European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00092.24D.0625.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Am 18. 3. 2022 ereignete sich im Stadtgebiet von Salzburg im Kreuzungsbereich der Franz‑Huemer‑Straße mit der Bräuhausstraße ein Verkehrsunfall, an dem die klagende E‑Scooter‑Fahrerin und der Erstbeklagte als Lenker des von der Zweitbeklagten gehaltenen und bei der Drittbeklagten haftpflichtversicherten LKW beteiligt waren.
[2] Die Franz‑Huemer‑Straße verläuft in Fahrtrichtung stadteinwärts bis zur Kreuzung mit der Bräuhausstraße annähernd gerade. Unmittelbar vor dem Erreichen des Kreuzungsbereichs mit der Bräuhausstraße sind zwei Fahrstreifen markiert, die durch keine Leitlinie voneinander getrennt sind. Der (stadteinwärts betrachtet) linke Fahrstreifen ist mit einem weißem Pfeil für Linksabbieger gekennzeichnet, der rechte Fahrstreifen mit einem Pfeil geradeaus und einem Pfeil für Rechtsabbieger. Vor dem Kreuzungsbereich befindet sich eine Haltelinie. Rechts neben der Fahrbahn ist ein gemeinsamer Geh- und Radweg situiert, der zunächst noch durch eine Grünfläche von der Fahrbahn abgetrennt ist, bis er einige Meter vor dem Kreuzungsbereich schließlich in einer Linkskurve in diesen einmündet. In der unmittelbaren Annäherung zum Kreuzungsbereich trennt ein Randstein den gemeinsamen Geh- und Radweg von der Fahrbahn. Unmittelbar vor dem Kreuzungsbereich befindet sich das Verkehrszeichen „Ende des gemeinsamen Geh- und Radweges“. Der Übergang über die Bräuhausstraße ist durch gleichmäßige weiße Längsstreifen („Zebrastreifen“) gestaltet. Links vom Zebrastreifen befinden sich etwas versetzte zur Fahrbahn stadteinwärts etwa parallel verlaufende unterbrochene Liniensegmente. Die Unfallörtlichkeit stellt sich dar, wie auf folgendem Lichtbild ersichtlich:
[3] Die Kreuzung ist mit einer Verkehrslichtsignalanlage geregelt. Der von der Franz‑Huemer‑Straße stadteinwärts kommende Fahrzeugverkehr wird durch eine dreistufige Lichtsignalanlage geregelt. Der sich – stadteinwärts betrachtet – rechts der unmittelbaren Kreuzung befindliche Übergang über die Bräuhausstraße ist mit einer zweistufigen Lichtsignalanlage geregelt, wobei die Lichtzeichen (Rot und Grün) je einen Radfahrer und einen Fußgänger zeigen. Das Lichtsignal für den sich rechts der unmittelbaren Kreuzung befindlichen Übergang über die Bräuhausstraße ist für Fahrzeuglenker, die sich auf einem der stadteinwärts führenden Fahrstreifen unmittelbar vor dem Kreuzungsbereich befinden, gut einsehbar. Die Lichtsignalanlage für den Straßenverkehr ist von dem gemeinsamen Geh- und Radweg aus ebenso gut einsehbar. Die Verkehrslichtsignalanlage des Kreuzungsbereichs ist so programmiert, dass in dem Moment, in dem das Lichtsignal für die stadteinwärts auf der Fahrbahn kommenden Fahrzeuge von Rot auf Gelb schaltet, das Lichtsignal für den Übergang über die Bräuhausstraße synchron von Rot auf Grün schaltet.
[4] Die Klägerin war mit ihrem E-Scooter, der eine Leistung von unter 600 Watt und eine Bauartgeschwindigkeit von weniger als 25 km/h aufwies, auf dem gemeinsamen Geh- und Radweg neben der Franz-Huemer‑Straße stadteinwärts unterwegs und wollte die Bräuhausstraße queren, um ihre Fahrt der Franz-Huemer‑Straße folgend stadteinwärts fortzusetzen. Als sie sich dem Kreuzungsbereich der Franz-Huemer-Straße mit der Bräuhausstraße näherte, hielt sie eine Geschwindigkeit von etwa 15 km/h ein und nutzte den äußersten linken Bereich des gemeinsamen Geh- und Radweges. Etwa 20 Meter vor dem Erreichen des Kreuzungsbereichs blickte die Klägerin nach links und nahm dort einige an der Haltelinie wartende Fahrzeuge wahr, deren Verkehrslichtsignalanlage Rot aufleuchtete. Darauf, ob diese Fahrzeuge im Begriff waren, bereits loszufahren, achtete die Klägerin nicht. Anschließend richtete sie ihren Blick nach vorne und bemerkte, dass das Lichtsignal über dem Übergang über die Bräuhausstraße auf Grün geschaltet war. Auf die Verkehrslichtsignalanlage für den auf der Franz‑Huemer‑Straße stadteinwärts fahrenden Verkehr und die sich auf der Franz-Huemer-Straße befindlichen Fahrzeuge achtete die Klägerin nicht weiter. Kurz vor dem Einfahren in den Kreuzungsbereich verringerte die Klägerin ihre Geschwindigkeit und richtete ihren Blick auf die quer verlaufende Randsteinkante, die sich unmittelbar vor der Einfahrt in die Bräuhausstraße befindet. Anschließend fuhr die Klägerin – ohne anzuhalten – mit ihrem E-Scooter mit einer Geschwindigkeit von 8 bis 10 km/h (in ihre Fahrtrichtung betrachtet) knapp links der quer verlaufenden Liniensegmente in den Kreuzungsbereich ein. Nach links oder rechts blickte die Klägerin unmittelbar vor dem Einfahren in den Kreuzungsbereich nicht. Als die Klägerin ihren Blick wieder nach vorne richtete, nahm sie plötzlich die sich unmittelbar vor ihr befindliche Fahrerkabine des Beklagtenfahrzeugs wahr. Die Klägerin versuchte zwar noch, sich nach rechts wegzudrängen und ließ ihren E-Scooter los, konnte eine Kollision mit der rechten Außenflanke des Beklagtenfahrzeugs jedoch nicht mehr vermeiden, kam zu Sturz und wurde von den rechten Hinterrädern des Beklagtenfahrzeugs überrollt.
