European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E133145
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
[1] 1. Ziel des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, BGBl 512/1988, (HKÜ) ist es, die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen (Art 1 lit a HKÜ). Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrfach klargestellt, es ergebe sich aus der Präambel des Übereinkommens (... um eine sofortige Rückgabe in „den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen“ ...), dass sicherzustellen ist, dass das Kind in den Staat seines bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts (Ursprungsstaat; vgl 6 Ob 152/17x) zurückkehrt (stRsp, siehe bloß 8 Ob 121/03g; 6 Ob 26/12k). Das Kind, das sich an seinem gewöhnlichen Aufenthalt befindet, kann daher dorthin weder verbracht noch dort zurückgehalten werden (RS0109515 [T8, T20]).
[2] 1.2. Nach ständiger, die Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) berücksichtigender Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (RS0126369) ist unter dem gewöhnlichen Aufenthalt eines Kindes der Ort zu verstehen, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hiefür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Dabei ist es Sache des nationalen Gerichts des Fluchtstaats, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen (RS0126369); ob ein solcher vorliegt, stellt dabei regelmäßig keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG dar (RS0126369 [T9]).
[3] 1.3. Langt der Antrag auf Rückführung innerhalb eines Jahres nach dem Verbringen oder Zurückhalten bei Gericht ein, „so ordnet“ dieses die sofortige Rückgabe an (Art 12 Abs 1 HKÜ). Nach dieser Bestimmung ist der Umstand, dass sich das Kind zwischenzeitlich im Verbringungsstaat eingelebt hat, nicht relevant und steht einer Rückführung nicht per se entgegen (2 Ob 291/00h; 5 Ob 47/09m; 6 Ob 242/20m [ErwGr 3.]; Nademleinsky in Gitschthaler, Internationales Familienrecht, Art 12 HKÜ Rz 1). Ob sich das Kind in seine neue Umgebung eingelebt hat, ist somit lediglich nach Art 12 Abs 2 HKÜ, also in solchen Fällen von Bedeutung, in denen der Rückführungsantrag erst nach Ablauf der Jahresfrist eingegangen ist; ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor.
[4] 2.1. Die Beurteilung der Vorinstanzen, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Minderjährigen zum Zeitpunkt seiner Verbringung nach Österreich ausschließlich in Deutschland bestand, weil der Minderjährige damals bereits seit über drei Jahren in Deutschland wohnte und dort den Kindergarten sowie einen Sportverein besuchte, hält sich im Rahmen der dargestellten Grundsätze. Auch die Auffassung, dass die vor der Verbringung stattgefundenen Besuche bei Verwandten und Freunden in Österreich sowie das (wenn auch mehrmalige) Aufsuchen eines Kinderarztes in Österreich von dem in Deutschland in Grenznähe gelegenen Wohnort aus nicht ausreichten, um einen gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in Österreich zu begründen, überschreitet den dem Rekursgericht eingeräumten Beurteilungsspielraum nicht.
[5] 2.2. Wenn im außerordentlichen Revisionsrekurs auf Umstände verwiesen wird, die sich ab Oktober 2020, also nach Verbringung des Minderjährigen nach Österreich zugetragen haben, wird damit keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung des bisherigen – also vor der Verbringung – bestehenden gewöhnlichen Aufenthalts dargetan.
[6] Die Ausführungen der Antragsgegnerin und Mutter, der Aufenthalt des Minderjährigen in Österreich habe sich verfestigt, lassen außer Acht, dass der Rückführungsantrag des Antragstellers und Vaters weniger als ein Jahr nach Verbringung des Minderjährigen nach Österreich beim Erstgericht einlangte, sodass dessen Integration in Österreich der Rückführung nach Art 12 Abs 1 HKÜ nicht entgegen steht (6 Ob 242/20m).
[7] 3. Kehrt das Kind vor der Entscheidung in erster Instanz in den Herkunftsstaat zurück, ist das Verfahren einzustellen, weil in einem solchen Fall der Entführungstatbestand zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht mehr verwirklicht ist (Nademleinsky in Gitschthaler, Internationales Familienrecht, Art 12 HKÜ Rz 11).
[8] Bei anderer Auffassung würde auch eine vom entführenden Elternteil in Entsprechung eines noch nicht rechtskräftigen Rckführungsauftrags erfolgte Rückführung des Kindes stets zu einem Wegfall der Beschwerführer und damit zum Verlust der Überprüfungsmöglichkeit der Entscheidung führen.
[9] Kehrt das Kind hingegen erst nach der Rückführungsentscheidung, aber noch vor deren Rechtskraft in den Herkunftsstaat zurück, sei es „freiwillig“ mit dem Entführer, sei es zwangsweise, fällt das rechtliche Interesse des Antragsgegners an der Entscheidung jedoch nicht weg; über sein Rechtsmittel ist daher zu entscheiden (Nademleinsky in Gitschthaler, Internationales Familienrecht, Art 12 HKÜ Rz 11). Die im außerordentlichen Revisionsrekurs behauptete Verlegung des Wohnsitzes der Mutter und des Minderjährigen nach Deutschland – die die Mutter erstmals mit Schriftsatz vom 29. 9. 2021, also nach Zustellung der Entscheidung des Rekursgerichts ankündigte – führt daher nicht zu einem Wegfall der Beschwer der Mutter.
[10] Das Rechtsmittelvorbringen zur Übersiedlung nach Deutschland ist auch nicht geeignet, eine abweichende Sachentscheidung herbeizuführen.
[11] 4. Auch im Außerstreitverfahren gilt in dritter Instanz das Neuerungsverbot (RS0119918); der Entscheidung sind die Umstände zum Zeitpunkt der Beschlussfassung in erster Instanz zugrunde zu legen (RS0006928). Ungeachtet des Neuerungsverbots ist der Maxime des Kindeswohls im Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren aber dadurch zu entsprechen, dass neue Tatsachen auch dann zu berücksichtigen sind, wenn sie erst nach der Beschlussfassung der Vorinstanzen eingetreten sind (RS0122192; vgl RS0048056). Das bezieht sich aber nur auf unstrittige und aktenkundige Umstände (RS0048056 [T7]; 2 Ob 130/08v; 5 Ob 188/11z) nicht auf Umstände, die erst noch durch ein Beweisverfahren zu klären sind.
[12] Derartige Umstände liegen hier nicht vor. Der von der Antragsgegnerin behauptete Umzug wurde vielmehr vom Antragsteller unter Vorlage einer Auskunft aus dem zentralen Melderegister bestritten. Darüber hinaus kann das Kindeswohl in Fällen, in denen der entführende Elternteil (möglicherweise) mit dem Kind bereits in den Ursprungsstaat zurückkehrte, durch die Bestätigung einer Rückführungsentscheidung (bzw durch die Zurückweisung des dagegen erhobenen außerordentlichen Revisionsrekurses) nicht beeinträchtigt werden.
[13] Soweit sich der außerordentliche Revisionsrekurs gegen die Beurteilung des Rekursgerichts wendet, ein in Deutschland verbrachter Kuraufenthalt und ein Ferienbesuch bei einer in Deutschland wohnhaften Freundin der Mutter seien nicht als Rückführung des Kindes nach Deutschland zu werten, steht auch diese Beurteilung des konkreten Einzelfalls im Einklang mit der oben (zu 1.2.) dargestellten höchstgerichtlichen Rechtsprechung.
[14] 5. Zusammengefasst wird somit keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG dargetan, sodass der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter zurückzuweisen war.
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