European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0160OK00004.23H.1130.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
1. Den Rekursen der Bundeswettbewerbsbehörde und des Bundeskartellanwalts im führenden Verfahren (25 Kt 10/21i, 25 Kt 11/21m) wird teilweise Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird hinsichtlich der Entscheidung über den Antrag auf Verhängung einer Geldbuße aufgehoben und die Kartellrechtssache in diesem Umfang zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Hinsichtlich der Abweisung des Antrags der Bundeswettbewerbsbehörde auf Feststellung gemäß § 28 Abs 1 KartG wird den Rekursen der Bundeswettbewerbsbehörde und des Bundeskartellanwalts nicht Folge gegeben.
2. Dem Rekurs der Zweitantragstellerin im verbundenen Verfahren (25 Kt 12/21h) wird nicht Folge gegeben.
Begründung:
[1] Gegenstand des Verfahrens ist die fusionskontrollrechtliche Beurteilung der langfristigen Inbestandnahme von Flächen in einem Einkaufszentrum zum Zweck des Betriebs einer Lebensmitteleinzelhandels-Filiale.
Festgestellter Sachverhalt:
Zu den Antragstellerinnen zu II.:
[2] Die M* AG war im Zeitpunkt der hier gegenständlichen Anmietung von Geschäftsflächen ein mittelbares 100 %-Tochterunternehmen der Erstantragstellerin zu II. (= Antragsgegnerin zu I., der R* AG, künftig: R*). Auch die Zweitantragstellerin zu II. (die B* Aktiengesellschaft, künftig: B*) stand zu diesem Zeitpunkt und steht noch immer im mittelbaren Alleineigentum der Antragsgegnerin zu I. (R*).
[3] Mit Spaltungs- und Übernahmsvertrag vom 25. 6. 2020 der damaligen M* AG (*) wurde der Betrieb „Lebensmittel-Einzelhandel einschließlich Zustellservice und Genussküche“ in die Zweitantragstellerin zu II. (B* Aktiengesellschaft, künftig: B*) übertragen (offenes Firmenbuch).
Vorgeschichte:
[4] 2014 teilte die W* GmbH (künftig: W*) in einem Memorandum mit, dass sie die von ihr betriebenen drei Einkaufszentren, darunter das Einkaufszentrum W*-Park (künftig: das Einkaufszentrum) in * als Gesamtheit einem Investor verkaufen wolle. 2016 trat die Ru*‑Unternehmensgruppe als Interessentin für den Kauf der drei Einkaufszentren auf. Die Antragsgegnerin zu I. (die R* AG, künftig: R*) bekundete ab Veröffentlichung des Memorandums ihr Interesse, die in den drei Einkaufszentren befindlichen Lebensmitteleinzelhandels‑Flächen durch ihre Tochtergesellschaft anzumieten.
[5] Während laufender Vertragsverhandlungen zwischen der Antragsgegnerin zu I. (R*) und der Ru*‑Gruppe betreffend die Lebensmitteleinzelhandels-Flächen an den drei Standorten wollte die Antragsgegnerin zu I. bei der Bundeswettbewerbsbehörde (künftig: BWB) abklären, inwieweit die Anmietung dieser Flächen als anmeldebedürftiger Vorgang gewertet werde, weshalb Anfang März 2017 ein Konsultationsschreiben mit einem beigelegten Anmeldeentwurf an die BWB gerichtet wurde. Darin wurde folgendes Zusammenschlussvorhaben beschrieben:
„Die [W*] betreibt derzeit drei Einkaufszentren in Oberösterreich, nämlich [...]. In diesen Einkaufszentren gibt es jeweils Verkaufsflächen, auf denen W* den Lebensmitteleinzelhandel betreibt (im Folgenden 'die W*-LEH-Flächen)'.
Die Eigentümer der W* beabsichtigen, die Gesellschaft an die Ru* Immobiliengruppe, einen der führenden Entwickler und Betreiber von Einkaufszentren in Österreich [...] zu verkaufen.
[...]
M* und Ru* sind übereingekommen, dass sich M* in die Einkaufszentren einmietet und dort LEH-Verbrauchermärkte betreibt. Gegenstand der vorliegenden Zusammenschlussanmeldung ist demnach der (mittelbare) Erwerb der W*-LEH-Flächen und der darauf betriebenen LEH-Märkte durch M* im Wege eines 'Asset Deals' (§ 7 Abs l Z l KartG). [...]“
[6] Die Ziel-Vermögenswerte werden in diesem Anmeldungsentwurf wie folgt beschrieben:
„Die Ziel-Vermögenswerte umfassen die bisher dem Bereich Lebensmitteleinzelhandel dienenden Flächen der von der W* betriebenen Einkaufszentren in [...], [...] und * ('W*‑Park'). Zu diesen Ziel-Vermögenswerten gehören [Anmerkung: voraussichtlich; auch das steht noch nicht final fest] auch das auf den relevanten Flächen befindliche Inventar (mit Ausnahme der Warenvorräte) sowie die dort beschäftigten Mitarbeiter. Das eigentliche 'Asset' sind aber die raumordnungsrechtlichen Bewilligungen, bei denen es sich um ein knappes Gut handelt. Bewilligungen für neue Einkaufszentren und für die darin befindlichen Verbrauchermärkte werden praktisch kaum noch erteilt. Mit der Verfügungsmöglichkeit über die W*-LEH‑Flächen sichert sich der Erwerber einige der wenigen, im oberösterreichischen Ballungsraum noch verfügbaren Expansionsmöglichkeiten in diesem Marktsegment.“
[7] Die Antragsgegnerin zu I. wurde bei mehreren Vertragsverhandlungsgesprächen zwischen der W* und der Ru*-Gruppe betreffend die drei Einkaufszentren beigezogen, insbesondere dann, wenn es um den Lebensmitteleinzelhandel an diesen Standorten ging.
[8] Da sich in der Folge herausstellte, dass bei den drei Standorten unterschiedliche rechtliche Problemstellungen vorlagen, entschieden die finanzierenden Banken der W*, die Einkaufszentren so rasch wie möglich einzeln zu verwerten. Im W*‑Park war die W* Leasingnehmerin und hatte ein Bestandrecht an der gesamten Liegenschaft. Aufgrund dieser rechtlichen Stellung der W* im W*‑Park ließ sich der Verkauf dieses Einkaufszentrums rechtlich am einfachsten gestalten und am raschesten abwickeln.
[9] Die Antragsgegnerin zu I. (R*) erfuhr im Juli 2017, dass zum damaligen Zeitpunkt nur der W*‑Park für eine Verwertung zur Verfügung stehe.
[10] Ein Vertreter der Ru*-Gruppe trat Ende 2017 an die Antragsgegnerin zu I. heran und fragte nach, ob sie auch dann Interesse an der Lebensmitteleinzelhandels‑Fläche habe, wenn nur noch ein Einkaufszentrum, nämlich der W*‑Park, von der Ru*‑Gruppe erworben werde. Vom Holdingvorstand der Antragsgegnerin zu I. (R*) und dem Vorstand der Tochtergesellschaft der Antragsgegnerin zu I., der M* AG, wurde beschlossen, dass die Anmietung der Lebensmitteleinzelhandels‑Fläche im W*‑Park erfolgen solle.
[11] Der Gesamtumsatz im alten W*-Park im Geschäftsjahr 2017/2018 belief sich auf rund 23 Millionen EUR brutto. Davon entfielen 13,4 Millionen EUR brutto auf Umsätze aus dem Lebensmitteleinzelhandel einschließlich Haushaltsmittel und Wasch-, Putz- und Reinigungsmittel.
Zum verfahrensgegenständlichen Bestandvertrag und zum Erwerb durch die N*:
[12] Am 1. 2. 2018 schlossen die N* GmbH & Co KG (künftig: N*), eine 100%ige Tochtergesellschaft der Ru*‑Immobiliengruppe und die M* AG einen als Pachtvertrag bezeichneten Bestandvertrag.
[13] Dieser lautete auszugsweise:
„1. Pachtgegenstand
Pachtfläche mit ca 3.448,75 m².
Top 09: ca. 3.310,57 m² im Erdgeschoß und ca. 138,18 m² im Obergeschoß gelegen, ersichtlich im Shopplan [...], die Lage im Objekt ist aus dem Lageplan [...] ersichtlich.
[...]
3. Pachtzweck
Betrieb eines Lebensmittel-Verbrauchermarktes unter der eingetragenen Marke/unter der Geschäftsbezeichnung M*.
4. Pachtdauer
Der Pachtvertrag ist ab wechselseitiger Unterfertigung für beide Vertragsteile verbindlich. Das Pachtverhältnis beginnt am Tag der Übergabe des Pachtgegenstandes gemäß Teil A Z 10 und wird auf die bestimmte Dauer von 15 Jahren abgeschlossen (1. Vertragsperiode). Es endet somit nach Ablauf von 15 Jahren durch Zeitablauf, ohne dass es einer Kündigung oder gesonderten schriftlichen Mitteilung bedarf.
Der Verpächter räumt dem Pächter das einseitig ausübbare Recht ein, dieses Pachtverhältnis dreimal um die bestimmte Dauer von jeweils fünf Jahren mittels eingeschriebenem Brief an den Verpächter zu verlängern (2., 3. bzw. 4. Vertragsperiode), [...] Im Falle der form- und fristgerechten Ausübung dieses/dieser Optionsrechte verlängert sich der Pachtvertrag jeweils zu den im Zeitpunkt des Ablaufes der vorhergehenden Vertragsperiode geltenden Konditionen.
[...]
9. Zahlungsbeginn, Verrechnungsstichtag
Der Pachtzins gemäß Teil A Z 5 und gemäß Teil B Z 5 sowie die Betriebs- und Nebenkosten sowie das Betriebskostenakonto gemäß Teil A Z 7 und gemäß Teil B Z 6 sind ab der Übergabe des Pachtgegenstandes gemäß Teil A Z 10 zur Zahlung fällig. [...]
10. Übergabe
Die Übergabe des Pachtgegenstandes erfolgt voraussichtlich entweder im Herbst 2018 oder im Frühjahr 2019, längstens jedoch bis 31. 12. 2019, zumindest zwölf Wochen vor der geplanten Eröffnung des Einkaufszentrums bzw des betroffenen Bauabschnittes. Der Monat der Übergabe wird dem Pächter zumindest zwei Monate vorher schriftlich mitgeteilt, in diesem Schreiben wird auch der Monat der geplanten Eröffnung bekannt gegeben. Der Tag der Übergabe wird dem Pächter mindestens vier Wochen vor dem geplanten Übergabetermin schriftlich bekannt gegeben, in diesem Schreiben wird auch der Tag der Eröffnung bekannt gegeben.
[...]“
[14] Der Bestandvertrag enthielt folgende aufschiebende Bedingung:
„Die Rechtswirksamkeit des gegenständlichen Pachtvertrages tritt erst und nur dann ein, wenn bis längstens 31. 12. 2018 der Verpächter Eigentum und [sic] ein vergleichbares Verfügungsrecht (zB in Form eines Bestand- und Leasingrechts) am Einkaufszentrum W* erwirbt, das ihm die uneingeschränkte Rechtsposition als Verpächter einräumt;
[...]“
[15] Teil des Pachtvertrags war eine „technische Beschreibung der Errichtung des Edelrohbaus der M* AG Betriebsanlage“. In dieser technischen Beschreibung des Edelrohbaus sind die Leistungen zwischen Vermieter/Verpächter (N*) und der M* AG aufgeteilt. So waren beispielsweise unter Pkt 2.8. (Wandbeläge, Anstriche und Malerei) „sehr viele“ Leistungen von der M* AG zu erbringen, etwa im Bereich der Miniküche im Aufenthaltsraum, sowie die Fliesen im Verkaufsraum, die Wandfliesen im Backshopbereich, die Keramikplatten und Arbeitsplatten im Feinkostbereich, „etc“.
[16] Die N* erwarb mit Kaufvertrag vom 9. 2. 2018 die Liegenschaft samt dem darauf befindlichen Geschäftshaus W*-Park samt allen dazugehörigen Infrastuktur‑Einrichtungen jeglicher Art wie insbesondere Nebengebäuden, Parkplatzflächen etc. Als Vertragsstichtag, an dem Wagnis und Gefahr, aber auch Nutzen und Vorteil an der Kaufliegenschaft auf die N* übergehen sollte, wurde der 30. 6. 2018 vereinbart. Die im Pachtvertrag enthaltene aufschiebende Bedingung trat (unstrittig) am 30. 6. 2018/1. 7. 2018 ein, als der Kaufvertrag betreffend das Einkaufszentrum wirksam wurde.
Entwicklung des Einkaufszentrums nach dem Erwerb durch die N*:
[17] Das Einkaufszentrum wurde von der N* von einem Warenhaus bzw Selbstbedienungszentrum, dessen gesamte Geschäftsfläche von einem einzigen Eingang erreichbar war, zu einem Fachmarkteinkaufszentrum, bei dem man einzelne Geschäfte vom Parkplatz aus betreten kann, ergänzt um einen mall‑artig ausgestatteten Bereich, über den man in weitere einzelne Geschäfte eintreten kann, umgestaltet.