[5] Der Erstbeklagte war mit dem LKW auf der Fahrbahn der Franz-Huemer-Straße stadteinwärts unterwegs und wollte (in seine Fahrtrichtung betrachtet) rechts in die Bräuhausstraße einbiegen. Das Beklagtenfahrzeug war an den Außenseiten mit einer Stange von insgesamt drei Spiegeln (Normalspiegel, Weitwinkelspiegel und Rampenspiegel) ausgestattet. Als sich der Erstbeklagte der Kreuzung näherte, hatte das Lichtsignal für den Straßenverkehr stadteinwärts auf Rot geschalten, weshalb er das Beklagtenfahrzeug unmittelbar vor der Haltelinie auf dem rechten Fahrstreifen für eine Zeitspanne von etwa 20 Sekunden zum Stillstand brachte. Als das Lichtsignal auf Grün schaltete, setzte der Erstbeklagte das rechte Blinkzeichen des Beklagtenfahrzeugs, warf einen Blick nach links und rechts in die jeweils außenseitig montierten Spiegel des LKW und begann mit seinem Einbiegemanöver. Der Erstbeklagte bemerkte zwar, dass das Lichtzeichen für den Übergang über die Bräuhausstraße ebenso auf Grün geschalten hatte. Die Klägerin fiel ihm aber nicht auf. Aufgrund der Größe des Beklagtenfahrzeugs bewegte der Erstbeklagte dieses noch etwa 4 Meter weiter geradeaus und lenkte nach links aus, wobei er auf eine Geschwindigkeit von 20 km/h beschleunigte, bevor er seine Geschwindigkeit etwas verringerte und nach rechts einschlug. Vor dem Einschlagen nach rechts blickte der Erstbeklagte abermals kurz in die auf der rechten Außenseite montierten Spiegel des Beklagtenfahrzeugs, nahm dabei niemanden wahr, setzte sein Abbiegemanöver fort und beschleunigte abermals auf etwa 20 km/h. Als das Beklagtenfahrzeug bereits annähernd parallel zur Bräuhausstraße ausgerichtet war und die Fahrerkabine bereits die quer zur Franz-Huemer-Straße verlaufenden Liniensegmente überquert hatte, bemerkte der Erstbeklagte einen „Rumpler“, der sich schließlich als Kollision mit der Klägerin herausstellte. Zuvor hatte der Erstbeklagte die Klägerin nicht bemerkt.
[6] Die Kollision ereignete sich auf der Bräuhausstraße etwa 3 bis 3,5 Meter stadteinwärts von jener Randsteinleiste entfernt, die den äußersten Rand der Fahrbahn der Bräuhausstraße markiert, knapp links oder bereits auf den quer verlaufenden Liniensegementen, die den Übergang kennzeichnen. Als die Klägerin in die Bräuhausstraße einfuhr, befand sich das Beklagtenfahrzeug mit der Fahrerkabine kurz vor oder bereits über den quer verlaufenden Liniensegmenten, über die Bräuhausstraße. Die Klägerin legte bis zum Erreichen der Kollisionsstelle ab dem Passieren der Randsteinleiste etwa 3 bis 3,5 Meter in einer Zeitspanne von 0,7 bis 1,2 Sekunden zurück. Der Beklagte legte ab dem Losfahren bis zur Kollisionsstelle eine Wegstrecke von etwas mehr als 20 Metern in einer Zeitspanne von 8 bis 9 Sekunden zurück. Die Klägerin hätte die Kollision vermeiden können, wenn sie vor dem Einfahren in die Bräuhausstraße das Verkehrsgeschehen sorgfältig beobachtet hätte. In diesem Fall hätte sie das sich bereits im Nahebereich befindliche Beklagtenfahrzeug durch einen Blick nach links erkennen, den E-Scooter zum Stillstand bringen und durch Zuwarten mit ihrem Querungsmanöver das Unfallgeschehen vermeiden können. Der Erstbeklagte hätte die Kollision vermeiden können, wenn er sich sorgfältig und aufmerksam über die gefahrlose Möglichkeit seines Einbiegemanövers vergewissert hätte. In diesem Fall hätte er noch in seiner Stillstandposition vor der Haltelinie durch sorgfältige Sicherungsblicke in den Normal- und Weitwinkelspiegel an der rechten Außenseite des LKW die sich nähernde Klägerin erkennen, bei seinem Rechtseinbiegemanöver auf diese sorgfältig achten und durch Anhalten vor der Querungslinie der Klägerin das Unfallgeschehen vermeiden können. Die Wahl einer engeren Kurve beim Rechtseinbiegen hätte die Intensität des Anstoßes nicht verhindert und auch die Verletzungsgefahr der Klägerin nicht herabgesetzt.
