OGH 2Ob46/11w

OGH2Ob46/11w19.1.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Sol, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J***** I*****, vertreten durch Dr. Hans Günther Medwed und andere Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei M***** M*****, vertreten durch Dr. Helmut Klementschitz, Rechtsanwalt in Graz, und die Nebenintervenientin auf Seiten der beklagten Partei (nunmehr) H***** GmbH, ***** (vormals: S*****), vertreten durch STINGL und DIETER Rechtsanwälte OG in Graz, wegen 20.000 EUR sA und Feststellung (Streitinteresse: 5.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 15. September 2010, GZ 6 R 63/10x-24, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 24. Februar 2010, GZ 45 Cg 48/09s-18, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.470,24 EUR (darin 245,04 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Die Nebenintervenientin auf Seiten der beklagten Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

Text

Begründung

Am 2. 12. 2008 kam die Klägerin gegen 7:00 Uhr auf einer eisglatten Stelle des abschüssigen Brunnerwegs in Graz auf Höhe einer im Eigentum der Beklagten stehenden Liegenschaft zu Sturz. Dabei zog sie sich diverse Verletzungen zu.

Der von der Nebenintervenientin gehaltene Brunnerweg weist im Unfallbereich ein Gefälle von ca 20 % auf und beschreibt einen „Rechtsknick“ von ca 70 bis 80°. Ein Gehsteig oder ein Gehweg ist nicht vorhanden, die Fahrbahn ist 3,5 m breit. Es besteht ein „Fahrverbot (in beiden Richtungen)“ gemäß § 52 lit a Z 1 StVO. Die - in Gehrichtung der Klägerin - rechts von der Straße gelegene Liegenschaft der Beklagten wird durch einen ca 1,4 m hohen Drahtgitterzaun begrenzt. Auf Höhe der Unfallstelle befindet sich in einer Entfernung von maximal 50 cm zum Sockel des Zauns ein Telegraphenmast.

Die Klägerin, die Winterschuhe mit einer Profilsohle trug, ging den stellenweise mit Eis bedeckten Brunnerweg abwärts, um zur nächstgelegenen Straßenbahnhaltestelle zu gelangen. Dabei hielt sie sich am Zaun der Beklagten fest. Als sie zu dem Telegraphenmast gelangte, musste sie den Zaun loslassen, um dem Mast auszuweichen. Dabei übersah sie eine Eisplatte und kam „innerhalb des Ein-Meter-Streifens vom Zaun der Beklagten“ zu Sturz.

Der Brunnerweg wird seit 30 Jahren von der Nebenintervenientin bestreut und vom Schnee geräumt; zuständig ist der regionale Straßenmeister. Die Schneeräumung wird ausschließlich händisch mit Schneeschaufeln durchgeführt. Ist zu räumen, wird die Straße von zwei Arbeitern mit je einer Schaufel links und rechts freigeschaufelt, sodass „annähernd die gesamte Breite“ der Straße schneefrei ist. Dabei wird „in einem Zug“ auch gestreut. Der Räumschnee wird „links und rechts zu den Grundstücken hingeschaufelt“, im Falle der Eisbildung wird über „die gesamte Breite“ des Brunnerwegs gestreut.

Von den Anrainern des Brunnerwegs wird die Straße weder geräumt noch gestreut. Bei der seinerzeitigen Übernahme des Hauses hatten die Beklagte und ihre Tochter „vom Magistrat“ der Stadt Graz die Auskunft erhalten, „dass der Brunnerweg ein öffentliches Gut sei, sie sich darum nicht kümmern müssten und der Weg in einem Räumprogramm aufgenommen sei“.

Die Betreuung des Brunnerwegs durch den Straßenmeister des Magistrats erfolgt anlassbezogen je nach Bedarf und Schneefall. Einen generellen Dienstplan gibt es dafür nicht. Die Dienstnehmer des Magistrats haben grundsätzlich um 6:30 Uhr ihren Dienstbeginn, bei Schneefall je nach Verfügbarkeit der Arbeiter auch schon früher. Bei regulärer Dienstverrichtung wird der Brunnerweg zwischen 7:30 Uhr und 7:45 Uhr kontrolliert und begangen, wobei gegen 12:00 Uhr mittags eine zweite und letzte Kontrolle folgt. Vor dem Unfalltag hatte zuletzt am 29. 11. 2008 Schneefall geherrscht. Zu Mittag des 1. 12. 2008 hatten die Dienstnehmer des Magistrats den Weg letztmals gestreut bzw kontrolliert.

