OGH 2Ob235/15w

OGH2Ob235/15w31.8.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé sowie den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. M***** B***** und 2. Privatstiftung P*****, vertreten durch Dr. Daniel Stanonik, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Marktgemeinde G*****, vertreten durch Dr. Edmund Kitzler und Mag. Martin Wabra, Rechtsanwälte in Gmünd, wegen 1.) 20.619,16 EUR sA und Feststellung (Streitinteresse: 1.000 EUR) und 2.) 13.195,08 EUR sA, über die Revision der erstklagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 30. September 2015, GZ 11 R 213/14w‑20, womit infolge Berufung der klagenden Parteien das Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau vom 9. September 2014, GZ 6 Cg 25/14g‑13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0020OB00235.15W.0831.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden, soweit über das Klagebegehren der erstklagenden Partei entschieden wurde, aufgehoben. Die Rechtssache wird in diesem Umfang zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind insoweit weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Die Erstklägerin kam am 17. 2. 2013 gegen 12:15 Uhr als Fußgängerin im Bereich der Zufahrt zum Grundstück H***** 37 auf einer mit Schnee bedeckten Eisplatte zu Sturz und zog sich eine schwere Beinverletzung zu. Die beklagte Partei ist Halterin der an die Sturzstelle angrenzenden Gemeindestraße.

Die Gemeindestraße ist über eine Breite von 3 m asphaltiert. Nördlich von der nach Westen abzweigenden Zufahrt weist sie ein Gefälle von ca 7° in Richtung Süden auf. Ein Gehsteig war zur Unfallszeit nicht vorhanden. Westlich neben der asphaltierten Fahrbahn befand sich ein schmaler, fast niveaugleicher Bereich, der im Jahr 2006 nach Verlegung einer Fernwärmeleitung „angeschüttet“ worden war.

Die beklagte Gemeinde hatte mit der selbständigen Besorgung des Winterdienstes ohne konkrete Vorgaben M***** B***** beauftragt. Dieser streute den Unfallbereich vor dem Unfall zuletzt am 12. 2. 2013. Er streute immer dann, wenn er das aufgrund der Witterungsverhältnisse für notwendig hielt oder er von Ortsbewohnern dazu aufgefordert wurde. Im Zeitraum zwischen 12. 2. und 17. 2. 2013 hielt er ein Streuen nicht für erforderlich, obwohl es in der Nacht vom 16. zum 17. 2. 2013 leicht geschneit hatte. Der Grund dafür lag darin, dass die Straßen trotz der geringen Neuschneeschicht noch von vorangegangenen Streuungen – teilweise sichtbar – mit großen Mengen von Splitt bedeckt waren.

Am 17. 2. 2013 war die Fahrbahn der Gemeindestraße zur Unfallszeit stellenweise leicht mit Schnee bedeckt, aber mit erheblichen Mengen von Splitt bestreut. Die Fahrbahn war sicher begehbar und nicht rutschig. Der Bereich westlich der Fahrbahn war mit wenigen Zentimetern Schnee bedeckt. Aufgrund des Schnees war der Übergang vom Asphalt auf das Bankett nicht genau erkennbar. Die Erstklägerin kam aus der besagten Grundstückszufahrt und wollte auf der Gemeindestraße in nördliche Richtung weiter gehen. Weil ihr das Streugut auf der Fahrbahn zu wenig erschien und sie vermutete, auf dem griffig aussehenden Schnee außerhalb der Fahrbahn sicherer gehen zu können, betrat sie den außerhalb der Fahrbahn liegenden Bereich nördlich der Zufahrt und „westlich der asphaltierten Straße“. Dort rutschte sie auf einer unter dem Schnee befindlichen Eisplatte aus und stürzte.

Die zweitklagende Partei hatte die beklagte Partei zwischen 2007 und 2013 in mehreren Eingaben auf die Gefährlichkeit dieses Straßenabschnittes hingewiesen und zu baulichen Maßnahmen, insbesondere zur Errichtung eines Gehsteigs, aufgefordert. Ca ein Jahr vor dem Unfall hatte der Sohn der Erstklägerin die beklagte Partei davon in Kenntnis gesetzt, dass der „Gehweg seitlich dieser Straße“ eisglatt sei und „wieder ein Sturz passiert“ sei.