[7] Die Klägerin begehrt die Zahlung von Schadenersatz in Höhe von 124.534,35 EUR und stellt ein Feststellungsbegehren. Sie bringt zusammengefasst vor, der Erstbeklagte habe sie bei der Überquerung der von ihr benützten Radfahrerüberfahrt aufgrund eines massiven Aufmerksamkeitsfehlers übersehen. Sie habe darauf vertrauen dürfen, die Radfahrerüberfahrt gefahrlos überqueren zu können. Auch als E-Scooter-Fahrerin sei sie nicht benachrangt gewesen.
[8] Die Beklagten wenden ein gleichteiliges Mitverschulden der Klägerin ein und bringen dazu vor, der Erstbeklagte habe im Zuge seines Einbiegemanövers die Klägerin nicht wahrnehmen können. Diese sei seitlich in das Beklagtenfahrzeug hineingefahren, als der Erstbeklagte das Einbiegemanöver schon fast beendet gehabt habe. Zwar sei das Fahren mit dem E-Scooter auf Fahrbahnen, auf denen Radfahren erlaubt sei, zulässig. Allerdings normiere § 88b Abs 3 StVO eine Unterordnungspflicht für E-Scooter-Fahrer, sodass die Klägerin selbst auf einer Radfahrerüberfahrt im Nachrang gewesen sei. Der Erstbeklagte sei nicht dazu verpflichtet gewesen, ihr das gefahrlose Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen, weil § 9 Abs 2 StVO nur auf Radfahrer und Rollschuhfahrer, aber nicht auf E‑Scooter‑Fahrer anzuwenden sei. Die Unfallstelle liege überdies nicht im Bereich einer Radfahrerüberfahrt, weil vor der Kreuzung das Verkehrszeichen „Geh und Radweg aufgehoben“ angebracht sei.
[9] Mit Teilzwischen- und Teilurteil sprach das Erstgericht aus, das Zahlungsbegehren bestehe dem Grunde nach zur Hälfte zu Recht und wies das Zahlungsmehrbegehren sowie das Feststellungsbegehren im Umfang von 50 % ab. Rechtlich führte das Erstgericht aus, beim von der Klägerin verwendeten E-Scooter handle es sich um kein Fahrzeug iSd EKHG. Eine Radfahrerüberfahrt iSd § 2 Abs 1 Z 12a StVO sei nicht vorhanden gewesen, weil der gemeinsame Geh- und Radweg vor dem Erreichen der Unfallstelle aufgehoben worden sei und auch sonst keine Quermarkierungen vorhanden gewesen seien, die das Überqueren der Fahrbahn als solcher auf einem „Schutzweg für Radfahrer“ erscheinen ließen. Der Klägerin habe daher keine bevorrangte Verkehrsfläche zur Verfügung gestanden. Sie habe aufgrund der Außerachtlassung der Verkehrsbeobachtung vor dem Überqueren der Bräuhausstraße gegen § 88b Abs 3 StVO verstoßen, der sie dazu verpflichte, andere Verkehrsteilnehmer weder zu behindern noch zu gefährden. Der den Erstbeklagten im Wesentlichen belastende Vorwurf, sich nicht ausreichend von der Gefahrlosigkeit seines Einbiegemanövers überzeugt zu haben, wiege gleich schwer.
[10] Das von der Klägerin im klagsabweisenden Entscheidungsteil angerufene Berufungsgericht hob die Entscheidung im angefochtenen Umfang auf und trug dem Erstgericht eine neue Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Rechtlich qualifizierte es den von der Klägerin verwendeten E-Sooter als Fahrzeug iSd § 2 Abs 1 Z 19 StVO. Der Gesetzgeber habe in § 88b StVO zum Ausdruck gebracht, E-Scooter-Fahrer den für Radfahrer geltenden Regeln unterstellen zu wollen, sodass die Vorrangbestimmungen nach § 19 Abs 5 zweiter Satz und Abs 6a StVO zur Anwendung kommen. Da schräge Radfahrerüberfahrten gemäß § 17 Abs 1 letzter Satz Bodenmarkierungsverordnung auch durch Parallelogramme gekennzeichnet sein können und eine Regelung durch Lichtzeichen iSd § 56a Abs 2 zweiter Satz StVO vorhanden war, liege trotz des Verkehrszeichens „Ende des gemeinsamen Geh- und Radwegs“ eine Radfahrerüberfahrt vor. Mangels ausreichend klarer Feststellungen, ab welchem Zeitpunkt die Klägerin erkennen hätte können, dass das Beklagtenfahrzeug reaktionslos in ihren Fahrkanal einfahren werde, lasse sich eine ihr allenfalls nur anzulastende Reaktionsverspätung aber noch nicht abschließend beurteilen. Den Rekurs ließ das Berufungsgericht zur Frage zu, ob die Vorrangbestimmungen der StVO auch auf Klein- und Miniroller anzuwenden sind.