[18] Die W* als vormalige Betreiberin des Einkaufzentrums begann im April 2018 ihre Waren abzuverkaufen. Anfang Juni 2018 wurde das alte Einkaufszentrum geschlossen. Es wurde Ende Juni 2018 der N* übergeben, sodass ab diesem Zeitpunkt mit der Durchführung der Sanierung begonnen werden konnte und damit auch mit der Errichtung der im Pachtvertrag beschriebenen M*‑Betriebsanlage angefangen wurde.
[19] Die W* hatte von der gesamten „Shopping‑Area“ im W*-Park, das waren 9.800 m², eine Fläche von 4.375 m2 für den Lebensmitteleinzelhandel, und zwar als Verkaufsfläche und als Nebenfläche des Lebensmitteleinzelhandels, genutzt.
[20] Seit Eröffnung des neuen Einkaufszentrums durch die neue Betreiberin N* werden folgende Flächen für den Lebensmitteleinzelhandel genutzt: 3.470,36 m² durch die Zweitantragstellerin zu II. für eine B*‑Filiale (vor der Abspaltung zur Aufnahme durch die M* AG für eine M*-Filiale) sowie 985,96 m² von einem dritten Unternehmen für eine weitere Lebensmitteleinzelhandels‑Filiale. Die örtliche Situierung des von der W* betriebenen Lebensmitteleinzelhandels sowie der einzelnen Geschäfte – insofern auch der Branchenmix – im neuen Einkaufszentrum sind zwei der Entscheidung des Erstgerichts angeschlossenen Plänen zu entnehmen. Der Lebensmitteleinzelhandel durch M* (nunmehr B*-Lebensmitteleinzelhandel) wird in einem anderen Bereich betrieben als der Lebensmitteleinzelhandel im alten Einkaufszentrum. Der L‑förmige Grundriss des neuen und alten Einkaufszentrums blieb nahezu unverändert.
[21] Die für das Einkaufszentrum erteilte raumordnungsrechtliche Bewilligung wurde nach dem Verkauf an die N* beibehalten und erfuhr keine Veränderung.
[22] Im Jänner 2019 erfolgte die Eröffnung des Restaurants „M* Markt Küche“, das von der M* AG mit einem vom Lebensmitteleinzelhandel unabhängigen Bestandvertrag angemietet wurde. Am 24. 4. 2019 wurde der Lebensmitteleinzelhandel „M*“ eröffnet.
Ablauf des Verfahrens vor der BWB:
[23] Im Februar 2018 erlangte die BWB Kenntnis davon, dass die Ru*-Gruppe den Kaufvertrag über das Einkaufszentrum abgeschlossen hatte, worauf sie Ermittlungen zur Prüfung, ob ein anmeldedürftiger Zusammenschluss vorliege, einleitete. In Beantwortung des Auskunftsverlangens an die Ru*-Gruppe wurden der BWB der Pachtvertrag über die Lebensmitteleinzelhandels‑Flächen zwischen N* und der M* AG übermittelt.
[24] Mit Schreiben vom 29. 6. 2021 übermittelte die BWB der Antragsgegnerin zu I. (R*) die Mitteilung der Beschwerdepunkte gemäß § 13 Abs l WettbG.
Anmeldung durch die Antragsgegnerin zu I.:
[25] Am 23. 8. 2022 – sohin während des vorliegenden Verfahrens – meldete die Antragsgegnerin zu I. (R*) bei der BWB die „langfristige Anmietung einer Lebensmitteleinzelhandels-Geschäftsfläche von der [N*] durch die [Antragsgegnerin zu I.], konkret durch die M* Aktiengesellschaft, deren Betrieb mittlerweile in die B* Aktiengesellschaft abgespalten wurde“ am Standort des Einkaufszentrums an.
Vorbringen der Parteien:
[26] Im führenden Verfahren (25 Kt 10/21i, 25 Kt 11/21m) beantragte die Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) mit Schriftsatz vom 21. 10. 2021 gegenüber der Antragsgegnerin zu I. (Pkt 1 des Antrags) der Antragsgegnerin gemäß § 26 KartG die Abstellung der Zuwiderhandlung gegen § 17 KartG anzuordnen, indem ihr aufgetragen werde, den anmeldebedürftigen Zusammenschluss anzumelden oder ihn rückgängig zu machen, sowie (Pkt 2 des Antrags) gemäß § 29 Z 1 lit a iVm § 17 Abs 1 KartG wegen der verbotenen Durchführung eines Zusammenschlusses durch die am 30. 6. 2018 vollzogene Übernahme von Geschäftsflächen im Einkaufszentrum durch einen längerfristigen Pachtvertrag ohne Anmeldung und Freigabe eine Geldbuße in angemessener Höhe zu verhängen.
[27] Sie begründete ihre Anträge zunächst mit dem noch andauernden Verstoß gegen das Durchführungsverbot gemäß § 17 Abs 1 KartG. In den mit der Antragsgegnerin geführten Pränotifikationsgesprächen hätten die BWB und der Bundeskartellanwalt mitgeteilt, dass sie das – in seiner Struktur noch nicht feststehende – Zusammenschlussvorhaben als anmeldebedürftig ansähen. Die Gespräche seien von der Antragsgegnerin zu I. (R*) mit E‑Mail vom 28. 3. 2017 beendet worden. Die Antragsgegnerin zu I. habe mit der Übergabe des Einkaufszentrums an den Verpächter (die N*) am 30. 6. 2018 die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Innengestaltung der Pachtflächen erhalten. Zu diesem Zeitpunkt sei der Zusammenschluss – ohne Anmeldung und Freigabe – durchgeführt worden. Der Zusammenschluss sei ein Erwerb eines wesentlichen Unternehmensteils im Sinn des § 7 Abs 1 Z 1 KartG, weil es im Lebensmitteleinzelhandel auf die Abdeckung des gleichen Einzugsgebiets und den Standort mit seinen raumordnungsrechtlichen Bewilligungen ankomme. Die vorliegende kurzzeitige Schließung zur Sanierung führe nicht zum Verlust der bisherigen Marktstellung. Trotz der Zwischenschaltung von Ru* liege eine einzige Transaktion vor. Die relevanten Umsatzschwellen seien überschritten. Nach dem im Zuge der Voranmeldungsgespräche vorgelegten Anmeldeentwurf habe die W* im Geschäftsjahr 2015/2016 einen auf die Lebensmitteleinzelhandels‑Flächen im Einkaufszentrum entfallenden Umsatz von 14,6 Millionen EUR erzielt. Selbst unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Antragsgegnerin eine kleinere Fläche übernommen habe, sei nicht davon auszugehen, dass der darauf entfallende Umsatz unter 5 Millionen EUR gesunken sei.
[28] Die Antragsgegnerin zu I. (R*) habe Expansionen wie die vorliegende Übernahme der Lebensmitteleinzelhandels-Geschäftsfläche durch M* selbst durchgeführt, indem sie die Verhandlungen geführt, die Letztentscheidung zum Abschluss des Pachtvertrags getroffen und die Abwicklung der Umsetzung durch die Gestaltung der Geschäftsflächen und Einholung der notwendigen Bewilligungen mitbestimmt habe. Nach dem kartellrechtlichen Unternehmensbegriff hafte sie für das kartellrechtswidrige Verhalten ihrer Tochtergesellschaft.
[29] Die für sie handelnden Personen hätten die Zuwiderhandlung erkennen können, dies insbesondere vor dem Hintergrund der geführten Pränotifikationsgespräche. Darüber hinaus seien sie in die Umsetzung involviert gewesen, hätten die Umsatzzahlen des „alten“ Einkaufszentrums gekannt und seien in der Handhabung der österreichischen Fusionskontrolle erfahren. Die Voraussetzungen des § 191 StPO lägen nicht vor.
[30] Infolge der Anmeldung des Zusammenschlusses stellte die BWB ihren Abstellungsantrag auf die Feststellung (§ 28 Abs 1 KartG) des Verstoßes gegen § 17 KartG im Zeitraum 1. 7. 2018 bis 20. 9. 2022 um. Ihren Geldbußenantrag hielt sie aufrecht.
[31] Der Bundeskartellanwalt schloss sich dem Vorbringen der BWB in den verbundenen Verfahren an.
[32] Die Antragsgegnerin zu I. (R*) beantragte die Antragszurückweisung wegen der Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren. Sie sei zu lange über die gegen sie gerichteten Ermittlungen im Unklaren gelassen worden. Dies sei als Fehlen einer Prozessvoraussetzung zu behandeln.
[33] Inhaltlich hielt sie den Anträgen entgegen, beim umgesetzten Vorhaben habe es keine Kontinuität zwischen dem früheren Lebensmitteleinzelhandels-Betrieb, dem M*‑Verbrauchermarkt, gegeben. Der Umsatz der W* mit dem Verkauf von Konsumgütern des täglichen Bedarfs im Einkaufszentrum sei in Bezug auf die angemieteten Geschäftsflächen in den Geschäftsjahren 2017 und 2018 nicht bei mehr als 5 Millionen EUR gelegen.
[34] Die Verhängung einer Geldbuße sei mangels Verschuldens nicht zulässig. Die eingebundenen Konzernmitarbeiter seien einem nicht vorwerfbaren Tatbildirrtum über das Überschreiten der Umsatzschwelle von 5 Millionen EUR durch das Zielunternehmen unterlegen, weil sie keine Möglichkeit gehabt hätten, die Daten für das Geschäftsjahr 2018 in Erfahrung zu bringen. Die Antragsgegnerin zu I. (R*) bzw die Zweitantragstellerin zu II. (B*) hätten gegenüber der Ru*‑Gruppe die Umsatzzahlen nicht erheben können, da sich Ru* auf den Standpunkt gestellt habe, dass wegen der Schließung des Einkaufszentrums kein anmeldepflichtiger Vorgang vorliege. Die Schließung des Geschäftsbetriebs Ende Mai 2018 habe auch nicht auf ein Überschreiten der Schwellenwerte hingedeutet.
[35] Darüber hinaus hätten die handelnden Personen aufgrund eines Aufsatzes des mit dem Zielpunkt-Fusionskontrollverfahren betrauten Mitarbeiters der BWB (Mertel, Zielpunkt: Übernahme von LEH-Standorten als Zusammenschluss, WuW 2017, 68) davon ausgehen dürfen, dass sich der Kundenstock jeder Lebensmitteleinzelhandels-Filiale binnen sechs Monaten verlaufe. Es liege mangelnde Strafwürdigkeit im Sinn des § 191 StPO vor.
[36] Mit Schriftsatz vom 28. 10. 2021 beantragten die Antragstellerinnen zu II. gegenüber der BWB als Antragsgegnerin die Feststellung, dass der Abschluss des gegenständlichen Bestandvertrags und die darauf beruhende Übernahme von Geschäftsflächen für den Lebensmitteleinzelhandel durch die Zweitantragstellerin zu II. im Einkaufszentrum keinen anmeldepflichtigen Zusammenschluss im Sinn der §§ 7, 9 KartG begründe (25 Kt 12/21h, verbundenes Verfahren).
[37] Sie brachten vor, die Erstantragstellerin (= Antragsgegnerin zu I., R*) habe sich an dem von der W* im Jahr 2014 eingeleiteten Verkaufsprozess beteiligt, aber letztlich kein Angebot abgegeben.
[38] Im Zuge von Verkaufsbemühungen des Sanierungstreuhänders der W* habe es den Plan von Ru* gegeben, die Geschäftsanteile der W* im Weg eines Share-Deals zu übernehmen und die Einkaufszentren bis zur Entwicklung eines neuen Konzepts selbst zu betreiben. Für den Lebensmitteleinzelhandel seien mit der Antragsgegnerin zu I. (R*) Gespräche über eine interimistische Betreiberlösung geführt worden. In diesem Zusammenhang habe die Antragsgegnerin zu I. die BWB und den Bundeskartellanwalt zu einem interimistischen Betreibervertrag mit anschließender Option auf langjährige Anmietung von Verkaufsflächen in den umgebauten Einkaufszentren konsultiert. Diese Pläne seien nicht umgesetzt worden. Die Liegenschaft, auf der sich das gegenständliche Einkaufszentrum befinde, sei von einem Beteiligungsunternehmen von Ru* gekauft worden, wobei es Ru* wichtig gewesen sei, das Einkaufszentrum nicht als lebendes Unternehmen, sondern als geräumte Immobilie zu erwerben. Der Geschäftsbetrieb des Einkaufszentrums sei zur Gänze eingestellt worden. Die N* habe den Umbau in ein Fachmarktzentrum geplant. Die Zweitantragstellerin zu II. (M*/B*) habe einen Pachtvertrag über eine Geschäftsfläche im zukünftigen Einkaufszentrum abgeschlossen.
[39] Der Zusammenschlusstatbestand des § 7 Abs 1 Z 1 KartG sei nicht verwirklicht, weil kein Aktivvermögen von der W* auf die Zweitantragstellerin zu II. (B*) übertragen worden sei. Diese sei nicht in die Lage versetzt worden, sich ohne wesentliche eigene Anstrengungen die Marktposition der W* im Lebensmitteleinzelhandel anzueignen und der Kundenstamm der W* habe sich während der Umbauphase verlaufen.