Das auf Zahlung von 13.195,08 EUR sA gerichtete Klagebegehren der zweitklagenden Partei wurde bereits rechtskräftig abgewiesen.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist daher nur noch das Begehren der Erstklägerin, die beklagte Partei zur Zahlung von 20.619,16 EUR sA an sie zu verpflichten sowie die Haftung der beklagten Partei für alle künftigen Schäden der Erstklägerin aus dem Unfall vom 17. 2. 2013 in H***** festzustellen.

Dazu brachte sie im Wesentlichen vor, die Sturzstelle liege auf öffentlichem Grund zwischen dem Wirtschaftsgebäude und einem Schulgebäude des „P*****-Projekts“. Die beklagte Partei habe es über Jahre hinweg unterlassen, den abschüssigen Straßenabschnitt für die Bewohner, Schulkinder und Besucher sicher zu gestalten. Sie habe insbesondere jahrelange Hinweise auf die eine regelmäßige und gefährliche Glatteisbildung begünstigende Gestaltung des Unfallbereichs ignoriert und keine Sicherungsmaßnahmen ergriffen. Trotz der bekannten erhöhten Gefahr sei die Gemeindestraße am Unfallstag und an den Tagen davor nicht gestreut worden. Da die Erstklägerin auch im Jahr davor zu Sturz gekommen sei, habe sie am Unfallstag den (vermeintlich) trittfesteren Schnee neben der Fahrbahn gewählt. Bei dem Sturz habe sie einen doppelten Oberschenkelbruch erlitten. Es liege ein unfallskausaler Dauerschaden vor, Spätfolgen seien nicht auszuschließen. Das Leistungsbegehren umfasse ein Schmerzengeld in Höhe von 19.000 EUR sowie den Ersatz der „zur Wahrung ihrer Interessen“ aufgewendeten Anwaltskosten von 1.619,16 EUR („Kosten des Strafverfahrens“).

Die beklagte Partei wandte ein, die Erstklägerin habe sich nicht auf der „asphaltierten Straße“, sondern auf dem angrenzenden Bankett fortbewegt. Dort sei sie auch zu Sturz gekommen. Die beklagte Partei treffe jedoch keinesfalls die Pflicht zur Räumung, Säuberung und Streuung des Banketts, weshalb auch der mit den Streuarbeiten Beauftragte im Strafverfahren rechtskräftig freigesprochen worden sei. Eine Verletzung der Streupflicht liege nicht vor, weil zum notwendigen Zeitpunkt im notwendigen Umfang gestreut worden sei. Zum Unfallszeitpunkt sei die Gemeindestraße jedenfalls ausreichend gestreut gewesen, sodass ein Ausweichen der Erstklägerin auf das Bankett nicht notwendig gewesen sei. Dass bei Tauwetter Schmelzwasser von der „asphaltierten Straße“ in das angrenzende Bankett ablaufe und sich dort Eis bilden könne, begründe ebenfalls keine Haftung der beklagten Partei. Die Unfallstelle liege außerhalb eines Ortsgebiets. Das begehrte Schmerzengeld sei überhöht. Bei den geltend gemachten Kosten handle es sich um vorprozessuale oder durch den Einheitssatz gedeckte Kosten, die überdies nicht von der beklagten Partei zu verantworten seien. Auch das Feststellungsbegehren werde „dem Grunde und der Höhe nach“ bestritten.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Ausgehend vom eingangs wiedergegebenen Sachverhalt erörterte es rechtlich, der westlich an die Gemeindestraße angrenzende Bereich sei nicht als Gehsteig, sondern allenfalls als Bankett iSd § 2 Abs 1 Z 6 StVO zu qualifizieren. Er sei somit nicht für den Fußgängerverkehr bestimmt und auch nicht von Räum- und Streupflichten umfasst. Eine Haftung der beklagten Partei käme nur in Frage, wenn die Fahrbahn der Gemeindestraße nicht ordnungsgemäß gestreut gewesen wäre, sodass die Erstklägerin deshalb den Bereich neben der Fahrbahn benützen habe müssen. Die Fahrbahn sei jedoch im bestreuten Bereich begehbar gewesen, eines Ausweichens auf den nicht gestreuten Bereich seitlich des Asphalts habe es nicht bedurft. Im Übrigen sei das Unterlassen weiterer Streuung nach leichtem Schneefall im Hinblick auf das ohnehin noch reichlich vorhandene Streugut jedenfalls nicht als grobes Verschulden zu werten, weshalb eine Haftung nach § 1319a ABGB nicht gegeben sei. Zu baulichen Maßnahmen sei die beklagte Partei nicht verpflichtet gewesen.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass die ordentliche Revision der Erstklägerin zulässig sei.