[11] Dagegen richtet sich der Rekurs der Beklagten mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an eine der Vorinstanzen zurückzuverweisen.
[12] Die Klägerin beantragt, dem Rekurs nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[13] Der Rekurs ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber im Ergebnis nicht berechtigt.
[14] Der Rekurs argumentiert, eine Radfahrerüberfahrt sei nicht vorhanden gewesen. Nach dem Willen des Gesetzgebers des § 88b StVO sei der von der Klägerin verwendete E-Scooter nicht als Fahrzeug iSd § 2 Abs 1 Z 19 StVO zu qualifizieren, sodass die vom Berufungsgericht herangezogenen Vorrangbestimmungen des § 19 Abs 5 zweiter Satz, Abs 6a StVO nicht zur Anwendung kommen. Vielmehr normiere § 88b Abs 3 StVO eine generelle, von der Klägerin missachtete Unterordnungspflicht für E-Scooter-Fahrer gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern.
Dazu hat der erkennende Fachsenat erwogen:
[15] 1. Die vom Berufungsgericht herangezogenen Vorrangregeln des § 19 StVO kommen auf den vorliegenden Sachverhalt schon deshalb nicht zur Anwendung, weil eine Verkehrsregelung durch Lichtzeichen erfolgt (2 Ob 28/91 = ZVR 1992/1). Bei einer durch Lichtzeichen geregelten Kreuzung ergibt sich die Beantwortung der Frage, wer fahren darf und wer anzuhalten hat, vielmehr aus § 38 StVO (RS0075067). Auch der – nach seinem Wortlaut nur auf Radfahrer und Rollschuhfahrer Bezug nehmende – § 9 Abs 2 StVO ist aufgrund der Verkehrsregelung durch Lichtzeichen im Hinblick auf § 36 Abs 4 StVO nicht einschlägig (RS0124319 = 2 Ob 86/08y Pkt 5.).
[16] 2.1 Nach § 38 Abs 4 StVO gilt grünes Licht als Zeichen für „Freie Fahrt“ (Satz 1). Bei diesem Zeichen haben die Lenker von Fahrzeugen weiterzufahren oder einzubiegen, wenn es die Verkehrslage zulässt (Satz 2). Beim Einbiegen dürfen die Benützer der freigegebenen Fahrstreifen sowie Fußgänger und Radfahrer, welche die Fahrbahn im Sinn der für sie geltenden Regelungen überqueren, weder gefährdet noch behindert werden (Satz 3).
[17] Grünes Licht bedeutet kein absolutes Gebot, das Zeichen „Freie Fahrt“ zu befolgen; es befreit den Verkehrsteilnehmer nicht von der Verpflichtung, die Verkehrslage zu beobachten und seine Weiterfahrt danach einzurichten (RS0075345).
[18] 2.2 Diese Bestimmung enthält keine Vorrang-, sondern eine allgemeine Verhaltensregel, die sowohl beim Rechtseinbiegen als auch beim Linkseinbiegen zu beachten ist. Den Fußgängern und Radfahrern erwächst aus dieser Bestimmung das Recht auf ungehinderte und ungefährdete Überquerung der Fahrbahn bei Grünlicht der für sie geltenden Lichtsignale auf einem vorhandenen Schutzweg bzw einer Radfahrerüberfahrt, dem das vom einbiegenden Fahrzeuglenker zu beachtende Behinderungs- und Gefährdungsverbot gegenübersteht (RS0124318 = 2 Ob 86/08y Pkt 5.). Dies gilt auch dann, wenn die Begrenzung der Bodenmarkierung überfahren und der (knapp) daneben befindliche Fahrbahnteil benutzt wird (vgl 2 Ob 92/89 = RS0073446). Dadurch wird das in § 38 Abs 4 StVO für Einbiegende statuierte Gefährdungs- und Behinderungsverbot nicht außer Kraft gesetzt.
[19] Aber auch dann, wenn keine Radfahrerüberfahrt vorhanden ist, darf ein bei Grünlicht einbiegender Fahrzeuglenker einen Radfahrer, der ebenfalls bei Grünlicht die Kreuzung auf dem Fahrstreifen geradeaus übersetzt, als (berechtigten) „Benützer des freigegebenen Fahrstreifens“ gemäß § 38 Abs 4 StVO weder gefährden noch behindern (RS0073353 = 2 Ob 28/91 = ZVR 1992/1).
[20] Hätte daher ein Radfahrer den Kreuzungsbereich – wie die Klägerin – bei Grünlicht (knapp) links der unterbrochenen Liniensegmente auf dem freigegebenen Fahrstreifen geradeaus übersetzt, hätte der Erstbeklagte ihn gemäß § 38 Abs 4 StVO nicht gefährden oder behindern dürfen, ohne dass es auf das Vorhandensein einer Radfahrerüberfahrt ankommt.
[21] Zu prüfen ist, ob diese Grundsätze auch gegenüber E-Scooter-Fahrern gelten.
