt begrifflich immer eine noch im Gang befindliche Verjährung voraus. Gleichwohl kann eine Schuld aber auch nach Eintritt der Verjährung anerkannt werden (RS0032401; RS0032386). Ein solches Anerkenntnis beinhaltet in der Regel den Verzicht auf die Erhebung der Verjährungseinrede. Der Verzicht ist auch stillschweigend möglich (8 Ob 40/23z zu Rz 8 und 9 mwN).
[24] Die Entscheidung 8 Ob 40/23z beschäftigte sich konkret mit Gewährleistungsansprüchen aus dem Dieselskandal. Die Möglichkeit von Anerkenntnis und Verjährungsverzicht besteht jedoch für jede Art von Schuld, also auch für deliktische Schadenersatzansprüche (vgl den in der Entscheidung zitierten RS0032386).
[25] 1.3. Nach den Feststellungen im vorliegenden Fall ließ die Beklagte der Klägerin 2015 zusagen, dass sie eine Lösung für den unzulässigen Zustand des Pkws finden werde und bot der Klägerin in den Jahren 2016, 2017 und 2018 konkret an, das inzwischen entwickelte Software‑Update zu installieren.
[26] Lässt die Herstellerin die Endabnehmer ihrer Fahrzeuge (sogar mehrfach) zur Durchführung eines von ihr entwickelten Software‑Updates auffordern, so können die Endabnehmer dies nach der Vertrauenstheorie nur als konkludentes deklaratives Anerkenntnis einer Pflicht zur Behebung des vom Kraftfahrt‑Bundesamt beanstandeten Zustands verstehen (vgl 8 Ob 40/23z, Rz 10 – hier zu einem Anerkenntnis der Gewährleistungspflicht bei Update‑Aufforderungen des Autokäufers durch den Händler).
[27] 1.4. Richtig zeigt die Beklagte zwar auf, dass der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 6 Ob 160/21d nicht von der Unterbrechung der schadenersatzrechtlichen Verjährungsfrist des § 1489 ABGB durch ein Anerkenntnis ausging. Begründet wurde dies aber ausdrücklich damit, dass der damalige Kläger kein Vorbringen dazu erstattet hatte (Rz 11).
[28] Anders als in dem damaligen Fall brachte die Klägerin hier ausdrücklich vor, dass die Schreiben der Beklagten die Verjährungsfrist für den hier geltend gemachten Schadenersatzanspruch unterbrochen hätten. Sie habe mit dem Schreiben vom 2. 12. 2016 und den nachfolgenden Schreiben den gesetzwidrigen Zustand des Pkws anerkannt und Verbesserung zugesagt.
[29] Dass die Klägerin davor nicht mit konkreten Ansprüchen an die Beklagte herangetreten war, schadet nach Ansicht des Senats nicht. Gerade durch die Ankündigung der technischen Maßnahme ließ die Beklagte die Endabnehmer ihrer Fahrzeuge nicht nur über die Stickstoffproblematik (dh den Schaden) informieren, sondern stellte auch in Aussicht, so bald als möglich für Abhilfe zu sorgen. Eine Einschränkung auf einen bestimmten Rechtsgrund (hier: Gewährleistung) nahm die Beklagte in ihrem Schreiben nicht vor. Eine Einschränkung auf Gewährleistungsansprüche kann dabei nicht unterstellt werden, weil die beklagte Herstellerin typischerweise ja gerade in keinem Vertragsverhältnis zu den Endabnehmern ihrer Fahrzeuge steht und damit keine Gewährleistungspflichten gegenüber den Adressaten des Schreibens hatte.
[30] Der Klagsanspruch ist daher nicht verjährt und dem Rekurs der Beklagten nicht Folge zu geben.
[31] 2. Die Kostenentscheidung gründet auf §§ 50, 41 Abs 1 ZPO.
