European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0150OS00084.23A.0830.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Fachgebiet: Sexualdelikte
Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Graz zugeleitet.
Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * L* der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB, je eines Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB idF BGBl I 2013/116 (I.1. iVm II.) und nach § 201 Abs 1 StGB idgF (I.3. iVm II.) sowie zweier Verbrechen der geschlechtlichen Nötigung nach § 202 Abs 1 StGB (I.2. und I.4. iVm III.) schuldig erkannt.
[2] Danach hat er (zusammengefasst) in L* und S*
I. mit einer unmündigen Person, nämlich der am * 2008 geborenen L*, den Beischlaf unternommen, und zwar
1. zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt im Jahr 2016 im Zuge einer Übernachtung beim Angeklagten, indem er sie mit einer Hand festhielt und mit der anderen Hand auszog, ihr drohte, sie solle es zulassen, ansonsten würde er ihrem daneben liegenden schlafenden Bruder M* etwas antun, sie hinlegte, ihre Beine spreizte, sich auf sie setzte und seinen Penis in ihre Vagina einführte;
2. zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt nach dem ersten Vorfall, indem er L* hinlegte, ihre Beine spreizte, sich auf sie setzte, seinen Penis in ihre Vagina einführte und androhte, sie solle nicht schreien und sich nicht wehren, weil er sonst ihrem Bruder etwas antun würde;
3. zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt nach März 2021, indem er L* beim Oberarm erfasste, sie von der Kommode derart wuchtig wegzog, dass sie zu Boden stürzte, sie aufforderte, nicht zu schreien und ihn nicht zu schlagen, ansonsten würde er ihrem Bruder etwas antun, wobei er auf ihre Nachfrage, was er ihrem Bruder [an]tun würde, antwortete, sie würde dann schon sehen, was er ihrem Bruder antue, es sei jedenfalls nichts Harmloses, ihr die Hose hinunter zog, ihre Beine spreizte, sich auf sie setzte, seinen Penis in ihre Scheide einführte, sie während des Geschlechtsverkehrs zu Boden drückte (US 7) und in weiterer Folge ihren Intimbereich mit der Zunge leckte, wobei er ihr während des vaginalen Verkehrs mit der Hand den Mund zuhielt;
4. zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt im Juli oder August 2021 am T*, indem er sich nachts in ihr Zelt schlich, ihre Beine spreizte, seinen Penis in ihre Scheide einführte und sie nach ihrer Gegenwehr aufforderte, damit aufzuhören, weil er ansonsten ihrem nicht unmittelbar anwesenden (US 24) Bruder etwas antun würde;
5. zu nicht näher bekannten Zeitpunkten seit 2016 in einer unbekannten Anzahl an Vorfällen durch Vollziehung des vaginalen Geschlechtsverkehrs;
II. durch die zu I.1. und I.3. genannten Taten L* mit Gewalt, teilweise auch durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zum Nachteil des ihr als Bruder (US 5) nahestehenden M* (I.1.) zur Duldung des Beischlafes genötigt;
III. durch die zu I.2. und I.4. genannten Taten durch gefährliche Drohung mit zumindest einer Verletzung des ihr als Bruder nahestehenden M* zur Duldung einer geschlechtlichen Handlung genötigt.
Rechtliche Beurteilung
[3] Dagegen richtet sich die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten aus § 281 Abs 1 Z 3, 4, 5 und 5a StPO, die ihr Ziel verfehlt.
[4] Der Verfahrensrüge aus Z 3, die das Unterbleiben der Zustellung des Protokolls der Hauptverhandlung am 16. Jänner 2023 releviert, ist zu erwidern, dass nur das gänzliche Unterbleiben einer Protokollführung über die Hauptverhandlung mit Nichtigkeit bedroht ist (RIS‑Justiz RS0098665; RS0099003 [T11]). Die bloß unvollständige Zustellung eines Protokolls nach Ende der Hauptverhandlung ist weder von dieser Anfechtungskategorie, die auf Fehler in der Hauptverhandlung abstellt (vgl Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 192 zum hier maßgeblichen zeitlichen Rahmen), noch sonst von einem Nichtigkeitsgrund erfasst. Ein solcher Vorgang wirkt sich auch nicht auf den Beginn der – allein durch die Zustellung des Urteils ausgelösten – Frist zur Ausführung des Rechtsmittels aus (RIS‑Justiz RS0124686; RS0124905).