[22] 3. Der Gesetzgeber hat mit der 31. StVO‑Novelle, BGBl I 37/2019, die Definition des Fahrzeugs in § 2 Abs 1 Z 19 StVO geändert und überdies im X. Abschnitt über die Benützung von Straßen zu verkehrsfremden Zwecken § 88b StVO (Rollerfahren) eingefügt.
[23] 3.1 § 2 Abs 1 Z 19 StVO idgF lautet:
„19. Fahrzeug: ein zur Verwendung auf Straßen bestimmtes oder auf Straßen verwendetes Beförderungsmittel oder eine fahrbare Arbeitsmaschine, ausgenommen Rollstühle, Kinderwagen, Schubkarren und ähnliche, vorwiegend zur Verwendung außerhalb der Fahrbahn bestimmte Kleinfahrzeuge (etwa Mini- und Kleinroller ohne Sitzvorrichtung, mit Lenkstange, Trittbrett und mit einem äußeren Felgendurchmesser von höchstens 300 mm) sowie fahrzeugähnliches Spielzeug (etwa Kinderfahrräder mit einem äußeren Felgendurchmesser von höchstens 300 mm und einer erreichbaren Fahrgeschwindigkeit von höchstens 5 km/h) und Wintersportgeräte;“
[24] § 88b StVO idgF lautet (auszugsweise) wie folgt:
„(1) Das Fahren mit Klein- und Minirollern mit elektrischem Antrieb (elektrisch betriebene Klein- und Miniroller) ist auf Gehsteigen, Gehwegen und Schutzwegen verboten. Ausgenommen von diesem Verbot sind Gehsteige und Gehwege, auf denen durch Verordnung der Behörde das Fahren mit elektrisch betriebenen Klein- und Minirollern mit einer höchsten zulässigen Leistung von nicht mehr als 600 Watt und einer Bauartgeschwindigkeit von nicht mehr als 25 km/h erlaubt wurde. Das Fahren ist ferner mit elektrisch betriebenen Klein- und Minirollern mit einer höchsten zulässigen Leistung von nicht mehr als 600 Watt und einer Bauartgeschwindigkeit von nicht mehr als 25 km/h auf Fahrbahnen, auf denen das Radfahren erlaubt ist, zulässig.
(2) Bei der Benutzung von elektrisch betriebenen Klein- und Minirollern sind alle für Radfahrer geltenden Verhaltensvorschriften zu beachten; insbesondere gilt die Benützungspflicht für Radfahranlagen (§ 68 Abs. 1) sinngemäß. Bei der Benützung von Radfahranlagen haben Rollerfahrer die gemäß § 8a vorgeschriebene Fahrtrichtung einzuhalten.
(3) Benutzer von elektrisch betriebenen Klein- und Minirollern haben sich so zu verhalten, dass andere Verkehrsteilnehmer weder gefährdet noch behindert werden; insbesondere haben sie auf Gehsteigen und Gehwegen Schrittgeschwindigkeit einzuhalten sowie die Geschwindigkeit in Fußgängerzonen, in Wohnstraßen und in Begegnungszonen dem Fußgängerverkehr anzupassen.
(4) ...“
[25] 3.2 Die Gesetzesmaterialien (ErläutRV 559 BlgNR 26. GP 1) halten zu den neu eingefügten Bestimmungen allgemein fest, dass Trendsportgeräte einen immer größer werdenden Anteil am Verkehrsgeschehen einnehmen und die rechtlichen Rahmenbedingungen daher eine Adaptierung erfahren sollen, um einerseits diesem Trend gerecht werden zu können und andererseits das geänderte Verkehrsgeschehen in solche Bahnen zu lenken, um ein sicheres Miteinander aller Verkehrsteilnehmer auch weiterhin gewährleisten zu können. Klein- und Miniroller (Scooter und Miniscooter) sollen daher zur rechtlichen Klarstellung näher definiert werden.
[26] Zu § 2 Abs 1 Z 19 StVO führen die Materialien (ErläutRV 559 BlgNR 26. GP 1) Folgendes aus:
„Die rechtliche Einordnung der Trendsportgeräte erfolgt bereits jetzt über den Fahrzeugbegriff. Schon aus den Materialien zur Stammfassung der Straßenverkehrsordnung ergibt sich, dass mit dem Begriff des Fahrzeuges 'die Vorstellung verbunden ist, dass damit Personen und Sachen auch über weitere Wegstrecken befördert werden können'. Daraus ergibt sich, dass Fortbewegungsmittel, die nicht vorrangig einem Verkehrsbedürfnis dienen sondern auch einen Spiel- und Freizeitzweck verfolgen oder für die für die Benützung besondere Geschicklichkeit erforderlich ist, keine Fahrzeuge sein können. Ebenfalls trifft dies auf Fortbewegungsmittel zu, die aufgrund ihrer technischen Ausführung nicht geeignet sind, ein sicheres Fahren zu gewährleisten und die den üblichen Anforderungen im Straßenverkehr somit nicht gerecht werden können. Da dies auf nahezu alle Trendsportgeräte zutrifft, sind diese bereits jetzt als vorwiegend zur Verwendung außerhalb der Fahrbahn bestimmte Kleinfahrzeuge bzw. als fahrzeugähnliches Kinderspielzeug zu qualifizieren, wobei diese Unterscheidung hinsichtlich der Rechtsfolgen für die Benützung auf Straßen mit öffentlichem Verkehr unerheblich bleibt. Als Beispiel dafür lassen sich Skateboards, Hoverboards, Einräder oder auch Scooter und Miniscooter nennen, unabhängig davon, ob sie über einen elektrischen Antrieb verfügen.