[32] Beim von der Klägerin verzeichneten ERV‑Zuschlag war zu beachten, dass es sich bei einem Rechtsmittel oder dessen Beantwortung nicht um einen verfahrenseinleitenden Schriftsatz iSd § 23a RATG handelt (RS0126594) und der ERV‑Zuschlag nicht zu den Barauslagen, sondern zum Verdienst zählt (RS0126594 [T2]).
II. Zum Rekurs der Klägerin
1. Richtig zeigt die Klägerin auf, dass Schadenersatzansprüche entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht davon abhängen, ob die Abgaswerte für die Klägerin bei der Kaufentscheidung von Relevanz waren.
[33] 1.1. Über die Ersatzpflicht des Herstellers für einen Verstoß gegen Art 5 der VO 715/2007/EG hat der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach entschieden. Nach inzwischen ständiger Rechtsprechung besteht am Erwerb eines mit einer im Sinn des Art 5 VO 715/2007/EG unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs ein geringeres rechtliches Interesse als an einem rechtskonformen Fahrzeug (10 Ob 2/23a vom 25. 4. 2023 Rz 22). Ein Schadensersatzanspruch gegen den Hersteller wegen Schutzgesetzverletzung wäre deshalb nur dann zu verneinen, wenn das Fahrzeug zwar den objektiven Verkehrserwartungen nicht genügt, aber konkret den Vorstellungen des Käufers entsprach (3 Ob 168/23m Rz 14; 5 Ob 159/23b Rz 10 ff, jeweils mwN).
1.2. Die Beklagte brachte in erster Instanz vor, dass für die Kaufentscheidung der Klägerin nicht die NOx‑Emissionen, sondern nur die Verkehrs- und Betriebssicherheit sowie das Vorliegen einer gültigen Typengenehmigung relevant gewesen sei. Dem Durchschnittskäufer sei auch gleichgültig, welche Software im Fahrzeug installiert sei. „Ottonormalverbraucher“ habe gar keine Vorstellung von unzulässigen Abschalteinrichtungen.
[34] Dass konkret die Klägerin keine Vorbehalte gegen eine unzulässige Abschalteinrichtung in ihrem Pkw gehabt hätte, hat die Beklagte dagegen nicht behauptet. Außerdem hat die Beklagte für ihr Vorbringen zu den Motiven der Klägerin bei der Fahrzeugwahl auch keine Beweise angeboten.
[35] Entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts ist daher eine Feststellung entbehrlich, ob die Abgaswerte für die Klägerin bei der Kaufentscheidung von Relevanz gewesen wären.
[36] 2. Richtig weist der Rekurs auch darauf hin, dass sich die Beklagte nicht auf eine Ausnahme vom generellen Verbot von Abschalteinrichtungen nach Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG berufen kann.
[37] Die genannte Ausnahme ist eng auszulegen, sodass eine Abschalteinrichtung nur dann ausnahmsweise zulässig sein kann, wenn nachgewiesen ist, dass diese Einrichtung ausschließlich notwendig ist, um die durch eine Fehlfunktion eines Bauteils des Abgasrückführsystems verursachten unmittelbaren Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall zu vermeiden, wobei diese Risiken so schwer wiegen müssen, dass sie eine konkrete Gefahr beim Betrieb des mit dieser Einrichtung ausgestatteten Fahrzeugs bilden. Es liegt an der Beklagten, die für die Verbotsausnahme erforderlichen Voraussetzungen zu behaupten und zu beweisen (4 Ob 171/23k, Rz 19, 23, je mwN).
[38] Dafür reicht es nicht aus, dass das Thermofenster – wie hier festgestellt – „die Dauerhaltbarkeit des Abgasrückführungs‑Systems gewährleistet, indem Ablagerungen, die durch Versottung oder Verkokung, die zu einem Blockieren des Abgasrückführventils und in weiter Folge zu Motorschäden führen können, verhindert bzw verringert werden“.
[39] Dazu kommt, dass die Beklagte nach den Feststellungen im vorliegenden Fall auch schon technisch hochwertigere Lösungen für die Abgasreinigung auf dem US‑Markt verwendete.
