OGH 6Ob157/22i

OGH6Ob157/22i17.8.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer, Dr. Faber, Mag. Pertmayr und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Außerstreitsache des Antragstellers M* Y*, USA, vertreten durch Held Berdnik Astner & Partner Rechtsanwälte GmbH in Graz, wider die Antragsgegnerin V* Y*, vertreten durch Mag. Irmgard Neumann, Rechtsanwältin in Graz, wegen Rückführung der minderjährigen P* Y*, geboren am * 2018, nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 11. Juli 2022, GZ 2 R 99/22a‑134, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0060OB00157.22I.0817.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

 

Begründung:

[1] In der in diesem Verfahren ergangenen Vorentscheidung 6 Ob 99/22k erachtete der Senat die in der Rückführungsanordnung vertretene Ansicht der Vorinstanzen, mangels Zustimmung des Antragstellers zu einer dauerhaften Aufenthaltsänderung des Kindes von den USA nach Österreich iSd Art 13 Abs 1 lit a HKÜ liege ein rechtswidriges Zurückhalten iSd Art 3 HKÜ vor, für nicht korrekturbedürftig.

[2] Das Erstgericht ordnete mit einem weiteren Beschluss die Vollstreckung der Rückführungsanordnung durch Abnahme des Kindes an, die am 10. 6. 2022 vollzogen wurde. Seitdem befindet sich das Kind beim Antragsteller in den USA.

[3] Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung des Erstgerichts.

[4] Der dagegen erhobene außerordentliche Revisionsrekurs der Antragsgegnerin zeigt keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf:

Rechtliche Beurteilung

[5] 1. Trotz der bereits am 10. 6. 2022 erfolgten Kindesabnahme und Rückreise (mit dem Vater) in die USA ist die Beschwer der Antragsgegnerin nicht weggefallen (vgl 6 Ob 204/21z [ErwGr 3.]).

[6] 2.1. Art 11 HKÜ verlangt ein Handeln der Behörden des Zufluchtsstaats mit der gebotenen Eile. Dieses besondere Beschleunigungsgebot gilt auch für das Vollstreckungsverfahren (6 Ob 218/15z [ErwGr 1.3]; RS0108469 [T6]), das sich gemäß § 111d Abs 1 AußStrG sinngemäß nach den Bestimmungen des 7. Hauptstücks, insbesondere § 110 AußStrG, richtet (vgl 6 Ob 86/13k [ErwGr 1.]).

[7] 2.2. Selbst bei der Ermessensentscheidung, ob ein Pflegschaftsverfahren zur Ermittlung und Aburteilung einer für die Entscheidung maßgeblichen strafbaren Handlung unterbrochen werden soll (§ 25 Abs 2 Z 2 AußStrG), ist die zu erwartende Verzögerung des Verfahrens zu berücksichtigen, dies auch dann, wenn bereits ein gerichtliches Strafverfahren anhängig ist (vgl 3 Ob 73/19k [ErwGr 1.2.]).

[8] 2.3. Im vorliegenden Fall haben die Vorinstanzen selbst geprüft, ob der Antragsteller die von der Antragsgegnerin behauptete, nach Anordnung der Rückführung gesetzte strafbare Handlung begangen hat.

[9] Im Hinblick auf die besondere Dringlichkeit der zu treffenden Entscheidung über die Vollstreckung der Rückführungsentscheidung zeigt der Revisionsrekurs mit seinem Argument, die Vorinstanzen hätten den Ausgang des (aufgrund einer Anzeige der Mutter) bei einer Staatsanwaltschaft laufenden Ermittlungsverfahrens abwarten müssen, keine aufzugreifende Fehlbeurteilung auf. Bereits das Rekursgericht hat überdies darauf hingewiesen, dass – wie der Revisionsrekurs auch einräumt – das Verfahren der Staatsanwaltschaft ohnehin mangels Vorliegens von Anhaltspunkten für die angezeigte Straftat mittlerweile eingestellt wurde.

[10] 2.4. Das Rekursgericht hat eine Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens durch die behauptete „Überraschungsentscheidung“ verneint. Auch im Verfahren außer Streitsachen kann eine vom Rekursgericht verneinte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs im Revisionsrekursverfahren nicht mehr geltend gemacht werden (RS0050037; RS0030748). Der Revisionsrekurs legt im Übrigen weder die Relevanz des behaupteten Verfahrensmangels dar noch liegen Anhaltspunkte für eine ausnahmsweise Durchbrechung der erörterten Regel im Einzelfall aus Gründen des Kindeswohls (RS0050037 [T4, T18]) vor.

[11] 3.1. Weshalb aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 14. 7. 2021, C‑572/21 , für die Antragsgegnerin etwas zu gewinnen sein sollte, ist nicht erkennbar. Nach dieser Entscheidung ist Art 8 Abs 1 iVm Art 61 lit a Brüssel IIa‑VO dahin auszulegen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem ein die elterliche Verantwortung betreffender Rechtsstreit anhängig ist, die nach Art 8 Abs 1 der Verordnung bestehende Zuständigkeit für die Entscheidung über diesen Rechtsstreit nicht behält, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des betreffenden Kindes im Lauf des Verfahrens rechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Drittstaats verlegt worden ist, der Vertragspartei des KSÜ ist.

[12] 3.2. Ein vergleichbarer Sachverhalt oder eine auf die perpetuatio fori des Art 8 Brüssel IIa‑VO gestützte internationale Zuständigkeit der Vorinstanzen im „Titelverfahren“ lag hier aber nicht vor. Soweit der Revisionsrekurs offenbar meint, das Erstgericht hätte eine Sachentscheidung über die Obsorge treffen müssen, genügt der Hinweis auf die ausdrücklichen (gegenteiligen) Regelungen der Art 16 und 17 HKÜ (vgl RS0125759; RS0125760), die auch einer Sorgerechtsentscheidung im Herkunftsstaat nicht im Wege stehen (6 Ob 146/14k). Eine vergleichbare Regelung bei widerrechtlicher Verbringung oder Zurückhaltung eines Kindes im Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten findet sich im Übrigen auch in Art 10 Brüssel IIa‑VO (vgl 1 Ob 254/11a [ErwGr 4.]).

[13] 3.3. Der Hinweis auf den mittlerweile eingebrachten Abänderungsantrag nach § 72 AußStrG geht schon wegen § 111d Abs 1 iVm § 107 Abs 1 Z 4 AußStrG ins Leere.

[14] 4.1. Das konkrete Kindeswohl ist – wie sich aus Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ergibt – auch bei der zwangsweisen Durchsetzung der Rückführung zu berücksichtigen (RS0106456). Allerdings kann die Behauptung, das Kindeswohl sei gefährdet, dabei nur auf Sachverhalte gestützt werden, die sich nach der Erlassung der Entscheidung über die Rückführung ereigneten (RS0007272; vgl nunmehr auch § 111d Abs 2 AußStrG). Lediglich in Ausnahmefällen kann ein Vollzug dann unterbleiben, wenn nach der Anordnung der Rückführung und vor der Vornahme von Vollstreckungsmaßnahmen neue Umstände eingetreten sind, die bei der Anordnung von Vollstreckungsmaßnahmen zu einer schwerwiegenden Kindeswohlgefährdung führen würden (6 Ob 83/21f [ErwGr 2.]).

[15] 4.2. Ob das Kindeswohl bei einer Rückgabe gefährdet ist, hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Diese Frage bedarf regelmäßig nur dann einer Beurteilung durch den Obersten Gerichtshof, wenn die Vorinstanzen bei ihren Entscheidungen in unvertretbarer Weise von den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen abgewichen sind (6 Ob 123/16f [ErwGr 2.1.]; RS0112662 [T5]).

[16] 4.3. Das Erstgericht hat bereits in der Rückführungsanordnung auf Grundlage eines psychologischen Sachverständigengutachtens (vgl aber RS0108469 [T7, T8]) infolge entsprechender Einwendungen der Antragsgegnerin festgestellt, dass eine Kindeswohlgefährdung bei einem Beziehungs- oder Bindungsabbruch des Kindes zur Antragsgegnerin ausgeschlossen werden kann.

[17] Nach den nunmehrigen, auf Grundlage eines ergänzenden psychologischen Sachverständigengutachtens getroffenen Feststellungen lagen weder die behaupteten strafbaren Handlungen des Antragstellers vor noch Anhaltspunkte dafür, dass das Kind bei einer Übersiedlung in die USA maßgeblich irritiert sein könnte.

[18] 4.4. Mit der Auffassung des Rekursgerichts, die Frage der Gefährdung des Kindeswohls durch eine Trennung von der Antragsgegnerin als wichtiger Bezugsperson sei bereits im Verfahren über die Rückführungsanordnung verneint worden und könne daher nicht neuerlich aufgerollt werden, setzt sich der Revisionsrekurs nicht auseinander; ebenso wenig mit dessen Beurteilung, dass das vom Pflegschaftsgericht des Herkunftsstaats nunmehr angeordnete vorläufige Kontaktverbot der Antragsgegnerin zum Kind kein Rückführungshindernis darstelle, weil es – nach den vom Rekursgericht ohnehin ergänzten Feststellungen – lediglich bis zur Erlassung weiterer Anordnungen nach einer unverzüglich stattfindenden nächsten Verhandlung gelte. Auch gegen die Ansicht des Rekursgerichts, selbst ein der Antragsgegnerin im Herkunftsstaat drohendes Strafverfahren (wegen Kindesentführung) schließe eine Rückführung des Kindes nicht aus (vgl 6 Ob 134/13v [ErwGr 3.2.3.]), bringt der Revisionsrekurs keine Argumente vor.

[19] Eine im Interesse der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung des Rekursgerichts, das der Ansicht war, es seien keine neuen Umstände eingetreten, die bei der Anordnung der Vollstreckungsmaßnahme zu einer schwerwiegenden Kindeswohlgefährdung führen würden, zeigt der Revisionsrekurs somit nicht auf.

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