[5] Bezugspunkt der Verfahrensrüge aus Z 4 kann nur ein in der Hauptverhandlung gestellter Antrag samt der im Antragszeitpunkt abgegebenen Begründung sein; der Berücksichtigung (erst) im Rechtsmittel nachgetragener Argumente steht das Neuerungsverbot entgegen (RIS‑Justiz RS0099117; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 325). Der solcherart allein maßgebliche Antrag auf „Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens zum Beweis dafür, dass die Zeugin L* Fabulationstendenzen aufweist und zur Lügenhaftigkeit neigt“ (ON 28.1.1, 6; zur prinzipiell gebotenen Bezeichnung der Fundstelle allfälliger Antragstellung vgl RIS‑Justiz RS0124172), zeigt keine besonderen Gründe – zB Hinweise auf Entwicklungsstörungen oder geistige Defekte – auf, die gegen die Fähigkeit korrekter Wahrnehmung von Tatsachen und Wiedergabe solcher Wahrnehmungen oder gegen die Aussageehrlichkeit der Zeugin schlechthin gesprochen hätten. Dies wäre aber Voraussetzung für die Aufnahme des beantragten Sachverständigenbeweises gewesen, weil die Beurteilung der Überzeugungskraft von Aussagen ohne derartige Hinweise ausschließlich in die Kompetenz der Tatrichter im Rahmen der freien Beweiswürdigung fällt (§ 258 Abs 2 StPO). Deshalb wurde der Angeklagte durch die Abweisung seines diesem Erfordernis nicht entsprechenden Antrags in Verteidigungsrechten nicht verletzt (ON 28.1.1, 7; RIS‑Justiz RS0098297; RS0097733).
[6] Die zu I.5. Undeutlichkeit aus Z 5 erster Fall behauptende Mängelrüge erklärt nicht, welche Feststellung entscheidender Tatsachen oder welche Begründung einer solchen Feststellung undeutlich iSv „nicht für alle Urteilsadressaten verständlich“ sein sollte (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 419), weswegen sie einer inhaltlichen Auseinandersetzung nicht zugänglich ist (RIS‑Justiz RS0130729).
[7] Unvollständigkeit iSd Z 5 zweiter Fall liegt (nur) dann vor, wenn bei Feststellungen entscheidender Tatsachen in der Hauptverhandlung vorgekommene (§ 258 Abs 1 StPO) erhebliche Verfahrensergebnisse, also solche, die geeignet sein können, die Überzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen einer entscheidenden Tatsache zu beeinflussen, unberücksichtigt blieben (RIS‑Justiz RS0118316; RS0116877). Dabei ist – mit Blick auf die fehlende „Feststellungen“ reklamierende Mängelrüge – klarzustellen, dass nur für die Schuld- und Subsumtionsfrage (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) entscheidende Tatsachen (allerdings nicht unter Aspekten von Z 5 zweiter Fall, sondern von § 281 Abs 1 Z 9 und Z 10 StPO) festgestellt werden müssen, nicht aber andere Umstände, die stattdessen, wenn sie im beschriebenen Sinn erheblich sind, unter Berücksichtigung des Gebots gedrängter Darstellung (§ 270 Abs 2 Z 5 StPO) in der Beweiswürdigung zu erörtern sind (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 16 f, 22, 28 f, 398 f, 409, 420 f).
[8] Mit der schlichten Behauptung, Gewicht und Statur des Angeklagten ließen die Angaben der Zeugin L* und die darauf gegründeten Feststellungen zu den Tathandlungen unplausibel, geradezu denkunmöglich erscheinen, wozu das Schöffengericht aber keine Feststellungen getroffen habe, zeigt der Nichtigkeitswerber keine Unvollständigkeit im bezeichneten Sinn auf.
[9] Den allfälligen Zustand des Bettes, auch in Relation zum Gewicht des Angeklagten, und den Umstand, dass (bei I.1.) auch der Bruder des Opfers darin geschlafen hatte, berücksichtigte das Schöffengericht im gebotenen Umfang (US 20 f), sodass Unvollständigkeit schon deshalb nicht vorliegt.