[40] Das Schadenersatzbegehren der Klägerin ist daher dem Grunde nach berechtigt.
[41] 3. Zur Bemessung der Höhe des Schadenersatzes bedarf es der Auseinandersetzung mit der Höhe des Nutzungsentgelts, das vom Ersatzbetrag abzuziehen ist.
[42] Die Klägerin macht dazu geltend, dass der angemessene Kaufpreis 30 % unter dem tatsächlich bezahlten Kaufpreis liege, was bei Berechnung des Nutzungsentgelts zu berücksichtigen sei.
[43] 3.1. Die Vorteilsanrechnung soll dem Umstand Rechnung tragen, dass ein schädigendes Ereignis dem Geschädigten auch Vorteile bringen kann. Derartige Vorteile des Geschädigten, die ohne die erfolgte Beschädigung nicht entstanden wären, sind grundsätzlich zugunsten des Schädigers anzurechnen (RS0022834). Die Anrechnung eines Vorteils muss dem Zweck des Schadenersatzes entsprechen und soll nicht zu einer unbilligen Entlastung des Schädigers führen (RS0023600).
[44] 3.2. Der Gebrauchsnutzen des Käufers eines Kfz, der die Rückabwicklung nicht zu vertreten hat, ist nach inzwischen ständiger Rechtsprechung grundsätzlich in Abhängigkeit von den gefahrenen Kilometern linear zu berechnen. Er ist ausgehend vom Kaufpreis anhand eines Vergleichs zwischen tatsächlichem Gebrauch (gefahrene Kilometer) und voraussichtlicher Gesamtnutzungsdauer (erwartete Gesamtlaufleistung bei Neufahrzeugen und erwartete Restlaufleistung bei Gebrauchtwagen) zu bestimmen (RS0134263).
[45] Im Einzelfall kann zur Angemessenheitskorrektur auch § 273 ZPO herangezogen werden (RS0018534 [T5]).
[46] 3.3. Der erste Senat hat jüngst entschieden, dass Ausgangspunkt der linearen Berechnungsmethode des Benützungsentgelts nicht der objektive Wert des mangelhaften Pkws ist, sondern der zwischen den Parteien vereinbarte Kaufpreis, sofern der Gebrauchsnutzen des Kraftfahrzeugs für den Käufer uneingeschränkt gegeben und der vereinbarte Kaufpreis dem Preis angemessen war, den der Käufer für ein vergleichbares Fahrzeug (ohne unzulässige Abschalteinrichtung, aber mit demselben Gebrauchsnutzen) hätte aufwenden müssen und sich daher durch die Benützung des zurückzugebenden Fahrzeugs erspart hat (1 Ob 34/24t, Rz 46 unter Ablehnung der gegenteiligen Literaturstimmen).
[47] Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung an.
[48] 3.4. Im vorliegenden Fall behauptete die Klägerin, dass der Wert des Fahrzeugs 30 % unter dem Kaufpreis gelegen sei. Sie behauptete aber weder andere Mängel als die Abschalteinrichtung, noch dass ein vergleichbares Fahrzeug (ohne unzulässige Abschalteinrichtung) einen niedrigeren Kaufpreis gehabt hätte.
[49] Als Ausgangspunkt für die lineare Berechnungsmethode ist daher der von der Klägerin bezahlte Kaufpreis von 19.950 EUR heranzuziehen.
[50] 4.1. Im vorliegenden Fall konnte das Erstgericht nicht feststellen, welche Laufleistung das Fahrzeug haben wird. Darauf kommt es für die lineare Berechnungsmethode jedoch ohnedies nicht an. Es ist nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung irrelevant, welche Gesamtlaufleistung das Fahrzeug unter günstigsten Bedingungen erreichen kann oder in bestimmten Einzelfällen erreicht hat oder erreichen wird. Der gezogene Gebrauchsvorteil pro gefahrenem Kilometer wird also unabhängig davon bemessen, ob der konkrete Nutzer eine schonende oder beanspruchende Fahrweise an den Tag gelegt hat. Vielmehr ist auf die unter gewöhnlichen Umständen zu erzielende durchschnittliche Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs abzustellen (so zB bereits 8 Ob 42/23v, Rz 32 mwN; 2 Ob 82/23g, Rz 10; 2 Ob 108/23f, Rz 11; 8 Ob 76/23v, Rz 36).