[40] Jedenfalls wäre ein Zusammenschluss erst mit der Übergabe des Geschäftslokals nach dem Umbau im Frühjahr 2019 erfolgt. Aus den aufgrund des Verkaufsmemorandums des Jahres 2014 geführten Verhandlungen mit der W* seien der Antragsgegnerin zu I. deren Umsatzzahlen des Geschäftsjahres 2013/2014 bekannt, die Zahlen zum Geschäftsjahr 2015/2016 habe sie dem Jahresabschluss der W* entnommen. Das für die Prüfung der Umsatzschwellen relevante Geschäftsjahr sei hier das Jahr 2018. Es sei wahrscheinlich, dass der Lebensmittelhandels-Umsatz aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der W* im Geschäftsjahr 2017/2018 so gefallen sei, dass sich für die auf M* entfallenden Flächen ein Wert von weniger als 5 Millionen EUR ergebe. Für das Rumpfgeschäftsjahr 2018/2019 ergebe sich hochgerechnet ein Jahresumsatz von sicherlich weniger als 5 Millionen EUR.
[41] Die Antragsberechtigung der Erstantragstellerin zu II. (der Antragsgegnerin zu I., R*) ergebe sich daraus, dass R* und B* eine wirtschaftliche Einheit bildeten und dass R* von der BWB für den vermeintlichen Rechtsverstoß zur Verantwortung gezogen werde.
[42] Nach der Anmeldung des Abschlusses des verfahrensgegenständlichen Bestandvertrags durch die Antragsgegnerin zu I. (R*) bei der BWB am 24. 8. 2022 brachten beide Antragstellerinnen zu II. (R* und B*) vor, in der Anmeldung sei aufgrund der Ergebnisse des vorliegenden Gerichtsverfahrens davon ausgegangen worden, dass die W* im Geschäftsjahr 2017/2018 im Lebensmitteleinzelhandels-Sortiment einen Nettoumsatz von 11,5 Millionen EUR erzielt habe. Teile man diese Umsätze in Relation der Verkaufsflächen samt Nebenflächen den nach dem Umbau vorhandenen zwei Lebensmitteleinzelhändlern (M* und L*) zu, ergebe sich für die von M* angemietete Lebensmitteleinzelhandels-Fläche für das Geschäftsjahr 2017/2018 ein Umsatz von 8,98 Millionen EUR. Diese Angaben würden außer Streit gestellt. Stelle die BWB keinen Prüfungsantrag, zeige dies, dass das Vorhaben wettbewerblich unbedenklich gewesen sei.
[43] Mit Beschluss vom 2. 11. 2021 verband das Erstgericht die Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung.
[44] Die Parteien der Verfahren traten den jeweils gegen sie gestellten Anträgen entgegen.
[45] Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Erstgericht sämtliche Anträge (im führenden wie im verbundenen Verfahren) ab.
[46] Rechtlich führte es zusammengefasst aus, dass zwar ein Zusammenschluss im Sinn des § 7 KartG vorliege, der wegen Überschreitens der Umsatzschwellen des § 9 KartG der Anmeldepflicht – und zwar nach der Rechtslage vor dem KaWeRÄG 2021 der Anmeldepflicht der Zweitantragstellerin zu II. (B*), ab dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des KaWeRÄG 2021 zusätzlich der Anmeldepflicht der Antragsgegnerin zu I. (R*) – unterlegen sei. Auch ein Verschulden der Antragsgegnerin zu I. liege vor. Allerdings sei analog § 191 StPO von der Verhängung einer Geldbuße abzusehen. Die Argumentation des Erstgerichts zu den einzelnen rechtlichen Aspekten wird bei der Behandlung der Rekurse ausführlicher dargestellt.
[47] Das Erstgericht wies auch den im führenden Verfahren von der BWB gestellten Antrag auf Feststellung der Zuwiderhandlung gegen § 17 Abs 1 KartG ab, weil die Abweisung des Antrags auf Verhängung einer Geldbuße analog § 191 StPO bereits die Feststellung impliziere, dass eine Zuwiderhandlung gegen § 17 KartG stattgefunden habe. Daher fehle das erforderliche Feststellungsinteresse.
[48] Das Feststellungsbegehren der Antragstellerinnen im verbundenen Verfahren (R* und B*) – gerichtet auf die Feststellung, dass der Abschluss des Bestandvertrags keinen anmeldepflichtigen Zusammenschluss begründe – wies es ausgehend von der Beurteilung, dass ein anmeldepflichtiger Zusammenschluss vorgelegen sei, ab.
[49] Gegen die Antragsabweisung im führenden Verfahren richten sich die Rekurse der BWB und des Bundeskartellanwalts jeweils aus dem Rekursgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung. Sie beantragen, den angefochtenen Beschluss in seinen Spruchpunkten I.1. und I.2. dahin abzuändern, dass den Anträgen der BWB stattgegeben werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[50] Die Antragsgegnerin zu I. (R*) beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, in der sie auch einen Mangel des Verfahrens erster Instanz rügt, den Rekursen nicht Folge zu geben.
[51] Gegen die Antragsabweisungen im verbundenen Verfahren richtet sich der Rekurs der Zweitantragstellerin zu II. (B*) wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger Tatsachenfeststellung mit dem Antrag, Pkt II. des erstgerichtlichen Beschlusses im Sinn einer Stattgebung ihres Antrags abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[52] Die BWB beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, dem Rekurs nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[53] Die Rekurse der BWB und des Bundeskartellanwalts im führenden Verfahren sind teilweise im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.
[54] Der Rekurs der Zweitantragstellerin zu II. (B*) im verbundenen Verfahren ist nicht berechtigt.
A. Zur Zulässigkeit des Rekurses der BWB
[55] A.1. Die Antragsgegnerin zu I. (R*) beantragt die Zurückweisung des Rekurses der BWB als unzulässig, weil es dieser an einem legitimen Rechtsschutzbedürfnis fehle.
[56] A.2. Den Amtsparteien des Kartellverfahrens obliegt es nach dem Gesetz (§ 1 Abs 1 WettbG für die Bundeswettbewerbsbehörde, § 75 Abs 1 KartG für den Bundeskartellanwalt), funktionierenden Wettbewerb sicherzustellen und das öffentliche Interesse in Angelegenheiten des Wettbewerbsrechts zu vertreten. Werden durch eine kartellgerichtliche Entscheidung öffentliche Interessen in Angelegenheiten des Wettbewerbsrechts berührt, sind die Amtsparteien daher grundsätzlich befugt, diese Entscheidung mit Rekurs zu bekämpfen, sofern ihnen nicht ausnahmsweise das Rechtsschutzbedürfnis fehlt (16 Ok 8/22w [Rz 30]; 16 Ok 1/07 [ErwGr 1.4.]).
[57] A.3. Im vorliegenden Verfahren, in dem das Erstgericht die Anträge der BWB auf Verhängung einer Geldbuße nach § 29 KartG und Feststellung gemäß § 28 KartG abwies, weil es sie nicht als berechtigt erachtete, besteht keine Grundlage, der BWB das rechtliche Interesse an der Erhebung eines Rekurses abzusprechen.
[58] A.4. Dass die Amtsparteien nach der Anmeldung des gegenständlichen Zusammenschlusses keinen Prüfungsantrag nach § 11 Abs 1 KartG stellten, berührt ihr Rechtsschutzbedürfnis in Bezug auf die vom Erstgericht abgewiesenen Anträge nach § 28 und § 29 KartG nicht.
[59] Auch der Umstand, dass die BWB in dem von ihr geführten Verwaltungsverfahren die Antragsgegnerin zu I. (R*) erst im Jahr 2021 über die Ermittlungen informierte, hat keinen Einfluss auf die Zulässigkeit des Rekurses der BWB im vorliegenden kartellgerichtlichen Verfahren.
[60] A.5. Soweit die Antragsgegnerin zu I. (R*) in ihrer Rekursbeantwortung daraus, dass sie nicht zu einem früheren Zeitpunkt über die von der BWB geführten Ermittlungen in Kenntnis gesetzt wurde, eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs ableitet, trifft dies schon deshalb nicht zu, weil ihr bereits nach ihrem eigenen Vorbringen die Möglichkeit gegeben wurde, zu den Ermittlungen im Verwaltungsverfahren Stellung zu nehmen.
[61] A.6. Ein im vorliegenden Rekursverfahren gemäß § 55 Abs 3 iVm § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG aufzugreifender Verfahrensverstoß im Verfahren vor dem Erstgericht wird nicht behauptet.
[62] A.7. Auf die Verfolgungsverjährung (vgl Traugott in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG² § 33 Rz 1) gemäß § 33 KartG stützte sich die Antragsgegnerin zu I. in erster Instanz ausdrücklich nicht.
B. Zur inhaltlichen Berechtigung der Rekurse
[63] B.I. Da die zentralen rechtlichen Aspekte gleichermaßen im führenden und im verbundenen Verfahren relevant sind, ist es zweckmäßig, die Rekurse der Parteien gemeinsam, geordnet nach Rechtsfragen, zu behandeln. Dabei wird jeweils die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts vorangestellt.
B.II. Zum Vorliegen eines Zusammenschlusses gemäß § 7 KartG
B.II.1. Begründung des erstgerichtlichen Beschlusses:
[64] Das Erstgericht bejahte die Erfüllung des Tatbestands des § 7 Abs 1 Z 1 KartG. Ein Unternehmensteil sei dann wesentlich im Sinn des § 7 Abs 1 Z 1 KartG, wenn mit seiner Übertragung der Übergang einer Marktposition des Veräußerers verbunden sei. Dies könne auch bei der Übertragung von Assets bereits stillgelegter Unternehmen der Fall sein.
[65] Ein teilweiser Eintritt in die Marktposition sei ausreichend. Die Übertragung des Kundenstamms könne einen Zusammenschluss begründen. In der Literatur werde die Übernahme von Standorten einer Lebensmitteleinzelhandels‑Kette auch ohne Übernahme des Warenlagers, der Mitarbeiter und des Mietvertrags als Erwerb eines wesentlichen Teils eines Unternehmens gewertet, wenn damit die Marktstellung auf den Erwerber übergehe. Zudem sei zu berücksichtigen, dass die Widmung von Lebensmitteleinzelhandels-Standorten ein knappes Gut sei.
[66] Bei der Frage, ob der Erwerber eines stillgelegten Unternehmens in dessen Marktposition eintrete, sei eine Gesamtbetrachtung erforderlich, in die die Art der Kundenbindung und -beziehung, der Übergang von Goodwill, der Standort, die Stärke der Marktposition, die wiederum von der Zahl der Wettbewerber in räumlicher Nähe abhängig sei, der Übergang von behördlichen Genehmigungen auf den Erwerber und der Umstand, ob es sich dabei um zahlenmäßig begrenzte Bewilligungen handle, sowie Abschmelzeffekte einzubeziehen seien.
[67] Bei Abwägung dieser Umstände sei im Anlassfall der Erwerb eines wesentlichen Unternehmensteils durch die M* AG von der W* zu bejahen. Ausschlaggebend dafür sei, dass die raumordnungsrechtliche Bewilligung, die den Betrieb eines Lebensmitteleinzelhandels auf mehreren tausend Quadratmetern ermöglichte, aufrecht geblieben sei, was die Parteien einvernehmlich als knappes Gut eingeschätzt hätten. Da es um ein Lebensmitteleinzelhandels‑Geschäft nicht in einer Einkaufsstraße, sondern in einem alleinstehenden Gebäude gehe, handle es sich für die anfahrenden Kunden trotz Verlegung des Geschäfts innerhalb des Gebäudes um denselben Standort.
[68] Dass der neue Betreiber eines Einkaufszentrums, das auf einem sehr großen Teil der Verkaufsfläche einen Lebensmitteleinzelhandel betrieben habe, auch bei einer längeren, aber noch unter einem Jahr liegenden Stilllegung wegen Sanierung auf einen Stock von Kunden zurückgreifen könne, die nach Wiedereröffnung ihren Einkauf durch Anfahrt zu einem Einkaufszentrum mit Parkplätzen wieder aufnähmen, sei der Beurteilung als notorische Tatsache zugrunde zu legen und bedürfe keiner Beweisaufnahme.
[69] Bei dem großen Anteil des Lebensmitteleinzelhandels am Gesamtumsatz des Einkaufszentrums von rund 58 % sei der Übergang des Standorts auch dann wesentlich, wenn auf den Erwerber nur 80 % der vom alten Betreiber dafür genutzten Fläche entfielen.
B.II.2. Zum geltend gemachten Verfahrensmangel:
[70] B.II.2.1. Im Rekurs der Zweitantragstellerin zu II. (B*) sowie in der Rekursbeantwortung der Antragsgegnerin zu I. (R*) wird ein Verfahrensmangel im Zusammenhang mit der vom Erstgericht als notorisch zugrunde gelegten Tatsache geltend gemacht, dass „bei einem Einkaufszentrum, das auf einem sehr großen Teil der Verkaufsfläche Lebensmitteleinzelhandel betrieben hat, auch bei einer längerfristigen, jedoch unter einem Jahr liegenden Stilllegung zur Sanierung des Einkaufszentrums der neue Betreiber auf einen Kundenstock zurückgreifen kann, der nach der Wiedereröffnung ihren Einkauf durch Anfahrt zu einem Einkaufszentrum mit vorgelagerten Parkplätzen wieder aufnimmt“.