[10] Die Kritik, bei I.4. sei nicht berücksichtigt worden, dass L* nur eine Nacht allein im Zelt geschlafen habe, übersieht die Ausführungen auf US 22 („[…] von sämtlichen Zeugen bestätigt wurde, dass L* zumindest eine Nacht alleine in einem der beiden Zelte geschlafen hat […]“). Der ebenso zu I.4. vorgebrachte Einwand, es fehle die „Feststellung“, dass D*, die Mutter der L*, nicht Musik gehört habe, weshalb sie es hätte merken müssen, wenn der Angeklagte ins Zelt des Opfers geschlichen wäre, übergeht die dazu angestellten, auf die für plausibel erachteten Angaben der L* gestützten gegenteiligen Annahmen der Tatrichter (US 8, 22). Eine Außerachtlassung der – jeweils ausführlich gewürdigten und als weitgehend nicht überzeugend eingestuften (US 16, 20, 22) – Deponate der Zeugin D* und des Angeklagten wird gar nicht behauptet.
[11] Dass das Schöffengericht im Rahmen der (ohnedies umfassenden; US 10 bis 23) Beweiswürdigung nicht jedes einzelne Verfahrensergebnis und jeden Detailaspekt ausdrücklich in alle denkbaren Richtungen analysierte und andere Schlüsse zog als der Nichtigkeitswerber, der insoweit in seinem Rechtsmittel nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen (§ 283 Abs 1 StPO) Schuldberufung argumentiert, vermag diesen Nichtigkeitsgrund somit nicht herzustellen (RIS‑Justiz RS0098377 [T1, T7, T20, T25]; RS0104976).
[12] Bleibt – mit Blick auf die Behauptung fehlender Feststellungen im Allgemeinen und zu I.5. im Besonderen (nominell Z 5 zweiter Fall, inhaltlich Z 9 oder Z 10) – anzumerken, dass der Nichtigkeitswerber nicht aufzeigt, welcher weiteren Feststellungen entscheidender Tatsachen es für die jeweilige Subsumtion (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) bedurft hätte.
[13] Die Tatsachenrüge aus Z 5a steht lediglich gegen erheblich bedenklichen (grob unvernünftigen) Gebrauch von Beweiswürdigungsermessen durch die Tatrichter offen. Eine darüber hinausgehende Auseinandersetzung mit der Überzeugungskraft von Beweisergebnissen, wie sie etwa die Schuldberufung im einzelrichterlichen Verfahren ermöglicht, wird dadurch nicht eröffnet. Deshalb beantwortet der Oberste Gerichtshof außerhalb solcher Sonderfälle gelegene Tatsachenrügen auch ohne eingehende beweiswürdigende Erwägungen, um keine Missverständnisse über den Umfang seiner Eingriffsbefugnisse aufkommen zu lassen (RIS‑Justiz RS0118780; RS0119583).
[14] Mit ihren Überlegungen zum Gewicht des Angeklagten und dessen (angebliche) Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Tatbegehung, zu einzelnen Tatumständen (etwa zum Bruder, der während der zu I.1. beschriebenen Tat im selben Bett geschlafen hatte; vgl US 6), sowie mit ihren Analysen von Details einzelner Aussagen, insbesondere von L*, ergänzt um bewertende Gegenüberstellung anderer Aussagen und darauf gegründete, dem eigenen Standpunkt entsprechende Schlüsse zu Wahrheitswahrscheinlichkeiten und zur Überzeugungskraft der Aussage der L*, zeigt die Tatsachenrüge keinen Umstand auf, der qualifizierte Bedenken im Sinn dieses Nichtigkeitsgrundes wecken würde. Der angesprochene Zweifelsgrundsatz (§ 14 zweiter Teilsatz StPO) ist nicht Gegenstand dieser Anfechtungskategorie (RIS‑Justiz RS0102162).
[15] Die Nichtigkeitsbeschwerde war deshalb – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – gemäß § 285d Abs 1 StPO bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen. Die Entscheidung über die Berufung kommt dem Oberlandesgericht zu (§ 285i StPO).
[16] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.
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