Die Klägerin begehrte die Zahlung von 20.000 EUR sA sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle künftigen Schadensfolgen aus dem Unfall vom 2. 12. 2008. Die Beklagte habe die sie als Anrainerin treffende Räum- und Streupflicht verletzt.

Die Beklagte berief sich auf ihre mangelnde Passivlegitimation, weil die Nebenintervenientin die Verpflichtung zur Räumung und Streuung durch Einigung iSd § 863 ABGB übernommen habe. Außerdem wandte sie das alleinige, zumindest aber überwiegende Verschulden der Klägerin ein.

Die dem Rechtsstreit auf Seiten der Beklagten beigetretene Nebenintervenientin brachte vor, dass sich die Straße über die gesamte Breite in ordnungsgemäß gestreutem Zustand befunden habe. Die Anrainerpflichten seien von ihr allerdings weder ausdrücklich noch konkludent übernommen worden.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, wobei es im Wesentlichen vom eingangs zusammengefasst wiedergegebenen Sachverhalt ausging.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es sprach zunächst aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige und dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Selbst bei der gebotenen Anlegung eines strengen Maßstabs für die Annahme einer stillschweigenden Willenserklärung habe unter den konkreten Umständen für die Beklagte kein vernünftiger Grund daran zu zweifeln bestanden, dass sich die Nebenintervenientin zur Übernahme der Anrainerpflichten nach § 93 StVO verpflichtet habe. Eine Haftung der Beklagten komme daher nicht in Betracht.

Aufgrund eines Antrags der Klägerin änderte das Berufungsgericht seinen Ausspruch, mit dem es die ordentliche Revision nicht zugelassen hatte, dahin ab, dass die ordentliche Revision doch zulässig sei. Auch wenn der dort beurteilte Sachverhalt mit dem hier vorliegenden nur bedingt vergleichbar sei, könnte aufgrund der Entscheidung 2 Ob 119/98h die Auffassung vertreten werden, dass dem Berufungsgericht eine aus Gründen der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlaufen sei.

Rechtliche Beurteilung

Die von der Klägerin gegen das Berufungsurteil erhobene Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig. Weder in der Begründung des zweitinstanzlichen Zulassungsausspruchs noch in der Revision wird eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dargetan:

1. Gemäß § 93 Abs 1 StVO haben die Anrainer einer dem öffentlichen Verkehr dienenden Straße, wenn weder Gehsteig noch Gehweg vorhanden ist, in der Zeit von 6:00 Uhr bis 22:00 Uhr den Straßenrand entlang ihrer Liegenschaft in der Breite von 1 m zu säubern und zu bestreuen. Gemäß § 93 Abs 5 StVO kann der gemäß § 93 Abs 1 StVO Verpflichtete seine Verpflichtung - ganz oder teilweise (vgl 2 Ob 156/05p) - durch Rechtsgeschäft übertragen, wodurch der durch dieses Rechtsgeschäft Verpflichtete an die Stelle des Eigentümers tritt. Eine derartige Übertragung kann auch schlüssig geschehen (2 Ob 119/98h mwN; 2 Ob 174/99y; 2 Ob 156/05p; 2 Ob 286/05f). In ständiger Rechtsprechung wird die schlüssige Übernahme der Verpflichtung zu Räumungs- und Streumaßnahmen durch eine andere (juristische) Person als den Eigentümer des Grundstücks auch dann bejaht, wenn diese Person die dem Eigentümer obliegenden Tätigkeiten über einen längeren Zeitraum hindurch ausgeführt hat (2 Ob 286/05f mwN; RIS-Justiz RS0014110 [T16 und T22], RS0014585).

2. Zum Verhältnis des § 93 Abs 1 StVO zu § 1319a ABGB vertritt der Oberste Gerichtshof den Standpunkt, dass die Pflichten des Liegenschaftseigentümers nach § 93 StVO nicht unter die Haftungsbeschränkungen des § 1319a ABGB fallen. Die Liegenschaftseigentümer iSd § 93 StVO (Anrainer) haben daher bei Verletzung ihrer Pflichten auch für leichte Fahrlässigkeit einzustehen (2 Ob 26/06x; RIS-Justiz RS0030023). Dem Geschädigten kann demnach sowohl ein unter das Haftungsprivileg des § 1319a ABGB fallender Ersatzanspruch gegen den Halter des Wegs als auch ein nicht auf die Schuldform des Vorsatzes und der groben Fahrlässigkeit eingeschränkter Ersatzanspruch gegen den Anrainer zustehen (2 Ob 26/06x mwN; RIS-Justiz RS0030083).