In rechtlicher Hinsicht führte es aus, als Straßenerhalterin unterliege die beklagte Partei der Wegehalterhaftung nach § 1319a ABGB. § 93 StVO komme als Haftungsgrundlage nicht in Frage, weil die beklagte Partei nicht Anrainerin im Sinne dieser Vorschrift sei. Im Hinblick auf § 1319a Abs 2 ABGB und der dazu ergangenen Rechtsprechung, wonach für die Verkehrssicherheit des Weges im weitesten Sinn gehaftet werde, könnte angenommen werden, dass sich die Verkehrssicherungspflichten des Wegehalters auch auf das Bankett erstrecken, das entgegen der Meinung des Erstgerichts nach § 76 Abs 1 Satz 2 StVO durchaus für den Fußgängerverkehr vorgesehen sei. Ein Wegehalter hafte aber nur für grobe Fahrlässigkeit, wobei sich das Ausmaß seiner Obsorgepflicht daran orientiere, was nach der Art des Weges, insbesondere nach seiner Widmung, für seine Betreuung und Anlage angemessen und zumutbar sei. In diesem Sinn verlange der Winterdienst geeignete Streumaßnahmen, die sich an den Verkehrsbedürfnissen und der Zumutbarkeit für den Streupflichtigen zu orientieren hätten.

Daraus folge, dass der Halter einer öffentlichen Straße bei winterlichen Verhältnissen, wie sie im gegenständlichen Fall vorgelegen seien, nach den Kriterien des Verkehrsbedürfnisses und der Zumutbarkeit jedenfalls dann nicht auch für eine Begehbarkeit des Banketts zu sorgen habe, wenn die (asphaltierte) Fahrbahn ausreichend geräumt und gestreut sowie für Fußgänger gefahrlos zu begehen sei. Diese seien nämlich nicht zwingend auf das Bankett verwiesen, sondern hätten, wenn dieses fehle, den äußersten Fahrbahnrand zu benützen. Dem Fehlen eines Banketts sei aber dessen fehlende Benützbarkeit mangels Schneeräumung gleichzusetzen. Selbst unter dem Aspekt, dass der beklagten Partei das Bestehen eines nicht unerheblichen Fußgängerverkehrs an der betreffenden Straßenstelle bekannt gewesen sein sollte, liege jedenfalls keine grobe Fahrlässigkeit darin, dass nicht auch das Bankett geräumt und gestreut worden sei.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil die Frage der Pflichten eines Wegehalters in Bezug auf den Fußgängerverkehr auf einem Bankett über den Einzelfall hinaus von Bedeutung sei.

Gegen diese Berufungsentscheidung richtet sich die Revision der Erstklägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Stattgebung ihres Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Das Rechtsmittel ist im Sinne des Eventualantrags auch berechtigt.

Die Erstklägerin macht geltend, den Fußgängern sei nach § 76 Abs 1 Satz 2 StVO bei Fehlen eines Gehsteigs die vorrangige Begehung des Banketts vorgeschrieben. Somit treffe den Wegehalter nach § 1319a ABGB auch die Verpflichtung, den Fußgängern eine gefahrlose Benützung des Banketts zu ermöglichen. Dieser Verpflichtung könne er sich entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts nicht dadurch entziehen, dass er ein Begehen des Banketts dadurch unmöglich oder gefährlich mache, dass er seinen Pflichten zur Schneeräumung und Glatteisbekämpfung am Bankett nicht nachkomme. Der Erstklägerin könne daher nicht entgegen gehalten werden, sie hätte die nach den Feststellungen ausreichend gestreute Fahrbahn verwenden müssen. Die Unterlassung einer Räumung und Streuung des Banketts durch die beklagte Partei sei als grobe Fahrlässigkeit zu werten, weil ihr im konkreten Straßenabschnitt die Räumung am Bankett zumutbar gewesen sei und sie die ihr gebotene Sorgfalt in ungewöhnlicher Weise verletzt habe. Auch aus § 93 StVO folge eine Haftung der beklagten Partei, weil sie als Wegehalterin ungeachtet einer Anrainerstellung auch die dort normierten Rechtspflichten träfen.

