AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2021:L529.2156128.1.00
Spruch:
Schriftliche Ausfertigung des in der Verhandlung am 28.04.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. M. EGGINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von 1) XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, und 2) XXXX , geb. XXXX , StA. Marokko, beide vertreten durch die BBU, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.04.2017, Zlen zu 1) XXXX und 2) XXXX , nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am 26.02.2021 und 28.04.2021, zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
I.1. Die Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz als “BF“ bzw. gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch als BF1 – BF2 bezeichnet) sind verheiratet und stellten nach illegaler Einreise in Österreich am 09.09.2015 Anträge auf internationalen Schutz. Der BF1 ist Staatsangehöriger des Irak, er gehört der Volksgruppe der Araber und der schiitischen Religionsgemeinschaft an. Die BF2 ist Staatsangehörige von Marokko und gehört der sunnitischen Religionsgemeinschaft an. Sie lebte mit ihrem Ehemann, dem BF1, die letzten 5 Jahre vor ihrer Ausreise im Irak.
I.2. Anlässlich der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 11.09.2015 gab der BF1 zum Fluchtgrund befragt an, dass er bei einer Gerichtsverhandlung von einem bestochenen Richter ungerecht behandelt worden sei. Er habe den Richter angezeigt und sei in der Folge von Milizen bedroht worden. Seine Autoscheibe sei eingeschlagen worden und im Auto habe sich ein Drohbrief befunden; er sei darin aufgefordert worden, die Klage zurückzuziehen, ansonsten werde er umgebracht werden. Daraufhin habe er mit seiner Frau sein Heimatland verlassen. Bei Rückkehr fürchte er um seine Sicherheit.
Die BF2 gab anlässlich der Erstbefragung an, dass sie Araberin mit marokkanischer Staatsbürgerschaft sei, aber seit 5 Jahren mit ihrem Ehemann im Irak lebe. Sie habe keine eigenen Fluchtgründe, sondern sei mit ihrem Mann mitgegangen.
I.3. Am 01.03.2016 wurden die BF beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Der BF1 gab dabei an, er sei von 1998 – 2012 in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) als Autoteilehändler tätig gewesen. Nach seiner Rückkehr in den Irak im Jahr 2012 habe er bis zu seiner Ausreise bei einer verwitweten Tante in Kerbala gewohnt. Er sei Schiite, aber nicht sehr religiös eingestellt, sein Fluchtgrund habe auch keinen religiösen Hintergrund. Zum Fluchtgrund befragt gab der BF1 an, er habe im Irak Liegenschaften und Fahrzeuge besessen, die mit einer gefälschten Vollmacht verkauft worden seien. Er habe dies zur Anzeige gebracht und sei in der Folge mit dem Umbringen bedroht worden, wenn er die Klage nicht zurückziehe. Den Wert des von ihm angestrengten Verfahrens bezifferte der BF1 mit 0,5 Mio Dollar. Er habe auch gegen zwei Richter und den Präsidenten des Berufungsgerichtes Anzeige wegen Bestechung und Korruption erstattet. Er habe seinen Sohn wegen dieser Bedrohungen schon zuvor nach Österreich geschickt. Ein weiterer Fluchtgrund sei der Umstand, dass seine Frau Sunnitin sei. Sie hätten zwar deshalb noch keine Probleme gehabt, er mache sich aber Sorgen. Zum Beweis seines Vorbringens brachte der BF1 Kopien der gefälschten Vollmacht und eines Haftbefehls in Vorlage.
Die BF2 gab in der niederschriftlichen Einvernahme an, dass sie 2002 aus Marokko in die VAE ausgewandert sei. Sie sei sunnitische Araberin und betreffend Marokko gebe es keine Fluchtgründe, wenngleich es auch dort konfessionelle Konflikte gebe. Zum Fluchtgrund aus dem Irak befragt führte die BF2 aus, dass sie sich auf den Fluchtgrund ihres Ehemannes beziehe. Darüber hinaus gebe es Probleme, weil sie als Sunnitin mit einem Schiiten verheiratet sei und in einem schiitischen Land lebe.
I.4. Mit Untersuchungsbericht vom 18.03.2016 des Bundeskriminalamtes wurde festgestellt, dass es sich bei der von den BF vorgelegten Heiratsurkunde um eine Totalfälschung handle.
I.5. Am 06.04.2016 wurden die BF abermals beim BFA niederschriftlich einvernommen. Nach Vorhalt der Heiratsurkunde bestritten die BF deren Fälschung. Der BF1 führte ergänzend dazu aus, dass seine Ehefrau erst in den Irak einreisen habe dürfen, nachdem der Ehevertrag ausgestellt worden sei.
I.6. Die Anträge auf internationalen Schutz wurden mit im Spruch genannten Bescheiden des BFA gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurden die Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak (BF1) bzw. Marokko (BF2) abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung in den Irak (BF1) bzw. Marokko (BF2) gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
Das BFA stellte fest, dass der BF1 im Irak keiner staatlichen Verfolgung ausgesetzt war und dass auch kein religiöses Motiv festgestellt werden konnte. In Bezug auf die BF2 stellte das BFA fest, dass diese Marokko aus wirtschaftlichen Gründen verlassen und keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht habe.
I.7. Gegen diese Bescheide wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben und diese in vollem Umfang wegen Rechtswidrigkeit infolge eines mangelhaften Ermittlungsverfahrens, mangelhafter Beweiswürdigung sowie wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung angefochten.
I.8. Der Verwaltungsakt langte am 10.05.2017 beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurde vorerst der Gerichtsabteilung L506 zugeteilt. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.09.2018 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung L506 abgenommen und mit 04.10.2018 der Gerichtsabteilung L528 neu zugewiesen. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 21.01.2019 wurde die Rechtssache wegen Ausscheidens des Leiters der Gerichtabteilung L528 der vormals zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und mit 06.03.2019 der Gerichtsabteilung L529 neu zugeteilt.
I.9. Für den 18.11.2020 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Verhandlung, diese wurde aber am 13.11.2020 wieder abberaumt. Für den 26.02.2021 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien neuerlich zu einer mündlichen Verhandlung. Mit der Ladung wurden den BF länderkundliche Informationen übermittelt und die Möglichkeit zur Stellungnahme dazu eingeräumt.
I.10. Am 26.02.2021 wurde von 08.39 Uhr bis 16.10 Uhr eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt, bei der die BF Gelegenheit hatten, zum Fluchtvorbringen, zu ihrer Integration und ihrer Rückkehrsituation Stellung zu nehmen.
Die Verhandlung vom 26.02.2021 wurde auf den 28.04.2021 vertagt und den BF eine Frist von 14 Tagen zur nochmaligen Vorlage von Dokumenten in leserlicher Form, vorzugsweise im Original, aufgetragen. Die BF ersuchten am 05.03.2021 um Fristerstreckung, da die BF2 aufgrund des Verdachts einer Ansteckung mit Covid-19 behördlich abgesondert worden sei.
I.11. In Entsprechung des gerichtlichen Auftrages vom 26.02.2021 übermittelten die BF ein Konvolut an Unterlagen.
I.12. Am 28.04.2021 fand von 08.30 bis 15.05 Uhr die fortgesetzte öffentliche mündliche Verhandlung statt.
Am Ende der Verhandlung wurden mittels mündlich verkündetem Erkenntnis die Beschwerden als unbegründet abgewiesen. Die Niederschrift der mündlichen Verkündung enthält die wesentlichen Entscheidungsgründe.
I.13. Mit – beim BVwG am 04.05.2021 eingelangtem – Schriftsatz beantragten die BF die schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.
I.14. Hinsichtlich des detaillierten Verfahrensherganges wird auf den Akteninhalt verwiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
II.1. Feststellungen (Sachverhalt):
II.1.1. Zur Person der BF:
Der BF1 ist Staatsangehöriger des Irak, führt den im Spruch genannten Namen und gehört der Volksgruppe der Araber und der schiitischen Religionsgemeinschaft an. Seine Identität steht fest.
Die BF2 ist Staatsangehörige von Marokko, führt den im Spruch genannten Namen und gehört der Volksgruppe der Araber und der sunnitischen Religionsgemeinschaft an. Ihre Identität steht fest.