3. Ist der Anrainer nicht zugleich Wegehalter, können die nach § 93 Abs 1 StVO wahrzunehmenden Pflichten auch auf diesen übertragen werden. Dies kann insbesondere dann zu Abgrenzungsproblemen führen, wenn die Übertragung durch schlüssige Handlungen des Wegehalters bewirkt worden sein soll. Bei der Prüfung dieser Frage ist - wie generell bei schlüssigen Willenserklärungen - ein strenger Maßstab anzulegen. Für den Empfänger darf kein vernünftiger Grund für Zweifel an einem Rechtsfolgewillen des Erklärenden bestehen. Dabei sind die gesamten Umstände des Einzelfalls zur Beurteilung heranzuziehen (2 Ob 119/98h mwN; 2 Ob 286/05f; vgl auch RIS-Justiz RS0013947, RS0014150; Bollenberger in KBB³ § 863 Rz 6). Allein aus der Tatsache, dass ein Wegehalter die gesamte Straße (einschließlich des „Ein-Meter-Streifens“) räumt und streut, muss daher noch nicht zwingend darauf zu schließen sein, dass er die Anrainerpflichten vertraglich übernommen hat, kann er doch auch (nur) in Wahrnehmung seiner eigenen Pflichten nach § 1319a ABGB tätig sein (vgl 2 Ob 119/98h). Allerdings hat die Beurteilung der Konkludenz einer Willenserklärung regelmäßig keine über die besonderen Umstände des Einzelfalls hinausgehende Bedeutung, es sei denn, es läge eine krasse Fehlbeurteilung durch die Vorinstanzen vor (2 Ob 159/10m; RIS-Justiz RS0043253 [T8] ua).

4. Im vorliegenden Fall ist den Vorinstanzen eine derartige Fehlbeurteilung nicht unterlaufen. Der Klägerin ist wohl zuzugeben, dass der Sachverhalt einige Parallelen zu jenem aufweist, der zu 2 Ob 119/98h im Sinne einer Verneinung der konkludenten Übertragung der Anrainerpflichten entschieden wurde. Zweifel an einem Rechtsfolgewillen der Nebenintervenientin hätten nach Ansicht der Klägerin hier vor allem deshalb aufkommen müssen, weil die tatsächliche Betreuung des Brunnerwegs auf einen zeitlich deutlich geringeren Zeitraum als in § 93 Abs 1 StVO vorgesehen beschränkt ist und die Schneeräumung nur über „annähernd“ die gesamte Straßenbreite erfolgt.

Als nicht zu vernachlässigendes zusätzliches Sachverhaltselement ist jedoch die der Beklagten erteilte Auskunft „des Magistrats“ der Stadt Graz zu berücksichtigen, wonach sie sich um den Brunnerweg nicht kümmern müsse. Aus dem Gesamtzusammenhang der erstinstanzlichen Feststellungen zu diesem Thema lässt sich erschließen, dass dieser Auskunft eine konkrete Anfrage der - nicht auf der Liegenschaft wohnenden - Beklagten (bzw ihrer Tochter) über die Besorgung des Winterdienstes zugrunde lag. Mag nun die erteilte Auskunft im Hinblick auf § 867 ABGB und die dazu ergangene Rechtsprechung (RIS-Justiz RS0014699) für das Zustandekommen einer ausdrücklichen Vereinbarung nach § 93 Abs 5 StVO nicht ausreichend gewesen sein - auf eine solche hat sich die Beklagte ohnedies nicht gestützt -, so ist nicht völlig von der Hand zu weisen, dass im Lichte dieser Erklärung ein redlicher Liegenschaftseigentümer die nachfolgende Räum- und Streutätigkeit der Nebenintervenientin entlang seiner Liegenschaft als von den zuständigen Organen gebilligte Übernahme der ihm obliegenden Anrainerpflichten verstehen konnte. Die diesbezügliche Rechtsansicht des Berufungsgerichts hält sich noch im Rahmen der erörterten Rechtsprechung und ist daher nicht unvertretbar.

5. Da es der Lösung von Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht bedarf, ist die Revision zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 40, 41 und 50 ZPO.

Die beklagte Partei hat in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen, sodass ihr mit Ausnahme des verzeichneten Streitgenossenzuschlags (vgl § 15 RATG) Kostenersatz gebührt.

Die Nebenintervenientin führt hingegen zur Unzulässigkeit der Revision nur Unzutreffendes (und ihrem eigenen Rechtsstandpunkt Widersprechendes) aus, weshalb ihr die beantragten Kosten ihrer Revisionsbeantwortung nicht zuzuerkennen sind (vgl 2 Ob 187/11f).

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