Hierzu wurde erwogen:

1. Einleitend ist festzuhalten, dass die Haftung der beklagten Partei, wie schon das Berufungsgericht richtig erkannte, nicht auf eine Verletzung der Streupflicht nach § 93 Abs 1 StVO gestützt werden kann. Diese Bestimmung richtet sich nur an Anrainer, also an die Eigentümer von an dem öffentlichen Verkehr dienenden Flächen angrenzenden Liegenschaften (2 Ob 26/06x SZ 2006/122; 2 Ob 217/08p SZ 2009/57; RIS‑Justiz RS0075596). Aus der Entscheidung 7 Ob 701/84 ist entgegen der in der Revision vertretenen Ansicht nichts anderes ableitbar.

Die Erstklägerin hat in diesem Verfahren weder behauptet, dass die beklagte Gemeinde auch Eigentümerin der im Bereich der Sturzstelle an die Gemeindestraße angrenzenden Liegenschaft wäre, noch dass sie die Anrainerpflichten durch eine Vereinbarung mit dem Liegenschaftseigentümer nach § 93 Abs 5 StVO übernommen hätte. Wohl kann die Übertragung dieser Pflichten auch durch schlüssige Handlungen eines Wegehalters bewirkt worden sein (RIS-Justiz RS0014585). Entsprechendes Vorbringen hat die Erstklägerin aber nicht erstattet. Selbst aus der Tatsache, dass ein Wegehalter die gesamte Straße räumt und streut, könnte allein noch nicht zwingend darauf geschlossen werden, dass er die Anrainerpflichten übernommen hat, könnte er doch auch (nur) in Wahrnehmung seiner eigenen Pflichten nach § 1319a ABGB tätig sein (2 Ob 46/11w; 2 Ob 194/11k ZVR 2012/214).

2. Als Anspruchsgrundlage bleibt somit § 1319a ABGB. Nach Abs 1 Satz 1 dieser Bestimmung haftet der Halter eines Weges den Benützern, wenn durch seinen mangelhaften Zustand ein Schaden herbeigeführt wird und dem Halter selbst oder seinen Leuten grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorzuwerfen ist. „Weg“ iSd § 1319a ABGB ist nach dessen Abs 2 Satz 1 erster Halbsatz eine Landfläche, die von jedermann unter den gleichen Bedingungen für den Verkehr jeder Art oder für bestimmte Arten des Verkehrs benützt werden darf, auch wenn sie nur für einen eingeschränkten Benützerkreis bestimmt ist. Der Begriff „Weg“ im Sinne dieser Bestimmung sichert einen sehr weiten Anwendungsbereich der diesbezüglichen Haftpflicht; er findet seine Grenze dort, wo das Merkmal des „Rechts der Benützung durch jedermann unter den gleichen Bedingungen“ fehlt (2 Ob 59/05y ZVR 2005/112; 2 Ob 217/08p SZ 2009/57 = ZVR 2009/171 [Ch. Huber]; RIS‑Justiz RS0029988, RS0115172; Danzl inKBB4 § 1319a Rz 4).