[71] B.II.2.2. Die Annahme der Notorietät begründe einen Verfahrensmangel, weil nach den von Mertel (WuW 2017, 68) entwickelten Kriterien davon auszugehen gewesen sei, dass sich der Kundenstamm der W* zwischen der Schließung ihres Warenhauses und der Neueröffnung des damaligen M*-Markts verlaufen habe. Das Erstgericht hätte zur Übernahme des Kundenstocks ohne Sachverständigengutachten keine Feststellungen treffen dürfen. Darüber hinaus habe es seine Absicht, in diesem Punkt von einer offenkundigen Tatsache auszugehen, nicht mit den Parteien erörtert, sondern die Annahme als notorisch in den Raum gestellt und aufgrund der daran anknüpfenden Diskussion mit den Parteien die abschließende Beantwortung der Frage dem Beweisverfahren vorbehalten. Nach dessen Durchführung habe es nicht mit den Parteien erörtert, weiterhin von einer notorischen Tatsache auszugehen. Dadurch habe es den Parteien die Möglichkeit genommen, den Beweis für die Unrichtigkeit der angenommenen Tatsache anzutreten, „etwa durch die Beantragung eines Sachverständigengutachtens zum Thema eines sich verlaufenden Kundenstocks“.
[72] Das Erstgericht habe zudem außer Acht gelassen, dass es darauf ankomme, ob ein wesentlicher Anteil an Stammkunden – im Gegensatz zu Laufkundschaft – übernommen worden sei, was am Schwellenwert des § 9 Abs 1 Z 3 KartG zu messen sei. Es habe verabsäumt, die Aussagen der Zeugen W* und S* vollständig auszuwerten, aus denen sich ergebe, dass die Zweitantragstellerin zu II. (B*, damals M*) aus dem früheren Kundenstock der W* keinen dauerhaften Vorteil gezogen habe.
[73] B.II.2.3. Soweit das Vorbringen darauf abzielt, dass präzisere Feststellungen, konkret zum Fortbestehen eines Stocks von „Stammkunden“, auf den ein Umsatzanteil von zumindest 5 Millionen EUR pro Jahr entfalle, erforderlich seien, wird nicht ein Mangel des erstgerichtlichen Verfahrens, sondern ein sekundärer Feststellungsmangel geltend gemacht. Auf diese Rüge ist im Rahmen der rechtlichen Beurteilung einzugehen (vgl RS0043304).
[74] B.II.2.4. Das Erstgericht legte in der mündlichen Verhandlung am 4. 4. 2022 offen, es als notorisch anzusehen, dass bei elfmonatiger Schließung eines Lebensmitteleinzelhandels‑Geschäfts der Kundenkreis zumindest partiell erhalten bleibe und ein jahr‑(zehnt‑)elang in Betrieb stehendes Einkaufszentrum, das für elf Monate zwecks Renovierung geschlossen werde, selbst bei gänzlicher Umgestaltung auf einen bestehenden Kundenstock zurückgreifen könne. Allerdings solle das – so die Erörterung durch das Erstgericht – abschließend erst nach Durchführung des Beweisverfahrens beantwortet werden.
[75] B.II.2.5. Den Parteien war damit bekannt, dass das Erstgericht – sollte das Beweisverfahren nach seiner freien Beweiswürdigung nichts Abweichendes ergeben – vom Fortbestehen eines Kundenstocks sowohl für das Einkaufszentrum insgesamt als auch für das darin situierte Lebensmittelgeschäft ausgehen würde. Nach dieser Erörterung wurde ein Beweisverfahren durch Einvernahme von vier Zeugen durchgeführt, es fanden zwei weitere mündliche Verhandlungen statt. Ein Sachverständigengutachten wurde nicht eingeholt und von den Parteien auch nicht beantragt. Die Vorsitzende des erstgerichtlichen Senats erörterte zudem in der Verhandlung am 20. 10. 2022 ausdrücklich, dass als nächster Schritt die schriftliche Ausfertigung der Entscheidung folge, wenn keine weiteren Anträge gestellt würden.
[76] B.II.2.6. Ausgehend von diesem transparent gestalteten Verfahrensablauf konnten die Parteien weder davon ausgehen, dass das Erstgericht aus dem Aufsatz von Mertel den von ihnen angestrebten Schluss ziehen würde, noch waren sie gehindert, die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu beantragen.
[77] B.II.2.7. Soweit der Rekurs argumentiert, die Aussagen der Zeugen W* und S* seien nicht vollständig verwertet worden, geht aus der angefochtenen Entscheidung, in der auf die Aussagen der beiden genannten Zeugen sehr wohl, wenn auch zu anderen Beweisergebnissen, Bezug genommen wurde, hervor, dass das Erstgericht deren Aussagen durchaus verwertete, durch sie allerdings die angenommene Offenkundigkeit der Übernahme eines Kundenstocks nicht als erschüttert ansah. Dieser Vorgang fällt in den Bereich der Beweiswürdigung des Erstgerichts. Ein Verfahrensmangel wird mit dieser Rüge daher nicht aufgezeigt.
[78] B.II.2.8. Im Übrigen muss ein Verfahrensmangel auch im kartellgerichtlichen Verfahren wesentlich, also geeignet sein, eine unrichtige Entscheidung des Kartellgerichts herbeizuführen (RS0043027 [T12]; vgl auch RS0043049), was vom Rechtsmittelwerber darzulegen ist (RS0043027 [T13]; 16 Ok 6/22a [Rz 44]).
[79] B.II.2.9. Welche weiteren Anträge sie gestellt oder welches weitere Vorbringen sie erstattet hätten, wenn das Erstgericht nach Durchführung des Beweisverfahrens die Notorietät der Möglichkeit, im vorliegenden Fall auf einen Kundenstock zurückzugreifen, neuerlich erörtert hätte, wird von der Zweitantragstellerin zu II. (B*) und der Antragsgegnerin zu I. (R*) nicht vorgebracht.
[80] B.II.2.10. Zusammengefasst wird ein relevanter Verfahrensmangel daher nicht aufgezeigt.
B.II.3. Zur Tatsachenrüge:
[81] B.II.3.1. Die Zweitantragstellerin zu II. (B*) bekämpft in ihrem Rekurs die in der Verfahrensrüge behandelte Feststellung des Erstgerichts und strebt anstatt dessen die Feststellung an, sie hätte aufgrund ihres – verglichen mit dem von der W* betriebenen Selbstbedienungs-Warenhaus – anders gearteten Vertriebskonzepts nach der Eröffnung der M*‑Filiale den dortigen Kundenstock weitestgehend neu aufbauen müssen. Dies ergebe sich aus den Aussagen der Zeugen S* und W*.
[82] B.II.3.2. Nach § 49 Abs 3 KartG kann sich der Rekurs auch darauf gründen, dass sich aus den Akten erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der der Entscheidung des Kartellgerichts zugrunde liegenden Tatsachen ergeben. Nach der auf § 49 Abs 3 KartG übertragbaren Rechtsprechung zu § 281 Abs 1 Z 5a StPO ist dafür erforderlich, dass aktenkundige Beweisergebnisse vorliegen, die nach allgemein menschlicher Erfahrung gravierende Bedenken gegen die Richtigkeit der bekämpften Feststellungen aufkommen lassen, somit intersubjektiv – gemessen an Erfahrungs- und Vernunftsätzen – eine unerträgliche Fehlentscheidung qualifiziert nahe legen (16 Ok 3/22k, BWB/Facebook [Rz 78 f] mwN; 16 Ok 6/22a [Rz 41]; vgl RS0132201 [T3]).
[83] B.II.3.3. Erhebliche Bedenken im dargestellten Sinn wurden hier nicht aufgezeigt. Die in der Beweisrüge zitierten Aussagen zweier Zeugen enthalten deren Einschätzungen zu Einzelaspekten, die in der Beweisrüge nicht zu den übrigen Beweisergebnissen und Erwägungen des Erstgerichts in Beziehung gesetzt werden. Der Zeuge W* äußerte, es sei zu erwarten gewesen, dass nach dem Umbau wirtschaftlich stärkere Käuferschichten angesprochen würden, sodass sich der Kreis bisheriger einkommensschwacher Kunden verlaufen würde. Nach der im Rechtsmittel weiters relevierten Aussage des Zeugen S* seien die Kunden den Standort gewohnt gewesen und daher nach dem Umbau zurückgekommen, viele hätten sich aber nachträglich wegen der gesunkenen Qualität der Gastronomie im Einkaufszentrum „verflüchtigt“. Sofern beiden Aussagen überhaupt eine Übereinstimmung entnommen werden kann, geht sie dahin, dass ein Stock von Stammkunden bestanden hat, der nach dem Umbau das Einkaufszentrum wieder aufsuchte, wobei ein Teil dieser Kunden die neue Gestaltung nicht als – für ihre Präferenzen – attraktiv befand. Diese Aussagen vermögen aber keine nach allgemein menschlicher Erfahrung gravierenden Bedenken (im Sinn des § 49 Abs 3 KartG) gegen die bekämpfte Feststellung darzutun.
B.II.4. Zur Rechtsrüge:
[84] B.II.4.1. Im Rekurs der Zweitantragstellerin zu II. (B*) und Rekursbeantwortung der Antragsgegnerin zu I. (R*) wird gerügt, der Tatbestand des § 7 Abs 1 Z 1 KartG sei schon mangels Erwerbsvorgangs nicht erfüllt.
[85] B.II.4.2. Gegenstand der kartellrechtlichen Zusammenschlusskontrolle ist das externe Unternehmenswachstum (RS0121884). Gemäß § 7 Abs l Z l KartG gilt als Zusammenschluss der Erwerb eines Unternehmens, ganz oder zu einem wesentlichen Teil, durch einen Unternehmer, insbesondere durch Verschmelzung oder Umwandlung.
[86] B.II.4.3. Der Tatbestand erfasst jede Form des abgeleiteten Erwerbs von Rechtspositionen (Kühnert in Egger/Harsdorf-Borsch, Kartellrecht, § 7 KartG Rz 44). In Anlehnung an die deutsche Rechtsprechung (vgl etwa Bach in Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht Bd 24 § 37 dGWB Rz 11) wird der Tatbestand des § 7 Abs 1 Z 1 KartG dahin ausgelegt, dass er den Erwerb des Vollrechts des bisherigen Inhabers voraussetzt, was auch durch die Übertragung von Gebrauchs- oder Nutzungsrechten vom bisherigen Inhaber auf den Erwerber erfüllt sein kann, wenn auch ersterem nur ein entsprechendes Gebrauchs- oder Nutzungsrecht zukam (Kühnert in Egger/Harsdorf-Borsch, Kartellrecht, § 7 KartG Rz 45 f). Demnach kann bei der Übertragung von Mietrechten an Standorten des Lebensmitteleinzelhandels von einem Unternehmen auf einen Mitbewerber ein Erwerb im Sinn des § 7 Abs 1 Z 1 KartG vorliegen (Kühnert in Egger/Harsdorf-Borsch, Kartellrecht, § 7 KartG Rz 46).
[87] B.II.4.4. In der Literatur wird zu einem Vorgang, bei dem – wie im vorliegenden Sachverhalt – keine Übertragung von Mietrechten direkt vom bisherigen Bestandnehmer auf den Erwerber im Weg der Einzelrechtsnachfolge stattfindet, sondern der Erwerber vom bisherigen Inhaber nur die Möglichkeit erwirbt, mit dem Eigentümer über die Einräumung eines neuen Nutzungsrechts zu verhandeln, das Vorliegen eines Zusammenschlusses keineswegs a priori verneint, wie dies die Zweitantragstellerin zu II. (B*) in ihrem Rechtsmittel vertritt. Es wird vielmehr der Tatbestand des § 7 Abs 1 Z 1 KartG als erfüllt angesehen, wenn die so verschaffte Möglichkeit der Verhandlung mit dem Vermieter in Kombination mit anderen erworbenen Vermögenswerten einen Übergang der Marktposition realistisch erscheinen lässt (Kühnert in Egger/Harsdorf-Borsch, Kartellrecht, § 7 KartG Rz 46; vgl Mertel, Zielpunkt: Übernahme von LEH‑Standorten als Zusammenschluss, WuW 2017, 68). Nach Böheim umfasst in einem derartigen Fall der Goodwill im Wesentlichen die Möglichkeit der Käuferseite, vorrangig in Gespräche mit den Vermietern von Filialräumlichkeiten einzutreten. Für den Erwerb eines wesentlichen Teils eines Unternehmens werde wohl die Übertragung der realistischen Möglichkeit, Zugriff auf den vorhandenen Kundenstock wie der Veräußerer zu haben, ausreichen. Im Fall eines individuellen Lebensmitteleinzelhandels‑Standorts sei diese Bedingung in wirtschaftlicher Betrachtungsweise mit der Abdeckung des gleichen Einzugsgebiets erfüllt (Böheim, Der Fall Zielpunkt – [k]ein anmeldepflichtiger Zusammenschluss? ecolex 2016, 320 f). Auch Mertel vertritt zum Anlassfall der Übernahme von Filialen des insolventen Lebensmitteleinzelhandels-Unternehmens Zielpunkt, dass nicht nur der Erwerb von Filialen in ihrer Gesamtheit, sondern auch die Übernahme einiger wesentlicher Vermögenswerte wie Inventar, Goodwill und Kundenstamm den Zusammenschlusstatbestand verwirkliche (Mertel, Zielpunkt: Übernahme von LEH‑Standorten als Zusammenschluss, WuW 2017, 68). In jenem Fall hätten die vom Insolvenzverwalter veräußerten Vermögenswerte „formal betrachtet“ nur das Inventar, den Goodwill, den Kundenstamm der einzelnen Filialen sowie die „Verhandlungsmöglichkeit“ der Erwerber mit den Liegenschaftseigentümern zum Abschluss von Mietverträgen beinhaltet. Der Tatbestand des § 7 Abs 1 Z 1 KartG sei aufgrund der Erwägung, dass es im Lebensmitteleinzelhandel gerade auf den Goodwill, der in der lokalen Marktposition bestehe, auf die Abdeckung eines Einzugsgebiets („Kundenstamm“) und den Standort ankomme, erfüllt. Sei an einem bestimmten Standort bereits ein Lebensmitteleinzelhandels‑Betrieb etabliert, komme diesem eine stärkere Marktposition zu als Standorten, an denen dies bisher nicht der Fall gewesen sei. Der Goodwill umfasse gewissermaßen die Bekanntheit des Standorts als Lebensmitteleinzelhandels‑Betrieb und das entsprechende Bewusstsein der Abnehmer (Mertel, WuW 2017, 70; vgl den Hinweis von Bach in Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht Bd 24 § 37 dGWB Rz 9 darauf, dass „eingeführten Geschäftsstandorten“ ein Vermögenswert beigemessen werden kann).