Zur rechtlichen Klarstellung sollen Klein- und Miniroller (Scooter und Miniscooter) näher definiert werden.
Unverändert bleibt die Definition des § 2 Abs. 1 Z 22 lit. c, wonach Roller als Fahrräder gelten. Bereits jetzt gibt es Roller, die einem Fahrrad ähneln und über vergleichbar große Reifen wie diese sowie über ein ähnliches Fahrverhalten verfügen. Diese Unterscheidung, verglichen mit den nunmehr neu definierten Klein- und Minirollern, soll aufrecht bleiben und ist auch weiterhin erforderlich.
Da fahrzeugähnliches Spielzeug nicht zwingend nur von Kindern benutzt werden kann, soll der Begriff 'Kinderspielzeug' durch 'Spielzeug' ersetzt werden.“
[27] Zu § 88b StVO halten die Materialien (ErläutRV 559 BlgNR 26. GP 2) auszugsweise Folgendes fest:
„Die Benützung von elektrisch betriebenen Klein- und Minirollern mit einer höchsten zulässigen Leistung von nicht mehr als 600 Watt und einer Bauartgeschwindigkeit von nicht mehr als 25 km/h soll auf jenen Fahrbahnen gestattet werden, auf denen das Radfahren zulässig ist. Dabei sind alle für Radfahrer geltenden Verhaltensbestimmungen auch für Rollerfahrer verbindlich; es sind nicht nur die spezifischen Verhaltensbestimmungen für Radfahrer, sondern sämtliche Verhaltensregeln erfasst, wie zum Beispiel die Alkohol- und Drogenbestimmungen des § 5 oder die Regeln betreffend Abstellen auf Straßen mit öffentlichem Verkehr (vgl. § 68 Abs. 4). Gleichzeitig soll die Benützung auf Gehsteigen und Gehwegen in Hinkunft verboten sein; ausgenommen sind solche Gehsteige und Gehwege, auf denen durch Verordnung der Behörde das Rollerfahren gestattet wurde. Verhaltensregeln sind daher auch für diesen Fall zu treffen (vgl. Abs. 3). Die Kundmachung solcher Verordnungen hat über die Amtstafel zu erfolgen (vgl. § 44 Abs. 3). Aus Gründen der Einfachheit wurde kein neues Verkehrszeichen für diesen Zweck geschaffen. Damit soll ein weiterer Schilderwald vermieden werden; weiters soll es den Gemeinden obliegen, für entsprechende Publizität zu sorgen. Für elektrisch betriebene Klein- und Miniroller, die eine maximale Leistung und Geschwindigkeit von 600 Watt bzw. 25 km/h überschreiten, gilt ein Benützungsverbot auf Straßen mit öffentlichem Verkehr. …“
[28] 3.3 In der Literatur ist ein Streit darüber entbrannt, ob es sich bei E-Scootern mit einer höchst zulässigen Leistung von nicht mehr als 600 Watt und einer Bauartgeschwindigkeit von nicht mehr als 25 km/h um Fahrzeuge iSd § 2 Abs 1 Z 19 StVO handelt.
[29] 3.3.1 Nedbal-Bures (Die 31. StVO‑Novelle und ihre Auswirkungen auf die Verwendung von E‑Scootern, ZVR 2019/109) und Pürstl (E-Scooter – jetzt ist alles kompliziert, ZVR 2019/173; E-Scooter sind niemals Kraftfahrzeuge, ZVR 2022/5; E-Scooter ist ein Fahrzeug – ein neuer Ansatz des VwGH Höchstgericht überzeugt nicht, ZVR 2023/33) subsumieren E-Scooter ohne Sitzvorrichtung, mit Lenkstange, Trittbrett und mit einem äußeren Felgendurchmesser von höchsten 300 mm (kleine E-Scooter) nicht unter den Fahrzeugbegriff des § 2 Abs 1 Z 19 StVO. Sie verweisen darauf, dass der Gesetzgeber auch kleine E-Scooter ex lege als nicht zur vorwiegenden Verwendung auf Straßen bestimmt habe, sodass es sich um keine Fahrzeuge iSd § 2 Abs 1 Z 19 StVO handle. Die in § 88b StVO teilweise Erlaubnis, die Fahrbahn (zu verkehrsfremden Zwecken) zu benützen, stehe dem nicht entgegen.
[30] Auch Figl (Kraftfahrrechtliche Einordnung von elektrisch angetriebenen Klein‑ und Minirollern, ZVR 2022/4) führt aus, der Gesetzgeber habe mit der 31. StVO-Novelle Miniroller vom Fahrzeugbegriff der StVO ausdrücklich ausgenommen. Allerdings schlage die neu eingeführte Ausnahme nicht automatisch auf den Begriff des (Kraft‑)Fahrzeugs des KFG durch. E-Scooter seien daher Kraftfahrzeuge iSd § 2 Z 1 KFG.