3. Zwischen den Parteien herrscht in dritter Instanz Einigkeit darüber, dass sich der Unfall der Erstklägerin auf einem „Straßenbankett“ ereignet hat. Das wirft die Frage auf, ob es sich bei einem Straßenbankett um einen „Weg“ iSd § 1319a ABGB handelt. Dies ist aus folgenden Erwägungen zu bejahen:

3.1 Eine Straße wird in § 2 Abs 1 Z 1 StVO als eine „für den Fußgänger- und Fahrzeugverkehr bestimmte Landfläche samt den in ihrem Zuge befindlichen und diesem Verkehr dienenden baulichen Anlagen“ definiert. Die Fahrbahn ist nach § 2 Abs 1 Z 2 StVO der für den Fahrzeugverkehr bestimmte Teil der Straße. Unter einem Straßenbankett ist gemäß § 2 Abs 1 Z 6 StVO der „seitliche, nicht befestigte Teil einer Straße, der zwischen der Fahrbahn und dem Straßenrand liegt, soweit dieser Straßenteil nicht besonderen Zwecken vorbehalten ist (zB Gehsteige, Rad- oder Reitwege und sonstige besondere straßenbauliche Anlagen)“, zu verstehen.

3.2 Gemäß § 76 Abs 1 Satz 2 erster Halbsatz StVO haben Fußgänger, wenn Gehwege oder Gehsteige nicht vorhanden sind, das Straßenbankett und, wenn auch dieses fehlt, den äußersten Fahrbahnrand zu benützen. Nach dieser Bestimmung ist die Benützung des Straßenbanketts für Fußgänger verpflichtend, wenn weder Gehwege noch Gehsteige vorhanden sind (2 Ob 317/66 ZVR 1967/164). Dabei handelt es sich um keine in das Belieben des Fußgängers gestellte Alternative, sondern um eine streng einzuhaltende Regel, die dem Grundsatz der Verkehrsentflechtung dient; dürfen doch Straßenbankette von Kraftfahrzeugen nicht befahren werden (vgl 2 Ob 19/06t mwN; 2 Ob 11/07t; RIS-Justiz RS0073343; Dittrich/Stolzlechner, StVO³ § 76 Rz 19). Aus diesem Grund hat der Oberste Gerichtshof nach Kollisionen zwischen Kraftfahrzeugen mit Fußgängern, die trotz Vorhandenseins eines Banketts die Fahrbahn benützt hatten, letzteren bereits in mehreren Entscheidungen ein Mitverschulden auferlegt (vgl RIS-Justiz RS0026821, RS0027311, RS0027614 [T1]).

Die Nichtbenützung eines vorhandenen Straßenbanketts wurde in der Rechtsprechung nur dann für zulässig erachtet, wenn dem Fußgänger die Benützung des Banketts nicht zumutbar ist. So wurde etwa mehrfach ausgesprochen, dass von einem Fußgänger das Gehen auf einem schneebedeckten Bankett nicht verlangt werden kann (2 Ob 224/70 ZVR 1971/78; 8 Ob 43/86; RIS-Justiz RS0073328; vgl auch RS0075568; weitere Beispiele bei Dittrich/Stolzlechner, StVO³ § 76 Rz 19).

3.3 Eine Gemeindestraße ist jedenfalls ein „Weg“ iSd § 1319a Abs 2 Satz 1 ABGB, ist sie doch für jedermann unter den gleichen Bedingungen benützbar. Das gilt nach der soeben erörterten Rechtslage nicht nur für die Fahrbahn, sondern auch für ein vorhandenes Straßenbankett, das als Teil der Straße ebenfalls zu diesem „Weg“ gehört und dem Fußgängerverkehr vorbehalten ist. Es handelt sich dabei nicht bloß um eine im Zuge des Weges befindliche und seinem Verkehr dienende Anlage iSv § 1319a Abs 2 Satz 1 zweiter Halbsatz ABGB, sondern um einen unmittelbar dem Verkehr dienenden Wegteil, der bereits von der Umschreibung des ersten Halbsatzes dieser Bestimmung erfasst wird (idS auch § 4 Z 2 lit a NÖ Straßengesetz 1999, LGBl 8500-3; vgl ferner ErläutRV 1678 BlgNR XIII. GP 4 f).

3.4 Als erstes Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, dass sich der Unfall auf einem „Weg“ ereignete, für dessen mangelhaften Zustand die beklagte Partei als Wegehalterin haftet, falls sie oder ihre Leute auch der Vorwurf groben Verschuldens trifft.

