OGH 2Ob256/09z

OGH2Ob256/09z27.5.2010

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Mag. Hermann S*****, vertreten durch Dr. Wilhelm Klade, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Stadtgemeinde B*****, vertreten durch Mag. Markus Heller, Rechtsanwalt in Baden, wegen 4.700 EUR sA und Feststellung (Streitinteresse 3.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Berufungsgericht vom 26. August 2009, GZ 18 R 120/09i‑22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Baden vom 11. Mai 2009, GZ 9 C 695/08b‑16, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2010:0020OB00256.09Z.0527.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 742,27 EUR (darin 123,71 EUR USt) bestimmten Kosten ihrer Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

Der Kläger stürzte am 7. 11. 2007 bei einem abendlichen Spaziergang in einer Fußgängerzone über eine in ca 10 bis 15 cm Höhe gespannte Kette, mit der ein Plakatständer an der Standsäule eines Verkehrszeichens befestigt war. Der Abstand zwischen dem Plakatständer und dem Verkehrszeichen betrug rund 1 m. Der Plakatständer befand sich bereits seit einigen Tagen in dieser Position. Vor dem Kläger war schon ein anderer Passant über die Kette gestolpert, dabei aber unverletzt geblieben.

Mitarbeiter der beklagten Gemeinde hatten den Plakatständer aufgestellt. Weil in der Vergangenheit derartige Ständer bereits mehrfach umgeworfen oder gar auf die Fahrbahn geworfen worden waren, wurde er an der Standsäule befestigt. Die Befestigung erfolgte mittels einer 2 m langen Kette derart, dass zwischen dem Plakatständer und der Standsäule ein Abstand von 30 cm verblieb. Ohne das Entfernen der Kette wäre ein maximaler Abstand von 40 cm möglich gewesen.

In die beschriebene Position konnte der Plakatständer nur dadurch gelangen, dass die Kette von einem oder mehreren Unbekannten auf einer Seite des Plakatständers aus der Befestigungsvorrichtung herausgerissen wurde, wofür erhebliche Gewaltanwendung erforderlich war.

Der Kläger stützte in erster Instanz den geltend gemachten Schadenersatzanspruch und das Feststellungsbegehren im Wesentlichen auf § 1319a ABGB.

Die Vorinstanzen wiesen das Klagebegehren ab. Sie gingen davon aus, dass der beklagten Partei kein schweres Verschulden am Unfall des Klägers vorzuwerfen sei.

Das Berufungsgericht führte dazu aus, es würde den an eine Stadtgemeinde anzulegenden Sorgfaltsmaßstab überspannen, von ihr regelmäßige Kontrollen zu verlangen, ob ursprünglich ausreichend gesicherte Plakatständer durch Vandalenakte oder „Lausbubenstreiche“ zu einer Gefahrenquelle für Fußgänger geworden sein könnten. Die beklagte Partei habe nicht damit rechnen müssen, dass Dritte ein Ende der Kette von dem Plakatständer lösen und diesen sodann in eine gefahrenträchtige Position rücken würden. Dass die beklagte Partei von dem weiteren Vorfall Kenntnis erlangt habe, stehe nicht fest. Andere Anspruchsgrundlagen kämen nicht in Betracht. § 1319a ABGB verdränge als Spezialnorm § 1319 ABGB, es sei denn, dass ein besonderes Interesse des Wegehalters am betreffenden Werk (hier: des Plakatständers) bestehe. Dazu habe der Kläger aber kein Sachvorbringen erstattet. Ereigne sich ein Unfall auf einem Weg iSd § 1319a ABGB, sei dem Geschädigten auch die Berufung auf die allgemeine Verkehrssicherungspflicht verwehrt.

Über Antrag des Klägers erklärte das Berufungsgericht entgegen seinem ursprünglichen Ausspruch die ordentliche Revision nachträglich doch für zulässig. Im Hinblick auf das Argument des Klägers, das für die Anwendbarkeit des § 1319 ABGB geforderte besondere Interesse der beklagten Partei sei im vorliegenden Fall offenkundig, müsse dem Obersten Gerichtshof die Möglichkeit gegeben werden, eine allfällige Fehlbeurteilung der Behauptungslast durch das Berufungsgericht zu korrigieren.

Rechtliche Beurteilung

Die von der klagenden Partei erhobene Revision ist entgegen dem gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig. Weder in dessen Begründung noch in der Revision wird eine erhebliche, für die Entscheidung auch präjudizielle Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dargetan.