[51] Beide Parteien gehen in ihren Rechtsmitteln übereinstimmend von rund 250.000 km aus, sodass diese Zahl bei der Ermittlung des Benutzungsentgelts zugrunde gelegt werden kann.
[52] 4.2. Bei einem Gebrauchtwagen ist bei der linearen Berechnung des Gebrauchsnutzens die zu erwartende Restlaufleistung im Ankaufszeitpunkt heranzuziehen (RS0134263).
[53] Bei einem Kilometerstand von rund 70.000 km bei Ankauf durch die Klägerin ergibt sich eine Restlaufleistung von 180.000 km (Gesamtlaufleistung von 250.000 km – Kilometerstand bei Ankauf von 70.000 km = 180.000 km an Restlaufleistung).
[54] Bei Schluss der Verhandlung betrug der Kilometerstand 194.500 km, das heißt, dass die Klägerin seit dem Ankauf 124.500 km mit dem Fahrzeug gefahren ist (aktueller Kilometerstand 194.500 km – Kilometerstand bei Ankauf von 70.000 km = 124.500 km).
[55] Daher ergibt die lineare Berechnungsmethode ein Benutzungsentgelt von 13.798,75 EUR (19.950 EUR Kaufpreis : 180.000 km Restlaufleistung x 124.500 km gefahrenen Kilometern = 13.798,75 EUR).
[56] 4.3. Erhielte die Beklagte im vorliegenden Fall das so ermittelte Benutzungsentgelt von 13.798,75 EUR auf die Schadenersatzforderung angerechnet und zusätzlich den Pkw mit einem Händlerverkaufspreis von 8.950 EUR übergeben, so überstiege der Vorteilsausgleich für die Schädigerin den Schadenersatzbetrag der Geschädigten von 19.950 EUR.
[57] Deshalb ist eine Angemessenheitskorrektur nach § 273 ZPO geboten, wenn der Geschädigte aufgrund der linearen Berechnungsmethode für das Benützungsentgelt im Ergebnis nur einen Betrag erhielte, der den aktuellen Zeitwert des zurückzugebenden Fahrzeugs deutlich unterschreitet (vgl 3 Ob 121/23z, Rz 29; 1 Ob 34/24t, Rz 31; 4 Ob 171/23k, Rz 48).
[58] 4.4. Die Beklagte meint, dass als Zeitwert der Händlereinkaufspreis heranzuziehen sei.
[59] Das Benützungsentgelt als Differenz aus Kaufpreis und Händlereinkaufspreis zu ermitteln hat der Oberste Gerichtshof jedoch bereits in der Leitentscheidung zur linearen Berechnungsmethode nach ausführlicher Auseinandersetzung mit der Literatur und divergierenden Vorentscheidungen als nicht sachgerecht abgelehnt (10 Ob 2/23a vom 21. 2. 2023, Rz 111 mwH).
[60] Durch diese Berechnung würde nämlich der rückabwicklungsberechtigte Käufer mit dem hohen Wertverlust aufgrund des Verlusts der Neuheit, einem möglichen Wertverlust wegen einer nicht von ihm zu vertretenden verzögerten Rückabwicklung und der Händlerspanne beschwert. Der gewerbliche Verkäufer soll nicht dadurch belohnt werden, dass er das Fahrzeug zum Händlereinkaufspreis zurücknehmen und zum Händlerverkaufspreis neuerlich veräußern kann. Dies gilt umso mehr, wenn das Benützungsentgelt für einen schadenersatz-rechtlichen Vorteilsausgleich und nicht eine verschuldens-unabhängige gewährleistungsrechtliche Wandlung zu ermitteln ist.