[31] 3.3.2 Demgegenüber steht Klever (E‑Scooter und E-Bikes, Kraftfahr- und straßenverkehrsrechtliche Einordnung, ZVR 2023/26) auf dem Standpunkt, der Ausnahmetatbestand in § 2 Abs 1 Z 19 StVO sei im Hinblick auf § 88b Abs 3 StVO eng auszulegen, sodass auch E-Scooter mit kleinen Rädern nur dann keine (Kraft‑)Fahrzeuge seien, wenn sie nicht tatsächlich zur bestimmungsgemäßen Verwendung als Verkehrsmittel vorgesehen sind.
[32] Zuletzt hat auch Riccabona-Zecha (Weg frei für den E-Scooter, ZVR 2024/116) dafür plädiert, E-Scooter iSd § 88b StVO nicht vom Fahrzeugbegriff des § 2 Abs 1 Z 19 StVO auszunehmen.
[33] Auch Riccabona-Zecha/Mayer/Salomon/Potocnik (in Klatenegger, E-Scooter [2024], 3) subsumieren E-Scooter mit dem Hinweis auf die Judikatur des VwGH (vgl dazu Pkt 3.4.1) unter den Fahrzeugbegriff des § 2 Abs 1 Z 19 StVO.
[34] 3.3.3 Reisinger (E-Scooter ist kein Fahrzeug?, ZVR 2023/100) sieht einen Widerspruch darin, dass E-Scooter nach dem Wortlaut der Legaldefinition als spielzeugähnliche Fahrzeuge erscheinen, tatsächlich aber eine dem Fahrrad vergleichbare Beförderungsfunktion erfüllen. Aus schadenersatzrechtlicher Perspektive hält er den Standpunkt, ein E-Scooter sei kein Fahrzeug, für unvertretbar, weil daraus folgen würde, dass ein schneller E-Scooter (mehr als 25 km/h) kein Kfz sei, was die Anwendung des EKHG ausschlösse.
3.4 Rechtsprechung
[35] 3.4.1 Der VwGH (Ra 2022/02/0043) erblickt in Bezug auf E-Scooter eine Antinomie zwischen § 2 Abs 1 Z 19 StVO, der (alle) Klein‑ und Miniroller als zur Verwendung außerhalb der Fahrbahn definiere und (daher) vom Fahrzeugbegriff ausnehme, und § 88b StVO, der das Fahren mit den den physikalischen Werte nicht übersteigenden E‑Scootern auf Fahrbahnen ausdrücklich für zulässig erkläre. Dieser Widerspruch sei dahin aufzulösen, dass die in § 88b StVO genannten E‑Scooter als Fahrzeuge anzusehen seien.
[36] 3.4.2 Die (veröffentlichte) zweitinstanzliche Rechtsprechung (Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien, 64 R 65/21p = RWZ0000232) qualifiziert (kleine) E-Scooter nicht als Fahrzeuge iSd § 2 Abs 1 Z 19 StVO und wendet daran anknüpfend insbesondere die Vorrangregeln des § 19 StVO nicht an.
[37] 3.5 Zwar erfolgt die straßenverkehrsrechtliche Einordnung von E-Scootern und damit deren straßenverkehrsrechtliche Behandlung grundsätzlich nach dem Fahrzeugbegriff (ErläutRV 559 BlgNR 26. GP 1).
[38] Im vorliegenden Fall kann die Einordnung des von der Klägerin verwendeten, die Grenzwerte des § 88b StVO nicht überschreitenden (unstrittig kleinen) E-Scooters als Fahrzeug aber dahinstehen, weil im Rahmen der hier maßgeblichen Beurteilung des Sachverhalts nach § 38 Abs 4 StVO die Fahrzeugeigenschaft des E-Scooters nicht entscheidend ist. Die Bestimmung nimmt nämlich nicht auf „Fahrzeuge“, sondern (allgemein) auf die „Benützer der freigegebenen Fahrstreifen“ sowie Fußgänger und Radfahrer Bezug. Die Anwendung des von Einbiegenden zu beachtenden Gefährdungs- und Behinderungsverbots auch gegenüber E‑Scooter-Fahrern hängt damit nicht von deren Subsumtion unter den Fahrzeugbegriff des § 2 Abs 1 Z 19 StVO ab.
[39] 4.1 § 88b Abs 1 StVO erlaubt das E-Scooter-Fahren auf jenen Fahrbahnen, auf denen auch das Radfahren zulässig ist.
[40] Da Radfahrer den von der Klägerin nach Verlassen des vor dem Kreuzungsbereich beendeten gemeinsamen Geh- und Radwegs befahrenen Teil der Fahrbahn unstrittig benützen dürfen, ist auch diese als (berechtigte) Benützerin des freigegebenen Fahrstreifens iSd § 38 Abs 4 Satz 3 StVO iVm § 88b Abs 1 StVO zu qualifizieren.
[41] 4.2 § 88b Abs 2 StVO erklärt alle für Radfahrer geltenden Verhaltensvorschriften auch für Rollerfahrer für verbindlich. Damit sind jedenfalls die für Radfahrer geltenden, in § 68 StVO enthaltenen Verhaltensbestimmungen erfasst (Schwamberger, Ist der E-Scooter ein Fahrrad, ZVR 2023/27). § 88b Abs 3 StVO ordnet ein Gefährdungs- und Behinderungsverbot für E-Sooter-Fahrer zu Gunsten anderer Verkehrsteilnehmer an.
[42] Pürstl (E-Scooter – jetzt ist alles kompliziert, ZVR 2019/173) versteht § 88b Abs 3 StVO als „allgemeine Unterordnungspflicht“ des E-Scooter-Fahrers unter andere Verkehrsteilnehmer. Er führt aus, § 88b Abs 2 StVO ordne zwar für die Benutzer von E-Scootern die Einhaltung aller Verhaltenspflichten für Radfahrer an. Umgekehrt werde aber nicht normiert, dass sich andere Verkehrsteilnehmer auch gegenüber Rollerfahrern wie gegenüber Radfahrern zu verhalten hätten. Das bedeute zwar nicht, dass dadurch für andere Verkehrsteilnehmer besondere Privilegien geschaffen werden. § 88b Abs 3 StVO schaffe aber insofern eine Unterordnung der E-Scooter-Fahrer unter andere Verkehrsteilnehmer, als überall dort, wo keine expliziten Regelungen für das Zusammentreffen von E-Scooter-Fahrern mit anderen Verkehrsteilnehmern bestehen, jedenfalls der E‑Scooter-Fahrer diese anderen Verkehrsteilnehmer nicht behindern dürfe. Mangels Nennung in § 9 Abs 2 StVO sei ein E-Scooter-Fahrer daher beispielsweise auch auf (nicht ampelgeregelten) Radfahrerüberfahrten benachrangt.
[43] 4.3 Die von Pürstl vertretene Ansicht würde – sofern man die Regelung des § 88b Abs 3 StVO tatsächlich im Sinn einer „allgemeinen Unterordnungspflicht“ versteht – in der vorliegenden Konstellation mangels expliziter Regelung des Zusammentreffens des E-Scooter-Fahrers mit anderen Fahrzeugen bedeuten, dass der E-Scooter-Fahrer die Kreuzung selbst bei Vorhandensein einer Radfahrerüberfahrt und Grünlicht nur dann passieren dürfte, wenn er andere Verkehrsteilnehmer nicht behindert. Die Zielsetzung der 31. StVO‑Novelle, auch weiterhin ein sicheres Miteinander aller Verkehrsteilnehmer zu gewährleisten, wäre dadurch aber offenkundig konterkariert, brächte dies doch mit sich, dass Radfahrer die Kreuzung passieren dürften, die denselben Fahrbahnteil in die gleiche Richtung berechtigt benützenden E-Scooter-Fahrer aber anhalten müssten.
[44] Im Rahmen der 33. StVO‑Novelle (BGBl I 122/2022) hat der Gesetzgeber in § 15 Abs 4 StVO klargestellt, dass beim Überholen gegenüber Radfahrern und Rollerfahrern (§ 88b StVO) der gleiche Seitenabstand einzuhalten ist und damit zum Ausdruck gebracht, dass – zumindest in bestimmten Situationen – gegenüber Radfahrern und Rollerfahrern dieselbe Pflichtenlage besteht.
[45] Gemessen an der auch der 31. StVO-Novelle immanenten Teleologie, ein sicheres Miteinander aller Verkehrsteilnehmer zu gewährleisten, ist auch im Anwendungsbereich des § 38 Abs 4 StVO eine Gleichbehandlung von Radfahrern und Rollerfahrern geboten und eine in § 88b Abs 3 StVO allenfalls normierte „allgemeine Unterordnungspflicht“ insoweit jedenfalls teleologisch zu reduzieren.
4.4 Daraus folgt zusammengefasst folgendes Zwischenergebnis:
[46] E-Scooter-Fahrern erwächst bei (berechtigter) Benützung der Fahrbahn auf dem freigegebenen Fahrstreifen – unabhängig vom Vorhandensein einer Radfahrerüberfahrt – aus § 38 Abs 4 Satz 3 StVO das Recht auf ungehinderte und ungefährdete Überquerung der Fahrbahn bei Grünlicht der für sie geltenden Lichtsignale, dem das vom einbiegenden Fahrzeuglenker zu beachtende Behinderungs- und Gefährdungsverbot gegenübersteht.
[47] 4.5 Der Klägerin ist daher auch kein Verstoß gegen § 88b Abs 3 StVO anzulasten. Vielmehr war der einbiegende Erstbeklagte gemäß § 38 Abs 4 Satz 3 StVO verpflichtet, ihr als berechtigte Fahrstreifenbenützerin das gefahrlose Überqueren der Fahrbahn bei Grünlicht des für sie geltenden Lichtsignals zu ermöglichen.
[48] 5. Davon ist auch das Berufungsgericht zumindest im Ergebnis zutreffend ausgegangen, sodass der Klägerin allenfalls eine Reaktionsverspätung vorgeworfen werden kann.
[49] 6. Wenn das Berufungsgericht ausgehend von dieser im Ergebnis zutreffenden Rechtsansicht eine Verfahrensergänzung dahingehend für erforderlich erachtet, ab welchem Zeitpunkt die Klägerin erkennen hätte können, dass das Beklagtenfahrzeug reaktionslos in ihren Fahrkanal einfahren werde, kann dem der Obersten Gerichtshof nicht entgegentreten (RS0042179).
[50] 7. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO (RS0035976).
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