1. Nach der neueren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs verdrängt § 1319a ABGB als speziellere Norm § 1319 ABGB, wenn der Wegehalter gleichzeitig als Besitzer einer im Zuge des Wegs befindlichen Anlage zu werten ist (4 Ob 104/97s = SZ 70/71; 2 Ob 158/03d; 1 Ob 260/08d; RIS-Justiz RS0107589). Dies gilt nur dann nicht, wenn ein besonderes Interesse des Wegehalters an der betreffenden Anlage (dem „Werk“) besteht (2 Ob 281/01g; 2 Ob 158/03d; RIS-Justiz RS0107589 [T1]). Als „im Zuge des Wegs befindliche Anlagen“ sind Anlagen iSd § 1319a Abs 2 ABGB zu verstehen (demnach insbesondere Brücken, Stützmauern, Futtermauern, Durchlässe, Gräben oder Pflanzungen), also solche, die dem Verkehr auf dem Weg dienen (vgl 4 Ob 104/97s [Geländer]; 2 Ob 281/01i [Brückenwaage]; 2 Ob 158/03d [Schachtdeckel]; 1 Ob 260/08d [Treppe]; Reischauer in Rummel, ABGB³ II/2b § 1319a Rz 5). Ist ein auf einem Weg aufgeführtes Werk iSd § 1319 ABGB nicht zugleich auch Anlage iSd § 1319a ABGB, so bleibt auch nach der zitierten neueren Rechtsprechung die Anspruchskonkurrenz zwischen diesen beiden Bestimmungen grundsätzlich (weiterhin) bestehen.

Ein in einer Fußgängerzone aufgestellter Plakatständer fördert nicht die bessere Benützbarkeit dieser Verkehrsfläche. Er dient nicht dem Fußgängerverkehr, sondern behindert ihn und ist somit auch nicht als „im Zuge des Wegs befindliche Anlage“ iSd § 1319a Abs 2 ABGB zu qualifizieren. Die vom Berufungsgericht im Zusammenhang mit der Anspruchskonkurrenz erörterte Frage nach einem besonderen Interesse der beklagten Partei an dem Plakatständer stellt sich daher nicht. Dem Kläger kann es dann aber auch nicht zum Nachteil gereichen, wenn er dazu kein Tatsachenvorbringen erstattet hat. Aus diesem Grund kann auch dahingestellt bleiben, ob - wie der Kläger meint - ein solches Interesse offenkundig ist.

2. Im Ergebnis hält sich die Verneinung der Anwendbarkeit des § 1319 ABGB durch das Berufungsgericht aber dennoch im Rahmen der höchstgerichtlichen Judikatur:

§ 1319 ABGB sieht eine Haftung vor, wenn Teile eines Gebäudes oder eines anderen auf einem Grundstück aufgeführten Werks herabstürzen oder sich ablösen und dadurch ein Schaden verursacht wird. Der Besitzer des Gebäudes oder Werks haftet, wenn der Einsturz oder die Ablösung auf einer mangelhaften Beschaffenheit beruht.

Der Begriff „Werk“ wird in der Rechtsprechung weit ausgelegt (RIS-Justiz RS0029880). So wurden etwa künstliche Aufbauten, wie zB Gerüste, Dachgärten, Tribünen, Landungsstege (RIS-Justiz RS0029970), eine Ankündigungstafel (SZ 25/68), eine auf einem Stativ befestigte Fernsehkamera (3 Ob 119/99t) oder ineinander gestapelte Müllcontainer (7 Ob 38/05x) als „Werk“ iSd § 1319 ABGB angesehen. Auch die sinngemäße Anwendung des § 1319 ABGB auf ähnliche Fälle wird bejaht, insbesondere, was die Begriffe des „Werks“ und des „Einsturzes“ bzw „Ablösens“ betrifft (RIS-Justiz RS0029932). Ungeachtet dieser extensiven Auslegung des Werkbegriffs und der Analogiefähigkeit hängt die Haftung nach § 1319 ABGB aber davon ab, dass sich eine typische Gefahr des „Werks“ verwirklicht hat (2 Ob 79/08v mwN; RIS‑Justiz RS0109820).

In Anknüpfung an diese Rechtsprechung hat der erkennende Senat jüngst in der eingehend begründeten Entscheidung 2 Ob 79/08v, bei der es um die von einem ausgegrabenen, auf dem Feld liegen gebliebenen Grenzstein ausgehenden Gefahren ging, unter Hinweis auf einschlägige Vorjudikatur und die Lehrmeinung Reischauers (aaO § 1319 Rz 2) dargelegt, dass die Haftung nach § 1319 ABGB nicht schon durch ein Hindernis als solches begründet werden kann, sondern einer sich aus der Statik und Dynamik eines „Werks“ ergebenden Gefahr als Voraussetzung bedarf (dies noch vernachlässigend 2 Ob 357/97g = JBl 1998, 715 [Koziol]; vgl hingegen 2 Ob 90/98v; 3 Ob 199/99t; 6 Ob 80/02m; 9 Ob 27/04t; RIS-Justiz RS0029932 [T11 und T16]).