[88] B.II.4.5. Als „wesentlicher Teil“ eines Unternehmens im Sinn des § 7 Abs 1 Z 1 KartG können auch Kundenlisten, Geschäftsbereiche, Produktionsstandorte, Filialen, Markenrechte (zB Zeitschriftentitel), Patentrechte, eine Vertriebsmannschaft (vor allem in einem Markt, in dem persönliche Kundenbeziehungen wesentlich sind) oder eine ausreichend große Anzahl von Schlüsselarbeitskräften, die von einem Konkurrenten übernommen werden,angesehen werden (16 Ok 11/13, Pressegrosso III [ErwGr I.5.]). Der Erwerb eines wesentlichen Teils eines Unternehmens liegt auch beim Teilerwerb einer Betriebsstätte vor, wenn dafür gesorgt ist, dass der betriebsbezogene Marktanteil auf den Erwerber übergeht (16 Ok 8/01, Parfümerieabteilungen; 16 Ok 6/10, Warenlager [ErwGr 3.6.]).
[89] B.II.4.6. Im Rekurs der Zweitantragstellerin zu II. (B*) wird das Vorliegen eines Erwerbsvorgangs in Zweifel gezogen (dazu sogleich), nicht aber die Qualifikation des Transaktionsobjekts als wesentlicher Teil eines Unternehmens. Auf Letzteres ist daher nicht näher einzugehen.
[90] B.II.4.7. Zur Erfüllung des Erwerbstatbestands ist zunächst klarzustellen, dass der Umstand, dass die Zweitantragstellerin zu II. (B*) lediglich ein Bestandrecht erwarb, der Anwendung des § 7 Abs 1 Z 1 KartG nicht entgegensteht, da auch die W* lediglich Bestandnehmerin (Leasingnehmerin) der Liegenschaft war und die Erwerberin insofern über dasselbe „Vollrecht“ verfügt.
[91] B.II.4.8. Der vorliegende Fall unterscheidet sich von den im Zusammenhang mit der Zielpunkt-Insolvenz diskutierten Konstellationen (Mertel, WuW 2017, 68; Böheim, ecolex 2016, 320) lediglich dadurch, dass keine ausdrückliche „Übertragung“ der Möglichkeit erfolgte, mit dem Liegenschaftseigentümer nach Aufgabe des Bestandvertrags durch die bisherige Mieterin über den Abschluss eines neuen Bestandvertrags zu verhandeln. Es wurde also kein Veräußerungsgeschäft unmittelbar zwischen der W* und der Zweitantragstellerin zu II. (B*) abgeschlossen. Zudem fand auf der Bestandgeberseite eine Einzelrechtsnachfolge durch Veräußerung der Liegenschaft statt.
[92] B.II.4.9. Soweit daraus im Rekurs der Zweitantragstellerin zu II. (B*) abgeleitet wird, dass es an einem Erwerb fehle, weil B* in keinem Aspekt Einzelrechtsnachfolgerin der W* geworden sei, kommt dem allerdings keine Berechtigung zu:
[93] B.II.4.10. Nach der gemäß § 20 KartG gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise können mehrere getrennte, sachlich und zeitlich aber zusammenhängende Transaktionen als ein einziger Zusammenschluss zu werten sein (Urlesberger in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG² § 20 Rz 5).
[94] B.II.4.11. Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich, dass die Antragsgegnerin zu I. (R*) ab der im Jahr 2014 veröffentlichten Mitteilung der „Verkaufsabsicht“ der W* ihr Interesse an den Lebensmitteleinzelhandels‑Flächen in den (ursprünglich drei) Einkaufszentren bekundete, ab dem Zeitpunkt des Auftretens der Ru*-Gruppe als Interessentin für den Erwerb der Einkaufszentren mit dieser über eine Anmietung der Lebensmitteleinzelhandels‑Flächen verhandelte und schließlich, nachdem die Ru*-Gruppe mitteilte, nur ein Einkaufszentrum zu erwerben, gemeinsam mit dem Vorstand ihrer Tochtergesellschaft die Anmietung der Lebensmitteleinzelhandels‑Flächen im (verfahrensgegenständlichen) Einkaufszentrum beschloss.
[95] Bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise ist darin ein einheitlicher Vorgang der Übernahme des Standorts – im Sinn der Möglichkeit, im verfahrensgegenständlichen Einkaufszentrum ein Lebensmitteleinzelhandels‑Geschäft zu betreiben – von der vormaligen Betreiberin eines derartigen Geschäfts, der W*, zu sehen. Dass die konkrete Ausgestaltung der Transaktion in Form des Verkaufs der Liegenschaft von der Voreigentümerin an die N*, der Beendigung des zuvor an der Liegenschaft begründeten Bestandrechts der W* sowie des daran anschließenden Abschlusses eines neuen Bestandvertrags zwischen der Zweitantragstellerin zu II. (B*) und der neuen Liegenschaftseigentümerin N* erfolgte, vermag bei wirtschaftlicher Betrachtung am Erwerb des Standorts für den Betrieb eines Lebensmitteleinzelhandels‑Geschäfts durch die Zweitantragstellerin zu II. (B*) von der W* nichts zu ändern.
[96] B.II.4.12. Nach dem Rekursvorbringen der Zweitantragstellerin zu II. (B*) und der Rekursbeantwortung der Antragsgegnerin zu I. (R*) soll es im vorliegenden Fall an einem übertragbaren Aktivvermögen gefehlt haben, weil der Goodwill eines Unternehmens, der unter anderem in seinen Kundenbeziehungen zum Ausdruck komme, für sich allein kein geeignetes Substrat für einen Zusammenschluss nach § 7 Abs 1 Z 1 KartG sei, weil Laufkundschaft weder besessen noch übertragen werden könne und die raumordnungsrechtliche Bewilligung kein Vermögensgut sei, das von der W* auf die Zweitantragstellerin zu II. übertragen werden könnte.
[97] B.II.4.13. Entgegen dem Rekursvorbringen stellte das Erstgericht nicht isoliert auf die genannten Einzelaspekte ab, sondern nahm eine Gesamtbetrachtung der von der M* AG erworbenen Vorteile vor, innerhalb derer es die Bedeutung der raumordnungsrechtlichen Bewilligung besonders hervorhob. Dabei stellte es nicht darauf ab, ob die Bewilligung als solche auf die M* übertragen worden sei, sondern führte vielmehr aus, dass der trotz des Verkaufs „des Einkaufszentrums“ weiter aufrechte Bestand der raumordnungsrechtlichen Bewilligung die M* in die Lage versetzte, ein Lebensmitteleinzelhandels‑Geschäft in Größe von mehreren tausend Quadratmetern innerhalb eines am Markt bereits eingeführten Einkaufszentrums zu betreiben, wobei diese Möglichkeit – aufgrund von nur noch schwer zu erlangenden Bewilligungen zur Errichtung von Einkaufszentren – als knappes Gut qualifiziert wurde.
[98] Diese Bedeutung der raumordnungsrechtlichen Bewilligung wurde genau in diesem Sinn von der Antragsgegnerin zu I. (R*) in ihrem Konsultationsschreiben an die BWB vom März 2017 als das „eigentliche Asset“ bezeichnet.
[99] Soweit das Erstgericht auf einen Kundenstamm abstellte, geht aus der Begründung seines Beschlusses klar hervor, dass es auf das Weiterbestehen eines Kundenstocks von Personen abstellt, von denen zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Pachtvertrags zu erwarten war, dass sie auch nach der sanierungsbedingten Schließung des Einkaufszentrums dieses wieder anfahren und ihren Einkauf dort wieder aufnehmen würden. Die Rüge, das Erstgericht hätte zu Unrecht auf „Laufkundschaft“ anstelle von „Stammkunden“ abgestellt, geht daher ins Leere.
[100] B.II.4.14. Zutreffend beurteilte das Erstgericht den Sachverhalt dahin, dass sich aus der Gesamtbetrachtung aller Umstände des konkreten Falls die Übernahme eines in mehrfacher Hinsicht eingeführten Standorts – nämlich des Einkaufszentrums selbst, verbunden mit dem ebenfalls etablierten Vorhandensein eines großflächigen Lebensmitteleinzelhandels‑Geschäfts im Einkaufszentrum – ergibt. Darin kann der Erwerb eines die Dauer der Schließung überdauernden Aktivvermögens gesehen werden, das der M* AG den Eintritt in die Marktposition des zuvor von der W* betriebenen Lebensmitteleinzelhandels ermöglichte.
[101] B.II.4.15. Soweit im Rekurs der Zweitantragstellerin zu II. (B*) – ebenso in der Rekursbeantwortung der Antragsgegnerin zu I. (R*) – die wesentliche Eigenleistung der M* AG hervorgehoben und daraus abgeleitet wird, dass der Tatbestand des Zusammenschlusses nach § 7 Abs 1 Z 1 KartG nicht erfüllt sei, trifft dies schon deshalb nicht zu, weil die Vorteile, die mit der Übernahme eines gut eingeführten, mit schwer zu erlangenden Bewilligungen ausgestatteten Standorts verbunden sind, nicht auf einer Eigenleistung der Erwerberin beruhen.
[102] Darüber hinaus handelte es sich bei den erbrachten Eigenleistungen um Leistungen, die zeitlich nach dem Vollzug des Zusammenschlusses liegen:
[103] B.II.4.16. Der Oberste Gerichtshof hat in der Entscheidung 16 Ok 2/17f (TÜV-Süd) nach ausführlicher Auseinandersetzung mit der Literatur zum Zusammenschlusstatbestand des österreichischen Kartellrechts sowie des europäischen Fusionsrechts zur Frage Stellung genommen, ob die Durchführung eines Zusammenschlusses mit der Erlangung der Möglichkeit der Einflussnahme auf das Zielunternehmen bzw den Ziel-Vermögenswert einsetzt oder ob es dazu tatsächlicher Handlungen, insbesondere der tatsächlichen Kontrollausübung bedarf. Er beurteilte jene Ansicht als überzeugend, die die Durchführung eines Zusammenschlusses bereits mit der Möglichkeit der Einflussnahme auf das Zielobjekt einsetzen lässt. Dafür wurde neben der historischen Gesetzesentwicklung auch der Zweck des Durchführungsverbots ins Treffen geführt, die Wirksamkeit der präventiven Fusionskontrolle zu gewährleisten und vollendete Tatsachen zu verhindern, die bei einer späteren Untersagungsentscheidung nur schwer rückgängig zu machen wären (16 Ok 2/17f [ErwGr I.6.]).
[104] B.II.4.17. Im vorliegenden Fall sah das Erstgericht die Möglichkeit der Einflussnahme auf den Zielvermögenswert bereits mit dem Geltungsbeginn des Pachtvertrags am 30. 6. 2018 als erfüllt an und wertete die von der M* erbrachten Eigenleistungen beim Bau und der Planung der Geschäftsfläche nicht mehr als bloße Vorbereitungshandlungen, sondern als Maßnahmen der Integration des Lebensmitteleinzelhandels‑Geschäfts in das Unternehmen der Erwerberin und damit als Maßnahmen des In-Vollzug-Setzens des Zusammenschlusses.
[105] Diese Beurteilung steht mit der ausführlich begründeten Entscheidung 16 Ok 2/17f im Einklang und wird im Rekursverfahren auch nicht bekämpft.
[106] B.II.4.18. Die Beurteilung des Erstgerichts, das die hier zu beurteilende Anmietung von Geschäftsflächen als Zusammenschluss im Sinn des § 7 Abs 1 Z 1 KartG qualifizierte, erweist sich daher als zutreffend.