4. Weitere Haftungsvoraussetzung ist der „mangelhafte Zustand“ des Weges:

4.1 Dieses Tatbestandselement bedeutet, dass nicht nur für den Weg selbst, sondern für dessen Verkehrssicherheit im weitesten Sinne gehaftet wird. Beurteilungsmaßstab für die Mangelhaftigkeit des Weges ist, wie sich aus § 1319a Abs 2 letzter Satz ABGB ergibt, das Verkehrsbedürfnis und die (objektive) Zumutbarkeit entsprechender Maßnahmen. Das Merkmal der Zumutbarkeit erfordert die Berücksichtigung dessen, was nach allgemeinen und billigen Grundsätzen erwartet werden kann. Welche Maßnahmen ein Wegehalter im Einzelnen zu ergreifen hat, richtet sich danach, was nach der Art des Weges, besonders nach seiner Widmung, seiner geografischen Situierung in der Natur und dem daraus resultierenden Maß seiner vernünftigerweise zu erwartenden Benutzung (Verkehrsbedürfnis), für seine Instandhaltung angemessen und nach objektiven Maßstäben zumutbar ist. Es kommt jeweils darauf an, ob der Wegehalter die ihm zumutbaren Maßnahmen getroffen hat, um eine gefahrlose Benützung gerade dieses Weges sicherzustellen (2 Ob 115/08p mwN; 2 Ob 256/09z; vgl auch RIS‑Justiz RS0029997, RS0030180, RS0030088, RS0087607; Danzl inKBB4 § 1319a Rz 5). Dabei dürfen etwa an die Streupflicht auf offenen Freilandstraßen keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden (RIS‑Justiz RS0023431). Auch ist kleineren Gemeinden als Wegehalter weniger zuzumuten als großen, doch wird generell der öffentlichen Hand, also auch Gemeinden, gegenüber der Allgemeinheit mehr Verantwortung aufgebürdet als Privaten (2 Ob 115/08p mwN).

4.2 Die Beweislast für den mangelhaften Zustand des Weges trifft den Geschädigten (2 Ob 115/08p mwN; RIS‑Justiz RS0124486; Danzl inKBB4 § 1319a Rz 2; Reischauer in Rummel, ABGB³ II/2b § 1319a Rz 18). Die Erstklägerin hat zum Kriterium des Verkehrsbedürfnisses in erster Instanz ausreichendes Vorbringen erstattet, Feststellungen liegen dazu jedoch nicht vor. Es ist zwar – wie erörtert – unstrittig, dass die Fußgänger auf der Gemeindestraße gemäß § 76 Abs 1 Satz 2 StVO auf die Benützung des Straßenbanketts verwiesen waren; inwieweit es aber im Unfallbereich tatsächlich von Fußgängern frequentiert wurde, wurde bisher noch nicht geklärt. Diese Feststellungen zum Verkehrsbedürfnis sind aber erforderlich, um das weitere Kriterium der objektiven Zumutbarkeit und somit das Tatbestandselement des „mangelhaften Zustands“ des Weges abschließend beurteilen zu können. Sie sind daher im fortzusetzenden Verfahren nachzuholen.

4.3 Sollte sich herausstellen, dass das Straßenbankett von Bewohnern, Schülern und Besuchern des sogenannten „P*****-Projekts“ regelmäßig begangen wird, wie dies das Vorbringen der Erstklägerin nahelegt, wäre das Kriterium des Verkehrsbedürfnisses jedenfalls erfüllt. In diesem Fall wäre auch die objektive Zumutbarkeit der Räumung und Streuung des Straßenbanketts durch die beklagte Partei zu bejahen, weil die sichere Benützung der gesetzlich dem Fußgängerverkehr gewidmeten und diesem regelmäßig tatsächlich dienenden Teile einer Gemeindestraße grundsätzlich auch von kleineren Gemeinden zu gewährleisten ist. Es macht dabei keinen Unterschied, ob es sich bei diesen Straßenteilen um einen Gehsteig, einen Gehweg oder das Straßenbankett handelt, entscheidend ist nur die Widmung für den Fußgängerverkehr.

4.4 Die in der Revisionsbeantwortung erstmals aufgestellte Behauptung, kleinen Gemeinden wie der beklagten Partei stünden für die erforderliche manuelle Betreuung auch des Straßenbanketts weder personelle noch finanzielle Ressourcen zur Verfügung, kann nicht als offenkundige Tatsache vorausgesetzt werden (§ 269 ZPO) und verstößt daher gegen das Neuerungsverbot (§ 504 Abs 2 ZPO). Dies gilt auch, soweit die beklagte Partei die – insoweit als subjektives Sorgfaltskriterium zu verstehende (dazu Punkt 5; vgl Reischauer in Rummel, ABGB³ II/2b § 1319a Rz 15 aE) – Zumutbarkeit der objektiv gebotenen Maßnahmen im Hinblick auf ihre eigenen finanziellen Verhältnisse verneint.

4.5 Als weiteres Zwischenergebnis folgt somit, dass, sollte nach dem Kriterium des Verkehrsbedürfnisses der Winterdienst auf dem Straßenbankett erforderlich gewesen sein, der mangelhafte Zustand des Weges und auch dessen Ursächlichkeit für den Unfall erwiesen wäre, weil sich die Eisplatte, auf der die Erstklägerin ausrutschte, auf einem dem Fußgängerverkehr gewidmeten Straßenteil befand.

5. Nach Reischauer (in Rummel, ABGB³ II/2b § 1319a Rz 6 und 15) ist die objektive Zumutbarkeit nicht nur als Kriterium der Mangelhaftigkeit des Weges, sondern auch als – davon zu trennendes – Kriterium der Sorgfaltseinhaltung zu beachten. Danach käme es darauf an, ob von einer Gemeinde wie der beklagten Partei die Beseitigung der konkreten Gefahrenstelle erwartet werden kann. Auch diese Voraussetzung läge vor, wurde die beklagte Partei doch schon jahrelang auf die Gefährlichkeit der Straßenstelle hingewiesen und – wenn auch nur allgemein – über Stürze von Fußgängern informiert. Unter diesen Umständen hatte auch eine kleinere Gemeinde bei Eintritt winterlicher Verhältnisse der als gefährlich beschriebenen Stelle besonderes Augenmerk zu schenken. Dass ihr die erforderlichen Maßnahmen subjektiv nicht zumutbar gewesen wären, hat die beklagte Partei nicht unter Beweis gestellt (vgl Punkt 4.4).

6. Sollte der Erstklägerin der Beweis gelingen, dass nach obigen Kriterien der Zustand des Weges mangelhaft war und die beklagte Partei zumutbare Maßnahmen unterlassen hat, käme es schließlich noch darauf an, ob der beklagten Partei bzw deren Leuten grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist:

6.1 Nach ständiger Rechtsprechung ist unter grober Fahrlässigkeit iSd § 1319a ABGB eine auffallende Sorglosigkeit zu verstehen, bei der die gebotene Sorgfalt nach den Umständen des Falles in ungewöhnlichem Maße verletzt wird und der Eintritt des Schadens nicht nur als möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich vorauszusehen ist. Der objektiv besonders schwere Verstoß muss auch subjektiv schwer anzulasten sein (RIS‑Justiz RS0030171 [T2], RS0030644).

6.2 Den Geschädigten trifft auch die Beweislast für das Vorliegen grober Fahrlässigkeit. Gemeint ist damit die grobe Fahrlässigkeit im objektiven Sinn, also der Beweis eines Sachverhalts, der als grob fahrlässig im objektiven Sinn qualifiziert werden soll. Gelingt dem Schädiger dieser Beweis, so kann sich der Wegehalter noch durch den Beweis der fehlenden subjektiven Vorwerfbarkeit der objektiven groben Fahrlässigkeit von der Haftung befreien (2 Ob 115/08p mwN; RIS-Justiz RS0124486; Danzl inKBB4 § 1319a Rz 2; Reischauer in Rummel, ABGB³ II/2b § 1319a Rz 18).

6.3 Im vorliegenden Fall indiziert schon der – Verkehrsbedürfnis vorausgesetzt – unrichtige Rechtsstandpunkt der beklagten Partei, sie müsse das Straßenbankett weder räumen noch streuen, grobe Fahrlässigkeit im objektiven Sinn. Bedeutet dies doch nichts anderes, als dass sie durch ihre Leute den dem Fußgängerverkehr gewidmeten Straßenteil prinzipiell nicht räumen oder streuen lässt. Der Sturz eines Fußgängers auf der vom Winterdienst ausgeklammerten, noch dazu als gefährlich bekannten Verkehrsfläche war unter diesen Umständen als geradezu wahrscheinlich voraussehbar. Den Entlastungsbeweis hat die beklagte Partei in erster Instanz nicht angetreten. Auf ihre Rechtsunkenntnis könnte sie sich nicht berufen.