Im Sinne der gebotenen weiten Auslegung dieses Begriffs könnte demnach auch ein Plakatständer als „Werk“ beurteilt werden. Die nur der Sicherung des Plakatständers dienende Kette wäre infolge ihrer festen mechanischen Verbindung als Teil dieses „Werks“ anzusehen (RIS-Justiz RS0029970 [T5]). Die typische Gefahr eines solchen „Werks“ (im Sinne eines dynamischen Vorgangs) wäre aber darin gelegen gewesen, dass der Plakatständer aufgrund unzureichender Standsicherheit oder äußerer Einflüsse umstürzen und dabei Schäden herbeiführen hätte können (so etwa im Falle der in der Revision zitierten Entscheidung SZ 25/68; vgl auch 1 Ob 34/05i). Dass diese Gefahr verwirklicht worden wäre, hat der Kläger nicht behauptet. Die Kette, über die er stürzte, stellte sich jedoch als bloßes Hindernis dar.

Mit dem Vorwurf, die Vorinstanzen hätten seinen Anspruch zu Unrecht nicht auch nach § 1319 ABGB geprüft, zeigt der Kläger somit keine Fehlbeurteilung auf, die im Sinne der Einzelfallgerechtigkeit einer Korrektur durch den Obersten Gerichtshof bedürfte.

3. Hat sich der Unfall auf einem Weg iSd § 1319a ABGB ereignet, so kann der Geschädigte die Auswirkungen des damit verbundenen Haftungsprivilegs nicht durch die Berufung auf die in § 1295 ABGB wurzelnde allgemeine Verkehrssicherungspflicht umgehen. Im Anwendungsbereich der besonderen Verkehrssicherungspflicht des Wegehalters gemäß § 1319a ABGB bleibt vielmehr für die Annahme allgemeiner Verkehrssicherungspflichten kein Raum (2 Ob 59/05y mwN; RIS-Justiz RS0111360).

Die Entscheidung des Berufungsgerichts stimmt mit dieser Rechtsprechung überein. Warum diese auf den vorliegenden Fall keine Anwendung finden sollte, wird in der Revision nicht dargetan. Die (wörtliche) Wiederholung der bereits in zweiter Instanz abgelehnten Argumente wirft jedenfalls keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

4. Das Tatbestandsmerkmal „mangelhafter Zustand“ in § 1319a ABGB bedeutet, dass nicht nur für den Weg selbst, sondern auch für dessen Verkehrssicherheit im weiteren Sinn gehaftet wird (2 Ob 53/02m; RIS-Justiz RS0030088). Beurteilungsmaßstab für die Mangelhaftigkeit des Wegs ist das Verkehrsbedürfnis und die Zumutbarkeit entsprechender Maßnahmen. Welche Maßnahmen ein Wegehalter im Einzelnen zu ergreifen hat, richtet sich nach § 1319a Abs 2 letzter Satz ABGB danach, was nach Art des Wegs, besonders nach seiner Widmung, seiner geografischen Lage in der Natur und nach dem Verkehrsbedürfnis angemessen und nach objektiven Maßstäben zumutbar ist. Es kommt im jeweils zu prüfenden Einzelfall darauf an, ob der Wegehalter die ihm zumutbaren Maßnahmen getroffen hat, um die gefahrlose Benützung gerade dieses Wegs zu erreichen (2 Ob 53/02m; 1 Ob 260/05z; 2 Ob 19/06t; 2 Ob 115/08p uva).

Welche Maßnahmen im konkreten Fall zu ergreifen sind, kann nur nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls beurteilt werden und stellt infolge dieser Einzelfallbezogenheit keine erhebliche Rechtsfrage dar (2 Ob 53/02m). Dies trifft auch auf die Beurteilung der Frage zu, ob die Unterlassung einer zumutbaren Maßnahme dem Wegehalter bereits als grobes Verschulden vorgeworfen werden kann. Ermessensfragen, wie solchen über die Schwere des Verschuldens, kommt nämlich im Allgemeinen keine über die besonderen Verhältnisse des Einzelfalls hinausgehende Bedeutung zu (2 Ob 53/02m; 2 Ob 310/02f; 2 Ob 19/06t; RIS‑Justiz RS0087606).

Nach ständiger Rechtsprechung ist unter grober Fahrlässigkeit iSd § 1319a ABGB eine auffallende Sorglosigkeit zu verstehen, bei der die gebotene Sorgfalt nach den Umständen des Falls in ungewöhnlichem Maß verletzt wird und der Eintritt des Schadens nicht nur als möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich vorauszusehen ist. Der objektiv besonders schwere Verstoß muss auch subjektiv schwer anzulasten sein (2 Ob 59/05y mwN; 2 Ob 19/06t; RIS‑Justiz RS0030171).

Eine gravierende, vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Verkennung dieser Rechtslage ist nicht ersichtlich, wenn das Berufungsgericht die Auffassung vertrat, die beklagte Partei habe angesichts der von ihr gewählten Art der Sicherung des Plakatständers mit dem Entstehen einer Kontrollmaßnahmen erfordernden Gefahrenquelle für Fußgänger nicht als wahrscheinlich rechnen müssen. Steht doch fest, dass es erheblicher Gewaltanwendung eines oder mehrerer Dritter bedurfte, um die Kette lösen und den Ständer samt Kette in eine gefahrenträchtige Position rücken zu können.

5. Da keine Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO beantwortet werden musste, ist die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO. Die beklagte Partei hat in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte