European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0060OB00013.23I.0202.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiete: Familienrecht (ohne Unterhalt), Internationales Privat- und Zivilverfahrensrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Begründung:
[1] Das Erstgericht ordnete (mit vom Rekursgericht bestätigtem Beschluss) die Rückführung der beiden Kinder binnen 14 Tagen nach Rechtskraft der Entscheidung in die Slowakei an. Diese Entscheidung wurde mit der am 20. 9. 2022 bewirkten Zustellung des Beschlusses des Obersten Gerichtshofs vom 14. 9. 2022 zu 6 Ob 176/22h über die Zurückweisung des außerordentlichen Revisionsrekurses des Vaters (des Entführers) und Antragsgegners rechtskräftig.
[2] Da die aufgetragene Rückführung der Kinder binnen 14 Tagen unterblieb, ordnete das Erstgericht deren Abnahme unter angemessener Gewalt und unter Beiziehung eines Aufsperrdienstes sowie einer Dolmetscherin an. Der Vollzug erfolgte (weil die anberaumte Übergabe der Kinder bei Gericht wegen der Entschuldigung des Vaters, die Kinder seien erkrankt, nicht aussichtsreich erschien) am 17. 10. 2022.
[3] Das Rekursgericht verneinte eine Beschwer des Vaters durch den angefochtenen Beschluss mit der Begründung, eine Wiederherstellung der rechtlichen Situation vor Beschlussfassung sei durch eine Rekursentscheidung nicht mehr möglich.
[4] Der gegen dessen Entscheidung aus dem Revisionsrekursgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhobene außerordentliche Revisionsrekurs ist nicht zulässig, weil darin keine für die Lösung des Rechtsstreits erhebliche Rechtsfrage aufgezeigt wird:
Rechtliche Beurteilung
[5] 1. Art 2 und Art 11 HKÜ verlangen ein Handeln der Behörden des Zufluchtsstaats mit der gebotenen Eile im schnellstmöglichen Verfahren (vgl dazu auch den Initiativantrag zum KindRückG 2017 [BGBl I 2017/130], wonach im Interesse des Kindeswohls einer raschen Entscheidung in Entführungsfällen „höchste Priorität“ zukommt: [IA 2243/A 25. GP 6]).
[6] Verstöße gegen das auch das Vollzugsverfahren umfassende (RS0108469 [T6]) Beschleunigungsgebot können eine Verletzung von Art 6 und 8 EMRK darstellen (6 Ob 157/22i [ErwGr 2.1.]; so schon vor Inkrafttreten des KindRückG 2017 6 Ob 86/13k [ErwGr 1.] und 6 Ob 218/15z [ErwGr 1.3]; vgl auch RS0133519; EGMR 28. 10. 2014, Bsw 5493/13 [Cavani/Ungarn]; 15. 1. 2015, Bsw 4097/13 [M.A./Österreich] Rz 113; Nademleinsky in Gitschthaler, Internationales Familienrecht [2019] Art 12 HKÜ Rz 35).
[7] Das Verfahren über die Rückführung von Kindern nach dem HKÜ ist aus diesem Grund ein der einstweiligen Verfügung angenähertes (so schon ErlRV 485 BlgNR 17. GP , 35 ff; darauf hinweisend 1 Ob 614/90; vgl auch ErlRV 263 BlgNR 25. GP , 3 zur Ausnahme vom Normenprüfungsverfahren in § 62a Abs 1 Satz 2 Z 1 VfGG) Eilverfahren (1 Ob 163/09s; 6 Ob 143/18z; 6 Ob 89/19k) bzw entformalisiertes Schnellverfahren unter weitgehender Ausblendung von Rechtsfragen (so erstmals 1 Ob 550/92; ebenso etwa 4 Ob 88/98i; 5 Ob 47/09m; 10 Ob 16/05h; 6 Ob 230/11h; RS0074532), also ein Eil‑ oder Schnellverfahren unter weitgehender Ausblendung von Formalismen. Das in § 62 AußStrG für alle dem Außerstreitgesetz unterliegenden, in ihrer Zielsetzung durchaus sehr unterschiedlichen Verfahren abgeforderte Aufzeigen einer erheblichen Rechtsfrage im Revisionsrekurs gegen „im Rahmen des Rekursverfahrens ergangene“ Beschlüsse des Rekursgerichts – und damit auch die Zurückweisung des Rekurses mangels Beschwer (RS0120565 [T4]) – hat sich daher im Revisionsrekursverfahren über die (hier) Vollzugsanordnung nach dem HKÜ auf eine Rechtsfrage (vgl RS0120565 [T9, T11]) mit inhaltlicher Zielrichtung zu beziehen.
[8] 2. Der Vater führt dazu (insoweit zutreffend) aus, es sei eine Kindeswohlgefährdung als oberstes Prinzip des Pflegschaftsverfahrens (und als aus Art 13 HKÜ folgend) auch bei der zwangsweisen Durchsetzung der Kindesrückgabe zu beachten. Er moniert, es sei auf das Kindeswohl und die Beeinträchtigung seiner Rechtsstellung als Vater aber nicht Bedacht genommen worden, wenn das Rekursgericht die Beschwer pauschal ausschließe. Im konkreten Fall habe er jene tatsächlichen Umstände aufgezeigt, die der Vollziehung der Rückgabe entgegenstünden und dem Gericht nicht bekannt gewesen seien. Der geltend gemachte Mangel sei verfahrensrelevant. Die Kinder hätten bei der zwangsweisen Durchsetzung der Rückführung „Ich will nicht gehen“ geschrien.
[9] 3.1. Grundsätzlich ist – als Folge des Beschleunigungsgebots – nach § 111c Abs 5 AußstrG idF des KindRückG 2017 die Anordnung der Rückführung (in der Regel) mit der Anordnung ihrer zwangsweisen Durchsetzung unter Setzung einer Erfüllungsfrist zu verbinden, und es kommt Rückführungsentscheidungen die Wirkung der vorläufigen Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu, wenn diese Wirkungen nicht ausdrücklich ausgeschlossen wurden (vgl ähnlich zur vorläufigen Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit bei der selbständigen Anordnung der zwangsweisen Durchsetzung § 111d Abs 1 Satz 1 AußStrG).
[10] 3.2. Im vorliegenden Fall erging die Anordnung der Vollstreckung mit gesondertem Beschluss (weil der Vater die Kinder nicht innerhalb der Erfüllungsfrist rückgeführt und die Rückführungsentscheidung keine zwangsweise Durchsetzung enthalten hatte, sodass gesondert angemessene Zwangsmittel angeordnet werden mussten [§ 110 Abs 2 AußStrG]). Auch in diesem Fall ist auf das Kindeswohl (das ja im Rahmen der Rückführungsentscheidung schon einer Prüfung unterlag) Bedacht zu nehmen, dies allerdings nur insofern, als zwischen der Anordnung der Rückführung und den Vollstreckungsmaßnahmen (genauer: der Anordnung der Vollstreckung) eine Änderung der Verhältnisse eingetreten ist, aufgrund derer die Vollstreckung (nun) mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden wäre und wenn die Gefährdung auch nicht durch die in § 110 Abs 4 AußStrG vorgesehenen Unterstützungsmaßnahmen verhindert werden kann (Nademleinsky aaO Rz 36; so schon 6 Ob 218/15z [ErwGr 3.4.]; § 111d Abs 2 AußStrG).
[11] 4.1. Das vom Vater geortete Rechtsschutzdefizit infolge Zustellung des Beschlusses (erst) anlässlich des Vollzugs (der ansonsten leicht hätte unterlaufen werden können) ist gemessen am Beschleunigungsgebot im Rückführverfahren in Verbindung mit der vorläufigen Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit des bekämpften Beschlussesnach § 111d Abs 2 AußStrG nicht gegeben. Auch eine frühere Zustellung hätte dessen vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit nicht beseitigt. Es mag nun zutreffen, dass im Fall eines selbständigen Beschlusses über die Anordnung der zwangsweisen Durchsetzung die Beschwer des Entführers nicht durch den bereits erfolgten Vollzug der Rückführung weggefallen ist, weil dieser ein Recht auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Vollzugs der Rückführungsanordnung im Instanzenzug hat (6 Ob 63/18k; 6 Ob 157/22i [ErwGr 1.]; zum Titelverfahren vgl 6 Ob 204/21z). Es gelingt dem Vater aber im Revisionsrekurs nicht, die Relevanz der von ihm dem Rekursgericht vorgeworfenen, auf einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung zur Beschwer beruhenden Mangelhaftigkeit des Verfahrens (unterbliebene Überprüfung seines Einwands einer Gefährdung des Wohls seiner Kinder durch den zwangsweisen Vollzug) darzulegen (vgl RS0043027 [T8, T13]).
[12] 4.2. Der Revisionsrekurs führt zur Gefährdung des Kindeswohls (bloß) aus, die Kinder hätten im Rahmen der Durchsetzung der Rückgabe „Ich will nicht gehen“, geschrien. Ungeachtet der Frage der Richtigkeit dieser Behauptung vermag dieser Umstand ein „Widersetzen“ der Kinder iSd Art 13 Abs 2 HKÜ (siehe dazu RS0074552) schon insofern nicht zu begründen, als sich das Erstgericht bereits im Titelverfahren mit der Frage der hierfür ausreichenden Reife der Kinder ausführlich auseinandergesetzt und diese verneint hatte, wogegen der Vater (in beiden Rechtsmitteln) keinerlei Umstände behauptet, die eine nunmehr abweichende Beurteilungsmöglichkeit der Authentizität und Ernsthaftigkeit eines von den Kindern geäußerten Wunsches eröffneten. Auch die damalige Feststellung, wonach die notwendige Reife, eine solch umfassende Entscheidung treffen zu können, ab dem 14. Lebensjahr angenommen wird, hat sich noch bei keinem der Kinder (nunmehr rund 11,5 bzw 9,5 Jahre alt) verwirklicht. Im Zusammenhang mit einer Gefährdung des Kindeswohls nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist der bloße Wunsch des Kindes, in der bisherigen Umgebung zu bleiben, nicht derart gravierend, dass bei Nichterfüllung eine Kindeswohlgefährdung im Sinn des Übereinkommens zu bejahen wäre (RS0074568 [T6]).
[13] Auf den im Rekurs einzig relevierten Umstand, dass die Kinder bei der Abnahme krank gewesen seien und Antibiotika genommen hätten – was für sich schon mangels einer behaupteten schweren Erkrankung bzw Transportunfähigkeit den eng auszulegenden Kriterien des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ (arg: „schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens“; zur engen Auslegung s RS0074568 [T8, T12]) nicht genügen wird –, kommt der Vater im Revisionsrekurs nicht mehr zurück. Nur am Rande sei dazu erwähnt, dass die dem Rekurs beigelegte, von einem Kinderkompetenzzentrum (Fachärzte für Kinder- und Jugendheilkunde) am 22. 10. 2022 ausgestellte „Befreiung vom Unterricht“ ohnehin nur ein Kind betrifft, nicht einmal eine ganze Woche umfasst und überdies rückdatiert ist (die Abnahme der Kinder erfolgte schon am 17. 10. 2022); zur Behauptung, die Kinder „hätten Antibiotika zu sich genommen“, wurde ein Rezept über (antibiotikahältige) Ohrentropfen (https://www.infectopharm.com/praeparate/infectociprocort/ ) vorgelegt.
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