B.II.4.19. Für die – im Zusammenhang mit der Beweisrüge vorgetragene – Rechtsansicht, die Umsatzschwellen des § 9 KartG seien insofern für die Erfüllung des Zusammenschlusstatbestands gemäß § 7 Abs 1 Z 1 KartG beachtlich, als es darauf ankomme, ob auf den fortbestehenden Stock von Stammkunden ein Umsatzanteil von zumindest 5 Millionen EUR entfalle, bietet das Gesetz keine Grundlage.
[107] Erst bei der Prüfung der Anmeldebedürftigkeit gemäß § 9 KartG ist bei einem Zusammenschluss durch den Erwerb eines Unternehmens zu einem wesentlichen Teil im Sinn des § 7 Abs 1 Z 1 KartG für das Erreichen der Umsatzschwellen der beteiligten Unternehmen auf Seiten des Zielunternehmens auf den Umsatz abzustellen, der auf den wesentlichen Unternehmensteil entfällt (vgl Reidlinger/ Hartung, Das österreichische Kartellrecht4 [2019] 170).
[108] Dazu wurden im Verfahren die Relevanz des Geschäftsjahres (auf Seiten der W*) von 1. 3. 2017 bis 1. 2. 2018 und – nach Vornahme einer Aliquotierung wegen des Umstands, dass die M* AG eine Fläche von nur rund 80 % der zuvor von der W* für Lebensmitteleinzelhandel genutzten Fläche in Bestand nahm – das Überschreiten der relevanten Umsatzschwelle des Zielunternehmens von 5 Millionen EUR gemäß § 9 Abs 1 Z 3 KartG in diesem Geschäftsjahr außer Streit gestellt.
[109] B.II.4.20. Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass die verfahrensgegenständliche Anmietung von Flächen einen anmeldepflichtigen Zusammenschluss gemäß § 7 Abs 1 Z 1, § 9 Abs 1 KartG verwirklichte.
B.III. Zur Berechtigung des Rekurses der Zweitantragstellerin zu II. (B*)
[110] Da das Erstgericht zutreffend einen anmeldepflichtigen Zusammenschluss bejaht hat, ist der Rekurs der Zweitantragstellerin zu II. gegen die Abweisung ihres Antrags auf Feststellung, dass kein anmeldepflichtiger Zusammenschluss vorgelegen sei, nicht berechtigt.
[111] Weil der Rekurs somit jedenfalls inhaltlich nicht berechtigt ist, muss auch zur Parteistellung der Muttergesellschaft (Antragsgegnerin zu I. und Erstantragstellerin zu II., R*) im verbundenen Verfahren – die die Antragstellerinnen zu II. ohnehin selbst aus dem Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit ableiteten – nicht näher Stellung genommen werden.
B.IV. Zur geldbußenrechtlichen Verantwortlichkeit der Antragsgegnerin zu I. (R*)
B.IV.1. Begründung des erstgerichtlichen Beschlusses:
[112] Das Erstgericht gelangte in Zusammenschau von § 7 Abs 1 Z 1, § 17 Abs 1 KartG und § 29 Abs 1 Z 1 lit a KartG idF vor BGBl I 176/2021 (KaWeRÄG 2021) zum Ergebnis, dass vor Inkrafttreten des KaWeRÄG 2021 für die im vorliegenden Fall unterlassene Zusammenschlussanmeldung nur die Zweitantragstellerin zu II. (B*) als Rechtsnachfolgerin der M* AG hafte.
[113] Nach § 29 KartG werde der Unternehmer (oder die Unternehmervereinigung) mit einer Geldbuße belegt, der (die) das Durchführungsverbot verletzt habe. Wem die Verletzung anzulasten sei, ergebe sich aus § 7 KartG. § 7 Abs 1 Z 1 KartG spreche vom Erwerber, sohin von einem einzigen Unternehmen, und erfasse daher nicht den mittelbaren Erwerb. Aufgrund ihres strafrechtlichen Charakters dürften kartellrechtliche Geldbußen nicht gegen eine andere Person als den Normadressaten verhängt werden.
[114] Erst nach dem mit dem KaWeRÄG 2021 eingeführten Abs 3 des § 29 KartG, der am 10. 9. 2021 in Kraft getreten sei, könne die Geldbuße auch gegen die Muttergesellschaft verhängt werden, die zu derselben wirtschaftlichen Einheit gehöre. Der Verstoß gegen das Durchführungsverbot begründe ein Dauerdelikt, das erst vier Wochen nach der erfolgten Anmeldung, im vorliegenden Fall am 21. 9. 2022, geendet habe. Für den Zeitraum ab dem Inkrafttreten des KaWeRÄG 2021 habe daher auch die Muttergesellschaft, also die Antragsgegnern zu I. (R*), neben der Zweitantragstellerin zu II. (M* bzw B*) gegen § 17 KartG verstoßen.
B.IV.2. Zu den Rekursen der Amtsparteien:
[115] B.IV.2.1 Die Amtsparteien streben in ihren Rekursen die Beurteilung an, dass die Antragsgegnerin zu I. bereits ab dem Zeitpunkt der Durchführung des Zusammenschlusses, nicht erst ab dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des KaWeRÄG 2021, für den Verstoß gegen das Durchführungsverbot belangt werden könne.
[116] B.IV.2.2. Nach § 29 Abs 1 KartG – dessen Wortlaut vom KaWeRÄG 2021 unberührt blieb – hat das Kartellgericht Geldbußen zu verhängen, und zwar – nach der hier interessierenden Z 1 lit a – bis zu einem Höchstbetrag von 10 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes gegen einen Unternehmer oder eine Unternehmervereinigung, der oder die vorsätzlich oder fahrlässig (unter anderem) dem Durchführungsverbot des § 17 KartG zuwiderhandelt.
[117] Mit dem KaWeRÄG 2021 wurde in § 29 Abs 2 Satz 2 KartG eine Definition des Unternehmens eingeführt. Darunter ist demnach jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit zu verstehen, unabhängig von ihrer Rechtsform und ihrer Finanzierung.
[118] Der ebenfalls durch das KaWeRÄG 2021 neu eingefügte Abs 3 des § 29 KartG ordnet an, gegen wen die Geldbuße zu verhängen ist, nämlich gegen Unternehmer, die die an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen im Zeitpunkt der Zuwiderhandlung betrieben haben, als rechtliche Nachfolger betreiben oder in wirtschaftlicher Kontinuität fortführen. Nach § 29 Abs 3 Satz 2 KartG kann die Geldbuße auch gegen Muttergesellschaften verhängt werden, die zu derselben wirtschaftlichen Einheit gehören wie ein an der Zuwiderhandlung beteiligtes Unternehmen.
[119] B.IV.2.3. Zur Rechtslage vor dem KaWeRÄG 2021 wurde der Adressatenkreis der Geldbußen aus § 29 Abs 1 KartG abgeleitet:
[120] Adressaten sind demnach Unternehmer oder Unternehmervereinigungen (Traugott in Petsche/Urlesberger/ Vartian, KartG² § 29 Rz 4; Koprivnikar/Mertel in Egger/Harsdorf-Borsch, Kartellrecht, § 29 KartG Rz 50). Daraus wird abgeleitet, dass sich kartellrechtliche Sanktionen nicht gegen Organe oder Dienstnehmer des betreffenden Unternehmens richten, sondern deren Verhalten dem Unternehmen zuzurechnen ist (Traugott in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG² § 29 Rz 4 unter Verweis auf 16 Ok 5/08 Aufzüge [dort ErwGr I.2.3.]).
[121] Der Adressatenkreis wird als Ausfluss der in § 29 KartG sanktionierten materiell-rechtlichen Verbotsnormen gesehen (Traugott in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG² § 29 Rz 6; Koprivnikar/Mertel in Egger/Harsdorf-Borsch, Kartellrecht, § 29 KartG Rz 50). Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass für die Zwecke des Geldbußenrechts zwischen dem Unternehmen als Täter eines Wettbewerbsverstoßes und dem Unternehmen als Adressat der Geldbußenentscheidung zu unterscheiden ist, dies im Zusammenhang mit der Frage, an welche Einheit für die Zwecke der Berechnung des in § 29 KartG festgelegten Höchstbetrags anzuknüpfen ist, bzw unter welchen Voraussetzungen juristische Personen, die zu demselben Unternehmen gehören, gesamtschuldnerisch für eine Geldbuße haften (Traugott in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG² § 29 Rz 6).
[122] B.IV.2.4. Dem Kartellrecht liegt – schon aufgrund der nach § 20 KartG gebotenen wirtschaftlichen Betrachtung – ein eigenständiger Unternehmensbegriff zugrunde, der auch für die Zusammenschlusskontrolle gilt (16 Ok 12/08 [ErwGr 3.1]).
[123] Die Rechtsprechung geht hier in Anlehnung an die vom EuGH entwickelten Kriterien und unter Bedachtnahme auf die gemäß § 20 KartG gebotene wirtschaftliche Betrachtung von einem funktionalen Unternehmensbegriff aus, nach dem der Begriff des Unternehmens funktional aus dem Sinn und Zweck der Wettbewerbsregeln und somit weit auszulegen ist. Der Begriff des Unternehmens im kartellrechtlichen Sinn erfasst demnach jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung (RS0124391; 16 Ok 12/08; zur aktuellen Rechtsprechung des EuGH siehe nur C‑882/19 , Sumal, Rz 41 mwN).
[124] B.IV.2.5. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH kann einer Muttergesellschaft das kartellrechtswidrige Verhalten ihrer Tochtergesellschaft insbesondere dann zugerechnet werden, wenn die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Mutter befolgt, und zwar vor allem wegen der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen zwischen den beiden Rechtsobjekten. In einem solchen Fall sind die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft Teile derselben wirtschaftlichen Einheit und bilden somit ein Unternehmen im Sinn des Art 101 AEUV, weshalb auch der Muttergesellschaft eine Geldbuße auferlegt werden kann, ohne dass ihre persönliche Beteiligung an der Zuwiderhandlung nachzuweisen ist (EuGH C‑97/08 P , Akzo Nobel ua/Kommission, ECLI:EU:C:2009:536 [Rz 58 ff]; EuGH C‑440/11 P , Stichting Administratiekantoor Portielje, ECLI:EU:C:2013:514 [Rz 36 ff]; vgl 16 Ok 2/15b [16 Ok 8/15k], Vertikale Preisabsprachen [ErwGr 5.11]; EuGH C‑882/19 , Sumal, ECLI:EU:C:2021:800 [Rz 43]).
[125] Hält die Muttergesellschaft – nahezu (vgl EuGH C-440/11 P , Stichting Administratiekantoor Portielje, ECLI:EU:C:2013:514 [Rz 40]) – 100 % des Kapitals ihrer Tochtergesellschaft, die einen Verstoß gegen das Kartellverbot begangen hat, besteht die widerlegbare Vermutung, dass die Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausübt; in diesem Fall obliegt es der Muttergesellschaft, diese Vermutung zu widerlegen, also unter Beweis zu stellen, dass ihre Tochtergesellschaft auf dem Markt eigenständig auftritt (EuGH C‑97/08 P , Akzo Nobel ua/Kommission, ECLI:EU:C:2009:536 [Rz 58 ff]; EuGH C‑440/11 P , Stichting Administratiekantoor Portielje, ECLI:EU:C:2013:514 [Rz 36 ff]; vgl 16 Ok 2/15b [16 Ok 8/15k], Vertikale Preisabsprachen [ErwGr 5.11]; 6 Ob 105/19p, „dm“‑Drogerie-märkte [ErwGr 9.3.]; krit Koppensteiner, Compliance und Kartellrecht, GES 2013, 432).
[126] Die Muttergesellschaft kann in der Folge als gesamtschuldnerisch für die Zahlung der gegen die Tochtergesellschaft verhängten Geldbuße haftbar angesehen werden, sofern sie keine ausreichenden Beweise dafür erbringt, dass die Tochtergesellschaft auf dem Markt eigenständig auftritt (EuGH C-440/11 P , Stichting Administratiekantoor Portielje, ECLI:EU:C:2013:514 [Rz 41]; EuGH C‑97/08 P , Akzo Nobel ua/Kommission, ECLI:EU:C:2009:536 [Rz 61]). Diese Rechtsprechung beruht auf der Prämisse, dass einer rechtlichen Einheit die Verantwortung für das Verhalten einer anderen rechtlichen Einheit auferlegt werden kann, sofern diese ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt (EuGH C‑440/11 P , Stichting Administratiekantoor Portielje, ECLI:EU:C:2013:514 [Rz 42]).
[127] B.IV.2.6. Zur Rechtslage vor dem KaWeRÄG 2021 wird die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen „nicht (direkt) an der Zuwiderhandlung beteiligte“ Konzernunternehmen wie im Unionsrecht als Solidarschuldner für die verhängte Geldbuße haften sollen, als für das rein österreichische Recht nicht völlig geklärt bezeichnet (Traugott in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG² § 29 Rz 11). Im Hinblick auf die Eigenständigkeit des österreichischen Sanktionenregimes sei eine Solidarhaftung „qua bloßer gesellschaftsrechtlicher Verbindung“ grundsätzlich abzulehnen; eine Haftung eines an der Zuwiderhandlung nicht direkt beteiligten verbundenen Unternehmens erfordere vielmehr ein konkretes schuldhaftes Verhalten sowie – verfahrensrechtlich – eine Teilnahme am Verfahren als Partei mit der Möglichkeit der Wahrnehmung der Verteidigungsrechte (Traugott in Petsche/Urlesberger/ Vartian, KartG² § 29 Rz 12).