7. Sollte unter Zugrundelegung der bisherigen Ausführungen die Haftung der beklagten Partei zu bejahen sein, wäre schließlich zu klären, ob der Erstklägerin ein Mitverschulden anzulasten ist:

7.1 Die diesbezügliche Behauptungs- und Beweislast trifft die beklagte Partei (RIS‑Justiz RS0022560). Der Vorwurf an die Erstklägerin lautete dahin, dass sie statt der gestreuten Fahrbahn das nicht gestreute Straßenbankett benützt habe. Dieser Vorwurf wäre dann berechtigt, wenn die Erstklägerin bei gehöriger Aufmerksamkeit erkennen hätte können, dass das Begehen des Straßenbanketts nicht sicher ist. Erkennbaren Gefahrenstellen muss nämlich grundsätzlich ausgewichen werden (RIS-Justiz RS0023704). Ein Verstoß gegen § 76 Abs 1 Satz 2 StVO läge nicht vor: War das Bankett als Gefahrenstelle erkennbar, so war seine Benützung nicht zumutbar und die Benützung des äußersten Fahrbahnrandes zulässig (vgl Punkt 3.2).

7.2 Nach den Feststellungen des Erstgerichts vermutete die Erstklägerin, auf dem griffig aussehenden Schnee sicherer gehen zu können (als auf der Fahrbahn). Daraus lässt sich noch nicht ableiten, wie ein sorgfältiger und aufmerksamer Fußgänger die Situation beurteilt hätte, insbesondere, ob aufgrund der konkreten Witterungsverhältnisse und der bisherigen Erfahrungen mit der als gefährlich bekannten Stelle mit Eis unter der Neuschneedecke zu rechnen war. Auch dazu werden ergänzende Feststellungen zu treffen sein.

8. Aus den angeführten Gründen sind die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben.

8.1 Das Erstgericht wird das Verfahren zu ergänzen und Feststellungen zum Kriterium des Verkehrsbedürfnisses (Punkt 4) zu treffen haben. Sollte danach der mangelhafte Zustand des Weges als Ursache für den Unfall zu bejahen sein, würde die beklagte Partei nach § 1319a ABGB für die unfallskausalen Schäden der Erstklägerin haften. In welchem Ausmaß diese Haftung bestünde, richtete sich einerseits danach, ob die Erstklägerin ein Mitverschulden zu verantworten hat, was ebenfalls noch klärungsbedürftig wäre. Andererseits wären Feststellungen zu der von der beklagten Partei bestrittenen Schadenshöhe und zur gleichfalls bestrittenen Berechtigung des Feststellungsbegehrens erforderlich.

8.2 Was die geltend gemachten Anwaltskosten anlangt, wird das Erstgericht die Erstklägerin im Rahmen des § 182 ZPO aber jedenfalls anzuleiten haben, diese Kosten präzise aufzuschlüsseln und darzulegen, worin das im Zusammenhang mit dieser Schadensposition behauptete „Interesse“ der Erstklägerin besteht. Nur, wenn der Kostenaufwand einem besonderen Interesse an der Sachverhaltsermittlung unabhängig von der Rechtsverfolgung im späteren Prozess gedient haben sollte, könnten die Kosten ausnahmsweise selbständig einklagbar sein (vgl 7 Ob 77/11s; 9 ObA 24/12p; 1 Ob 189/12v; RIS‑Justiz RS0035826 [T12]), wobei die Erstklägerin die Voraussetzungen für die selbständige Einklagbarkeit zu behaupten hat (vgl 9 ObA 24/12p). Sollte es sich aber um vorprozessuale Kosten handeln, wäre das Klagebegehren in diesem Umfang wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurückzuweisen (vgl 8 Ob 80/13t; RIS-Justiz RS0035721, RS0035770, RS0111906, RS0120431).

8.3 Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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