[61] 4.5. Das Benützungsentgelt ist im vorliegenden Fall gemäß § 273 ABGB somit mit 11.000 EUR zu deckeln, sodass die Geschädigte im Zuge der Rückabwicklung für die Herausgabe des Pkws zumindest noch den Händlerverkaufspreis von 8.950 EUR erhält (Schadensbetrag von insgesamt 19.950 EUR – Zeitwert des Pkw von 8.950 EUR = 11.000 EUR maximal anzurechnendes Benützungsentgelt).
[62] 5. Der schadenersatzrechtliche Vorteilsausgleich vermindert die Ersatzpflicht des Schädigers unmittelbar. Prozessual hat die Anrechnung – anders als bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung nach einer Wandlung – durch unmittelbaren Abzug von der Klageforderung und nicht aufrechnungsweise in Form einer Gegenforderung zu erfolgen (RS0022834 [T15]; 2 Ob 5/23h, Rz 53; 8 Ob 1/24s, Rz 32; 8 Ob 76/23v, Rz 34; 9 Ob 55/23p, Rz 46; 10 Ob 2/23a vom 25. 4. 2023, Rz 38 f mwN).
[63] Das Benützungsentgelt ist daher von der Klagsforderung abzuziehen, die Gegenforderung besteht nicht zu recht.
[64] 6. Da die Klägerin mit ihrem Hauptbegehren nicht zur Gänze durchdrang, ist auch über die Eventualbegehren zu entscheiden (vgl RS0037585 [T5]).
[65] Nach einer schadenersatzrechtlichen Rückabwicklung des Kaufs kann das Vermögen der ehemaligen Käuferin weder durch den Minderwert des Pkws im Zeitpunkt des Kaufs noch durch künftige Nachteile geschmälert werden.
[66] Die Eventualbegehren auf Preisminderung und Feststellung der Haftung für künftige Nachteile waren daher abzuweisen.
[67] 7.1. Die Kostenentscheidung für das erstinstanzliche Verfahren beruht auf § 43 Abs 1 ZPO. Die Klägerin drang mit ihrem Klagebegehren zu rund 45 % durch, sodass ihr die Pauschalgebühr als privilegierte Barauslage in diesem Umfang zu ersetzen ist und die übrigen Prozesskosten gegeneinander aufzuheben sind.
[68] 7.2. Die Kostenentscheidung über die Berufungen beider Parteien beruht auf §§ 50, 41 Abs 1 ZPO. Mit diesen Rechtsmitteln erreichte keine der Parteien letztlich einen Erfolg gegenüber dem Ergebnis des erstgerichtlichen Verfahrens, sodass die Rechtsmittelwerberinnen hier jeweils der Gegenseite die Kosten ihrer Berufungs‑ bzw Rekursbeantwortung zu ersetzen haben.
[69] Beim Kostenverzeichnis der Klägerin war zu korrigieren, dass die Bemessungsgrundlage für ihre Berufungsbeantwortung nur das Berufungsinteresse der Beklagten, also 8.950 EUR war. Außerdem handelt es sich bei einem Rechtsmittel nicht um einen verfahrenseinleitenden Schriftsatz iSd § 23a RATG (RS0126594), sodass der zum Verdienst zu zählende (RS0126594 [T2]) ERV‑Zuschlag nur für eine Folgeeingabe gebührt.
[70] 7.3. Für den Rekurs der Klägerin gründet die Entscheidung über die Verfahrenskosten auf §§ 50, 43 Abs 1 ZPO. Die Klägerin erreichte einen Zuspruch von rund 45 %, sodass ihr die Pauschalgebühr als privilegierte Barauslage in diesem Umfang zu ersetzen, die übrigen Kosten dieses Rekursverfahrens gegeneinander aufzuheben sind.
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