[128] B.IV.2.7. Mit der Einführung der Absätze 2 und 3 des § 29 KartG wurden Art 2 Abs 1 Z 10 und Art 13 Abs 5 der ENC+-Richtlinie (Richtlinie [EU] 2019/1 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 12. 2018 zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts, ABl L 11 vom 14. 1. 2019) in das österreichische Recht umgesetzt.
[129] Die Materialien führen dazu aus, dass zwar in der Rechtsprechung (16 Ok 2/15h, 16 Ok 8/15h) ein kartellrechtlich relevantes Verhalten von Tochtergesellschaften bereits der Muttergesellschaft zugerechnet worden sei. Für eine solche Zurechnung von einem im Rahmen von „Unternehmen“ begangenen Verhalten an bestimmte nicht unmittelbar am Verstoß beteiligte juristische Personen spreche auch der in § 20 KartG festgelegte Grundsatz der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, nach dem für die Beurteilung eines Sachverhalts der wahre wirtschaftliche Gehalt und nicht die äußere Erscheinungsform des Sachverhalts maßgebend sei. Dessen ungeachtet sei diese Auslegung noch nicht durch eine ständige Rechtsprechung gesichert. Zudem lege es der Grundsatz der Bestimmtheit der Richtlinienumsetzung nahe, Art 13 Abs 5 und Art 2 Abs 1 Z 10 ENC+-RL explizit umzusetzen (ErläutRV 951 BlgNR 27. GP 16). § 29 Abs 3 KartG wird dabei als Klarstellung im Sinn der Richtlinienvorgaben angesehen, der zum Ausdruck bringe, wie sich das Abstellen auf Unternehmen auf einzelne Rechtsträger und zur Zahlung der Geldbuße Verpflichtete auswirke, wobei die drei Fälle der (erstens und hier relevant:) Verantwortlichkeit im Konzern, sowie weiters der rechtlichen und wirtschaftlichen Nachfolge angesprochen würden (ErläutRV 951 BlgNR 27. GP 16 f).
[130] B.IV.2.8. In der österreichischen Literatur zum KaWeRÄG 2021 werden die Materialien mit ihrem Hinweis auf den bloß klarstellenden Charakter (Hartung/Reidlinger, KaWeRÄG 2021: Die Anpassung von KartG und WettbG an die ENC+-Richtlinie, ecolex 2021, 880 [881]) referiert und darauf hingewiesen, dass die Regel für Muttergesellschaften der bisherigen Rechtsprechung des EuGH entspreche (Gruber, Das KaWeRÄG 2021 – Erster Teil: Kartellgesetz, ÖZK 2021, 123 [129]). Gruber (aaO) moniert in diesem Zusammenhang, der Begriff der wirtschaftlichen Einheit sei dahin nachzuschärfen, dass es auf eine Einheit im Sinn des Wettbewerbsrechts ankomme, konkret darauf, wer das Wettbewerbsverhalten am relevanten Markt bestimme und welche (Unternehmens‑)Einheiten von dieser Entscheidung umfasst würden.
[131] B.IV.2.9. Zwar gilt die ENC+-RL gemäß ihrem Art 1 Abs 2 Satz 1 (nur) für die Anwendung der Art 101 und 102 AEUV sowie die parallele Anwendung von Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts auf denselben Fall. Die österreichische Umsetzungsgesetzgebung des KaWeRÄG 2021 beschränkt die Unternehmensdefinition gemäß § 29 Abs 2 KartG und den Adressatenkreis der Geldbußen in § 29 Abs 3 KartG allerdings nicht auf Zuwiderhandlungen gegen Art 101 und 102 AEUV bzw §§ 1, 5 KartG. Die Bestimmungen des § 29 Abs 2 und 3 KartG kommen vielmehr – mangels jeglichen Anhaltspunkts für eine „gespaltene Auslegung“ – auch bei der Verhängung von Geldbußen zur Anwendung, die gemäß § 29 Abs 1 Z 1 lit a KartG gegen Unternehmer verhängt werden, die gegen das Durchführungsverbot des § 17 KartG verstoßen haben, sohin wegen eines Verstoßes gegen das Durchführungsverbot nach den Normen der nationalen Zusammenschlusskontrolle, bei denen es sich nicht um die zu Art 101, 102 AEUV parallel laufende Anwendung nationalen Rechts handelt.
[132] Der Umstand, dass der Gesetzgeber gleichwohl insgesamt von einer (bloßen) Klarstellung ausgeht, spricht dafür, dass der historische Gesetzgeber auch nach der zuvor bestehenden Rechtslage nicht von einem unterschiedlichen Unternehmerbegriff in Fällen der Anwendung der Art 101, 102 AEUV und der parallelen Anwendung nationalen Rechts, also der §§ 1, 5 KartG, im Gegensatz zu den Bestimmungen der Fusionskontrolle nach §§ 11 ff KartG ausging.
[133] B.IV.2.10. Dass dem Begriff des Unternehmers – entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts – auch vor dem KaWeRÄG 2021 im Bereich der Zusammenschlusskontrolle der §§ 11 ff KartG keine von der Auslegung des Unternehmerbegriffs durch den EuGH abweichende Bedeutung zuzumessen war, hat der Obersten Gerichtshofs als Kartellobergericht zudem bereits in der Entscheidung 16 Ok 12/08 klargestellt. In dieser Entscheidung (16 Ok 12/08 [ErwGr 3.1.]), die einen Fall der Fusionskontrolle gemäß §§ 11 ff KartG betraf, hat der Oberste Gerichtshof bereits im Jahr 2008 ausdrücklich die unionsrechtlich determinierte, auf der Rechtsprechung des EuGH basierende Auslegung des Begriffs des Unternehmens, der in der Folge durch das KaWeRÄG 2021 wortgleich in § 29 Abs 2 KartG eingefügt wurde, für die Zusammenschlusskontrolle nach dem österreichischen Kartellgesetz übernommen.
[134] In der Rechtsprechung ist daher bereits klargestellt, dass nicht nur bei Anwendung von Art 101, 102 AEUV und den entsprechenden Tatbeständen in §§ 1 und 5 KartG, sondern auch im Bereich der Zusammenschlusskontrolle nach dem österreichischen Kartellgesetz der Unternehmensbegriff im Sinn der Rechtsprechung des EuGH auszulegen ist.
[135] B.IV.2.11. Daraus ergibt sich als unmittelbare Konsequenz die kartellrechtliche Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft, die in einer wirtschaftlichen Einheit mit der am Zusammenschluss beteiligten Tochtergesellschaft steht, für deren Zuwiderhandlungen:
[136] Der EuGH leitet die Zurechnung von Wettbewerbsverstößen der Tochtergesellschaft zur Muttergesellschaft mit der Folge, dass auch ohne ihre persönliche Beteiligung eine Geldbuße über die Muttergesellschaft verhängt werden kann, direkt aus der Auslegung des Unternehmensbegriffs ab (EuGH C‑97/08 P , Akzo Nobel ua/Kommission, ECLI:EU:C:2009:536 [Rz 54 bis 59]; EuGH C‑440/11 P , Stichting Administratiekantoor Portielje, EU:C:2013:514 [Rz 39]). Daher folgt bereits aus der an der Rechtsprechung des EuGH orientierten Auslegung des Unternehmensbegriffs in einem Verfahren nach §§ 11 ff KartG (16 Ok 12/08), dass auch in einem Zusammenschlussverfahren nach dem österreichischen Kartellgesetz nicht nur die am Zusammenschluss beteiligte Tochtergesellschaft, sondern bei Vorliegen der Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Einheit – entsprechend der Rechtsprechung des EuGH – auch die Muttergesellschaft für die Zuwiderhandlung einzustehen hat.
[137] B.IV.2.12. Dass die Antragsgegnerin zu I. (R*) und die Zweitantragstellerin zu II. (B*, vormals M*) in einer rechtlichen Einheit stehen, haben beide Gesellschaften in ihrem im verbundenen Verfahren eingebrachten Antrag ausdrücklich vorgebracht. Im Übrigen wurden Anhaltspunkte für ein eigenständiges Agieren der M* AG auf dem Markt nicht vorgebracht und sind im Verfahren auch nicht hervorgekommen.
[138] Im vorliegenden Verfahren ist auch nicht ein Sachverhalt zu beurteilen, in dem der Muttergesellschaft eine Geldbuße auferlegt werden soll, ohne dass ihre persönliche Beteiligung an der Zuwiderhandlung nachgewiesen ist (so aber etwa EuGH C‑97/08 P , Akzo Nobel ua/Kommission, ECLI:EU:C:2009:536 [Rz 58 ff]; EuGH C‑440/11 P , Stichting Administratiekantoor Portielje, ECLI:EU:C:2013:514 [Rz 36 ff]; vgl 16 Ok 2/15b [16 Ok 8/15k], Vertikale Preisabsprachen [ErwGr 5.11]; EuGH C‑882/19 , Sumal, ECLI:EU:C:2021:800 [Rz 43]). Im vorliegenden Fall steht vielmehr konkret fest, dass die Antragsgegnerin zu I. (R*) die Transaktion selbst aktiv mitgestaltete:
[139] So hatte sie seit der Veröffentlichung des Verkaufsmemorandums der W* im Jahr 2014 ihr Interesse bekundet, die Lebensmitteleinzelhandels-Flächen in den drei Einkaufszentren durch ihre Tochtergesellschaft zu erwerben. Sie wurde den Vertragsverhandlungen zwischen der W* und der Ru*-Gruppe beigezogen, wenn es um den Lebensmitteleinzelhandel an den drei Standorten ging; sie war auch die Ansprechpartnerin der Ru*-Gruppe, als diese kommunizierte, dass sie nur eines der ursprünglich in Aussicht genommenen drei Einkaufszentren erwerben würde. In dieser Situation wurde die Entscheidung zum Abschluss des Bestandvertrags auch vom Vorstand der Antragsgegnerin zu I. (R*) getroffen.
[140] B.IV.2.13. Jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die federführende Teilnahme der Muttergesellschaft am Zustandekommen des Zusammenschlusses konkret nachgewiesen ist, steht die Bestimmung des § 86 Abs 12 KartG, wonach § 29 KartG idF KaWeRÄG 2021 auf Zuwiderhandlungen anzuwenden ist, die nach dem Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes begangen werden, der Verhängung einer Geldbuße über die Muttergesellschaft (hier: die Antragsgegnerin zu I. [R*) auch für zeitlich davor liegende Verstöße nicht entgegen.
[141] Der Gesetzgeber ging ausweislich der im Vorigen zitierten Materialien davon aus, dass die Einfügung der Absätze 2 und 3 in § 29 KartG durch das KaWeRÄG 2021 der Klarstellung einer sich bereits aus der Rechtsprechung ergebenden Rechtslage diente. Dass er zum Zweck der Rechtssicherheit und expliziten Richtlinienumsetzung die zeitliche Anwendbarkeit für nach dem Inkrafttreten begangene Zuwiderhandlungen festschrieb, führt nicht zur rückwirkenden Beseitigung einer bereits nach der früheren Gesetzeslage bestehenden geldbußenrechtlichen Verantwortlichkeit.
[142] Zu den vom Erstgericht erörterten Bedenken im Hinblick auf Art 49 GRC ist festzuhalten, dass die Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft für Verstöße ihrer zur selben wirtschaftlichen Einheit gehörenden Tochtergesellschaft auf der dargestellten Rechtsprechung des EuGH fußt.
[143] B.IV.2.14. Entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts bewirkte die Einführung des § 29 Abs 3 Satz 2 KartG daher auch für das Zusammenschlussverfahren nach §§ 11 ff KartG nur eine Klarstellung, nicht eine Änderung der Rechtslage. Auch für vor Inkrafttreten des KaWeRÄG 2021 begangene Verstöße ist daher die Verhängung einer Geldbuße gegen die Muttergesellschaft, die zur selben wirtschaftlichen Einheit wie das zuwiderhandelnde Unternehmen gehört, jedenfalls dann zulässig, wenn diese an der Zuwiderhandlung konkret mitwirkte.
B.V. Zum Verschulden der Antragsgegnerin zu I. (R*)
B.V.1. Begründung des erstgerichtlichen Beschlusses:
[144] Das Erstgericht erblickte das für die Verhängung einer Geldbuße erforderliche Verschulden der Antragsgegnerin zu I. (R*) ausschließlich darin, dass diese nach Inkrafttreten des KaWeRÄG 2021, also ab dem 10. 9. 2021 (§ 86 Abs 1 KartG) trotz Kenntnis von den Ermittlungen der BWB nicht sofort Erhebungen zu den Umsatzzahlen des Lebensmitteleinzelhandels der W* unternommen habe, um den von ihrer Tochtergesellschaft abgeschlossenen Pachtvertrag zusammenschlussrechtlich einordnen zu können.
[145] Es bejahte allerdings die Voraussetzungen eines Absehens von der Geldbuße analog § 191 StPO und begründete dies mit der geringen Schuld der Entscheidungsträger und Mitarbeiter der Antragsgegnerin zu I. Es erachtete als maßgebend, dass der Antragsgegnerin zu I. die Unterlassung von Erhebungen zu den Lebensmitteleinzelhandels-Umsätzen der W* erst ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens von § 29 KartG idF KaWeRÄG 2021 vorwerfbar sei. Darüber hinaus ging es davon aus, dass Bemühungen zur nachträglichen Erhebung der relevanten Umsatzzahlen schwierig gewesen wären, weil zwischen der M* AG und der Vorbetreiberin W* kein Vertragsverhältnis bestanden habe. Wenn die Antragsgegnerin zu I. Anstrengungen zur Datenerhebung unterlassen habe, weil ihre Hochrechnungen keine Umsatzerlöse über 5 Millionen EUR hätten vermuten lassen und die Vertragspartnerin der Tochtergesellschaft (die N* und die Ru*-Gruppe) keine Daten weitergegeben habe, weil es sich nach ihrer Einschätzung nicht um einen anmeldepflichtigen Zusammenschluss gehandelt habe, so liege darin eine äußerst geringfügige Sorgfaltswidrigkeit. Konkrete Feststellungen zu einem allfälligen Bemühen um Informationserlangung liegen dieser Beurteilung nicht zugrunde.
[146] Die Geringfügigkeit der Sorgfaltswidrigkeit ergebe sich zusätzlich aus dem Fehlen von Rechtsprechung zur Frage, ob es sich bei der Übernahme einer Lebensmitteleinzelhandels‑Filiale in einer Situation wie der vorliegenden um die Übernahme eines wesentlichen Teils eines Unternehmens handle. Darüber hinaus sei ein Vertrauenstatbestand dadurch geschaffen worden, dass ein Mitarbeiter der BWB in einem Fachartikel vertreten habe, dass sich die Kunden beim Lebensmitteleinzelhandel bereits nach sechs Monaten verflüchtigten. Der geringe Störwert der Tat ergebe sich daraus, dass sich die Umsätze des Zielobjekts im unteren Bereich der anmeldepflichtigen Zusammenschlüsse bewegten und die Amtsparteien nach der Anmeldung kein Prüfverfahren eingeleitet hätten. Die Verhängung einer Geldbuße sei auch aus general- und spezialpräventiven Gründen nicht erforderlich.
B.V.2. Zu den Rekursen der Amtsparteien:
[147] B.V.2.1. Die Amtsparteien treten in ihren Rekursen der Annahme eines bloß geringen Verschuldens entgegen. Demgegenüber steht die Antragsgegnerin zu I. (R*) in ihrer Rekursbeantwortung auf dem Standpunkt, dass ihr gar kein Verschulden anzulasten sei.
[148] B.V.2.2. Nach § 29 Abs 1 KartG können Geldbußen nur bei Verschulden (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) auferlegt werden (RS0119698 [T1]).
[149] Für das kartellrechtliche Geldbußenverfahren gegen juristische Personen ist die im KartG bestehende Gesetzeslücke zur Frage, wann Fahrlässigkeit vorliegt, wegen des gleichen Regelungszwecks durch analoge Anwendung von § 3 Abs 3 VbVG zu schließen und damit der Maßstab einer objektiven Sorgfaltswidrigkeit anzulegen (16 Ok 2/11, Masped Schenker [ErwGr 5.4.]; RS0119698 [T4]).
[150] B.V.2.3. Die Geldbuße nach der KartGNov 2002 ist nach ihrem Zweck und ihrer Wirkung eine Sanktion mit strafrechtsähnlichem Charakter. Von der Verhängung einer Geldbuße ist daher – in Analogie zu § 191 Abs 1 StPO (vormals § 42 StGB; vgl § 45 Abs 1 Z 4 und § 50 Abs 5a VStG [vormals § 21 Abs 1 VStG]) – abzusehen, wenn das Verschulden des Betroffenen geringfügig ist und die Folgen der Übertretung unbedeutend sind und eine Bestrafung weder aus spezial- noch aus generalpräventiven Gründen erforderlich ist (16 Ok 2/17f, TÜV-Süd [ErwGr II.1] mwN; RS0120560).
[151] B.V.2.4. Im vorliegenden Fall liegt das für die Verhängung einer Geldbuße erforderliche Verschulden der Antragsgegnerin zu I. (R*) im Sinn des § 3 VbVG nicht bloß – wie das Erstgericht ausführte – darin, nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte durch die BWB im Juni 2021 und dem Inkrafttreten des KaWeRÄG 2021 am 10. 9. 2021 keine nachträglichen Erhebungen zu den von der W* mit ihrem Lebensmitteleinzelhandel im gegenständlichen Einkaufszentrum im letzten Geschäftsjahr vor dem Zusammenschluss erwirtschafteten Umsatzzahlen getätigt zu haben. Sie hat vielmehr zu verantworten, dass diese Erhebungen nicht bereits unverzüglich nach dem Abschluss des Bestandvertrags zwischen der M* AG und der N* getätigt wurden, als mit dem Eintritt der aufschiebenden Bedingung für das Wirksamwerden des Bestandvertrags und – als Konsequenz davon – mit dem Erreichen der Einflussmöglichkeit der M* AG über das Zielunternehmen als unmittelbar bevorstehende Möglichkeit zu rechnen war.
[152] B.V.2.5. Darauf, dass ihr die Verwirklichung eines Zusammenschlusstatbestands im Weg der Anmietung durch ihre Tochtergesellschaft nicht erkennbar gewesen wäre, kann sich die Antragsgegnerin zu I. (R*) nicht berufen. Das ergibt sich schon daraus, dass sie in dem der BWB im März 2017 übermittelten Anmeldeentwurf den mittelbaren Erwerb der W*-Lebensmitteleinzelhandels-Flächen durch die Einmietung ihrer Tochtergesellschaft im Einkaufszentrum als Asset‑Deal im Sinn des § 7 Abs 1 Z 1 KartG bezeichnete, die Qualifikation einer langfristigen Einmietung am Standort eines bereits zuvor betriebenen Lebensmitteleinzelhandels als Zusammenschluss also durchaus erkannte. Auch auf die von der Ru*-Gruppe geplanten Umbauten wurde bereits in diesem Zusammenhang hingewiesen. Dass auch eine alternative Ausgestaltung (mittels Betreibervertrags und nachfolgender Anmietung der Flächen) im Konsultationsschreiben angesprochen wurde, ändert nichts daran, dass auch der Charakter der langfristigen Miete ohne vorhergehenden Betreibervertrag als möglicher Zusammenschluss erkannt wurde.
[153] Bereits aus den im Anmeldeentwurf angestellten Erwägungen ergibt sich daher, dass die Antragsgegnerin zu I. (R*) die Notwendigkeit der Ermittlung der von der W* im jeweiligen Einkaufszentrum erwirtschafteten Umsatzerlöse im letzten Geschäftsjahr vor dem Zusammenschluss (§ 9 Abs 1 KartG) bei Anwendung der zumutbaren und gebotenen Sorgfalt erkennen konnte oder zumindest hätte erkennen können.
[154] B.V.2.6. Die vom Erstgericht angenommenen Schwierigkeiten, die Erfüllung des Zusammenschlusstatbestands des § 7 Abs 1 Z 1 KartG zu erkennen, sind aus dem festgestellten Sachverhalt daher nicht ableitbar.
[155] Eine allfällige mangelnde Kooperation einer Vertragspartnerin bei der Ermittlung der gemäß § 9 KartG relevanten Umsatzerlöse (in concreto aufgrund deren – noch dazu unzutreffender – Auffassung, es liege kein anmeldebedürftiger Zusammenschluss vor) kann schon ganz grundsätzlich keinen „Freibrief“ für die Unterlassung der Anmeldung bewirken. Vielmehr wäre in einem solchen Fall bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt die Vornahme einer Anmeldung des Zusammenschlusses als Vorsichtsmaßnahme zumutbar und geboten.
[156] Sollte sich die Antragsgegnerin zu I. (R*) (oder die mit ihr eine wirtschaftliche Einheit bildende M* AG) – wie im Verfahren vorgebracht – mangels Übermittlung konkreter Umsatzzahlen durch die N* oder die Ru*-Gruppe mit einer „Hochrechnung“ der relevanten Umsatzerlöse begnügt haben, ist zudem zu berücksichtigen, dass sich das Unterschreiten der relevanten Umsatzschwelle schon nach ihrem eigenen Vorbringen nur durch die Annahme eines Absinkens des erzielten Lebensmitteleinzelhandels‑Umsatzes der W* ergeben konnte. Unter diesen Umständen musste der Antragsgegnerin zu I. (R*) oder der mit ihr eine wirtschaftliche Einheit bildenden M* AG die Möglichkeit des Überschreitens der relevanten Umsatzschwelle bereits bei Abschluss des Bestandvertrags erkennbar sein.
[157] B.V.2.7. Soweit das Erstgericht aus dem Aufsatz von Mertel (Zielpunkt: Übernahme von LEH-Standorten als Zusammenschluss, WuW 2017, 68) die Setzung eines „Vertrauenstatbestands“ im Hinblick auf die Rechtsansicht der BWB ableitet, ist dem schon deshalb nicht zuzustimmen, weil in der zitierten Publikation ausdrücklich klargestellt ist, dass der Autor zwar als Referent der BWB für die Prüfung der Zusammenschlüsse im Rahmen der Zielpunkt-Insolvenz zuständig war, die im Aufsatz geäußerte Meinung aber nur seine persönliche Ansicht wiedergibt. Es erübrigt sich daher, auf die tatsächlichen Unterschiede beim Erwerb von stillgelegten Filialen, bei denen die Kunden nach einer bestimmten Zeit den Eindruck gewinnen müssen, dass dort auch zukünftig kein Lebensmitteleinzelhandelsbetrieb mehr ausgeübt werden wird (vgl Mertel aaO 70), und einer längeren, dafür erkennbar zum Zweck des Umbaus vorgenommenen Schließung einzugehen. Im Übrigen erfolgte in jenem Fall eine „vorsorgliche“ Anmeldung bei der BWB (vgl Mertel aaO 72).
[158] B.V.2.8. Insgesamt kann daher bei einer Sachlage wie der vorliegenden nicht von einem bloß geringen Verschulden der Antragsgegnerin zu I. (R*) oder der M* AG ausgegangen werden, das analog § 191 StPO zu einem Absehen von der Strafe (nunmehr: Einstellung wegen Geringfügigkeit) Anlass gäbe.
[159] Dies macht die Verhängung einer Geldbuße gegen die Antragsgegnerin zu I. erforderlich.
[160] B.V.2.9. Im vorliegenden Fall erweist sich das Verfahren zur Höhe der über die Antragsgegnerin zu I. (R*) zu verhängenden Geldbuße allerdings als ergänzungsbedürftig.
[161] Auch wenn ein Verstoß durch Unterlassung der gebotenen Anmeldung milder zu beurteilen sein mag als ein Verstoß gegen das Kartellverbot (§ 1 KartG) oder das Missbrauchsverbot (§ 5 KartG), kann hier nicht mit der Verhängung einer „quasi symbolischen“ Geldbuße das Auslangen gefunden werden, weil die Geldbuße eine solche Höhe erreichen muss, dass sie spürbar ist und zum Ausdruck bringt, dass die Unterlassung von Zusammenschlussanmeldungen in Österreich kein „Kavaliersdelikt“ ist (16 Ok 2/13 [ErwGr 7]).
[162] Daher werden im fortgesetzten Verfahren Feststellungen zu dem von der Antragsgegnerin zu I. im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatz (§ 29 Abs 1 KartG) zu treffen sein.
B.VI. Ergebnis
[163] B.VI.1. Aus den dargestellten Erwägungen ergibt sich die Notwendigkeit der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Kartellrechtssache an das Erstgericht im Umfang des im führenden Verfahren gestellten Antrags auf Verhängung einer Geldbuße nach § 29 KartG. Dabei ist jedoch der Deutlichkeit halber darauf hinzuweisen, dass sich die Aufhebung nur auf die Bemessung der Geldbuße bezieht; die Berechtigung des Geldbußenantrags dem Grunde nach ist mit der vorliegenden Entscheidung bereits abschließend geklärt.
[164] B.VI.2. Damit war aber die Abweisung des von der BWB im führenden Verfahren gestellten Antrags auf Feststellung der Zuwiderhandlung nach § 28 Abs 1 KartG zu bestätigen, weil aufgrund der Stattgebung des Geldbußenantrags dem Grunde nach das gemäß § 28 Abs 1 KartG erforderliche Feststellungsinteresse nicht vorliegt. Die Stattgebung eines Geldbußenantrags dem Grunde nach ist hinsichtlich des Feststellungsinteresses dem im Gesetz als Beispiel für fehlendes Feststellungsinteresse angeführten Fall der Verhängung einer Geldbuße (§ 28 Abs 1a Z 2 KartG) wertungsmäßig gleichzuhalten.
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