Die BF sind miteinander verheiratet. Die BF haben in den VAE 2007 geheiratet.
Die BF reisten illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 09.09.2015 Anträge auf internationalen Schutz.
Der BF1 stammt aus Kerbala. Er hat im Irak 12 Jahre die Schule besucht, mit Matura abgeschlossen und ein Sportstudium (Abschluss 1989) absolviert. Von 1989 – 1999 verdiente er im Irak seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Autoteilen. Nach einem etwa einjährigen Aufenthalt in Jordanien, wo er seinen Lebensunterhalt mit der Montage von Beleuchtungsschildern verdiente, reiste er in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), wo er sich von 2000 bis 24.10.2010 aufhielt. In den VAE war er von 2004 im Autoexport tätig, ab 2005 betrieb er eine Transportfirma, welche innerhalb der VAE Baumaterialien, Schutt und Erdaushub transportierte.
Familienangehörige des BF1 leben nach wie vor im Irak. Der BF steht zumindest mit zwei seiner Töchter aus erster Ehe in Kontakt.
Die BF2 hat in Marokko 12 Jahre die Schule besucht und als Friseurin gearbeitet. Sie ist aus wirtschaftlichen Gründen im Jahr 2002 in die VAE ausgewandert.
Familienangehörige der BF2 leben nach wie vor in Marokko und die BF2 steht in Kontakt mit ihnen. Sie war auch mehrmals zu Besuchszwecken in Marokko.
Der BF1 leidet an keiner lebensbedrohlichen oder akut behandlungsbedürften Erkrankung und er ist arbeitsfähig.
Die BF2 ist gesund und arbeitsfähig.
In Österreich hat der BF1 mit Ausnahme seiner Ehefrau noch zwei Töchter und einen Sohn. Mit dem Sohn, einer Tochter und deren Kind leben die BF in einer gemeinsamen Wohnung, die zweite Tochter lebt mit ihrer Familie in Wien; die BF stehen auch mit dieser Tochter (und deren Familie) in regelmäßigem Kontakt. Die BF2 kam mit ihrem Ehemann, dem BF1, nach Österreich und steht in Kontakt mit dessen hier aufhältigen Kindern und deren Familien.
Die BF haben bislang keine Deutschprüfung abgelegt und verfügen über geringe (BF1) bzw. bloß rudimentäre (BF2) Deutschkenntnisse. Sie sind nicht selbsterhaltungsfähig, waren bislang nicht karitativ tätig, sind nicht Mitglieder in einem Verein oder in einer sonstigen Organisation und verfügen auch über keine Unterstützungs- oder Empfehlungsschreiben.
Die BF sind strafrechtlich unbescholten.
II.1.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:
Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF1 in seinem Heimatland einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung iSd GFK ausgesetzt war oder im Falle seiner Rückkehr dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine solche zu erwarten hätte.
Es konnte zudem, unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände, nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des BF1 in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für den BF1 als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Es wird festgestellt, dass dem BF1 im Rückkehrfall keine lebens- bzw. existenzbedrohende Notlage droht. Dem BF1 ist eine Rückkehr in seine Herkunftsregion zum Entscheidungszeitpunkt zumutbar.
Die BF2 machte keine eigenen Fluchtgründe geltend, sondern es sollten für sie die Fluchtgründe ihres Ehemannes gelten. Eine Bedrohung der BF1 in ihrem Herkunftsland Marokko oder auch im Irak wurde von der BF2 nicht geltend gemacht und war auch aufgrund der Aktenlage nicht feststellbar. Wie dem BF1 ist der BF2 eine Rückkehr zumutbar.
II.1.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:
II.1.3.1. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak wurden den BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Länderinformationsblatt mit letzter Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020) übermittelt und wurden in der mündlichen Verhandlung am 26.02.2021 ergänzende dokumente ins Verfahren eingeführt (VHS Seite 39, 40) und wird konkret auf die insoweit relevanten Abschnitte hingewiesen:
Sicherheitslage
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).
Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).
Islamischer Staat (IS)
Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).
Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).
Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).
Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).
Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).
Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).
Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen
Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranische PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).
Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).
[…]
Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro
Monat jeweils ein Balken).
Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).
Iraq Body Count, Teilausdruck vom 27.01.2021
Monatliche zivile Todesfälle durch Gewalt, ab 2003; Teilausdruck vom 23.06.2021
| Jan | Feb | Mar | Apr | Mai | Jun | Jul | Aug | Sep | Okt | Nov | Dec | |
2003 | 3 | 2 | 3977 | 3438 | 545 | 597 | 646 | 833 | 566 | 515 | 487 | 524 | 12,133 |
2004 | 610 | 663 | 1004 | 1303 | 655 | 910 | 834 | 878 | 1042 | 1033 | 1676 | 1129 | 11,737 |
2005 | 1222 | 1297 | 905 | 1145 | 1396 | 1347 | 1536 | 2352 | 1444 | 1311 | 1487 | 1141 | 16,583 |
2006 | 1546 | 1579 | 1957 | 1805 | 2279 | 2594 | 3298 | 2865 | 2567 | 3041 | 3095 | 2900 | 29,526 |
2007 | 3035 | 2680 | 2728 | 2573 | 2854 | 2219 | 2702 | 2483 | 1391 | 1326 | 1124 | 997 | 26,112 |
2008 | 861 | 1093 | 1669 | 1317 | 915 | 755 | 640 | 30° | 612 | 594 | 540 | 586 | 10,286 |
2009 | 372 | 409 | 438 | 590 | 428 | 564 | 431 | 653 | 352 | 441 | 226 | 478 | 5,382 |
2010 | 267 | 305 | 336 | 385 | 387 | 385 | 488 | 520 | 254 | 315 | 307 | 218 | 4,167 |
2011 | 389 | 254 | 311 | 289 | 381 | 386 | 308 | 401 | 397 | 366 | 288 | 392 | 4,162 |
2012 | 531 | 356 | 377 | 392 | 304 | 529 | 469 | 422 | 400 | 290 | 253 | 299 | 4,622 |
2013 | 357 | 360 | 403 | 545 | 888 | 659 | 1145 | 1013 | 1306 | 1180 | 870 | 1126 | 9,852 |
2014 | 1097 | 972 | 1029 | 1037 | 1100 | 4088 | 1580 | 3340 | 1474 | 1738 | 1436 | 1327 | 20,218 |
2015 | 1490 | 1625 | 1105 | 2013 | 1295 | 1355 | 1845 | 1991 | 1445 | 1297 | 1021 | 1096 | 17,578 |
2016 | 1374 | 1258 | 1459 | 1192 | 1276 | 1405 | 1280 | 1375 | 935 | 1970 | 1738 | 1131 | 16,393 |
2017 | 1119 | 982 | 1918 | 1816 | 1871 | 1858 | 1498 | 597 | 490 | 397 | 346 | 291 | 13,183 |
2018 | 474 | 410 | 402 | 303 | 229 | 209 | 230 | 201 | 241 | 305 | 160 | 155 | 3,319 |
2019 | 323 | 271 | 123 | 140 | 166 | 130 | 145 | 93 | 151 | 361 | 67° | 215 | 2,392 |
2020 | 114 | 147 | 73 | 50 | 74 | 64 | 47 | 81 | 54 | 70 | 74 | 54 | 902 |
2021 | 64 | 56 | 49 | 66 | 49 |
| |||||||
Sicherheitslage Nord- und Zentralirak
Der Islamische Staat (IS) ist im Zentralirak nach wie vor am aktivsten (Joel Wing 3.2.2020), so sind Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala nach wie vor die Hauptaktionsgebiete der Aufständischen (Joel Wing 2.12.2019).
In den sogenannten „umstrittenen Gebieten“, die sowohl von der Zentralregierung als auch von der kurdischen Regionalregierung (KRG) beansprucht werden, und wo es zu erheblichen Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen durchzuführen (Kurdistan24 7.8.2019). Die Sicherheitsaufgaben in den „umstrittenen Gebieten“ werden zwischen der Bundespolizei und den Volksmobilisierungskräften (al-Hashd ash-Sha‘bi/PMF) geteilt (Rudaw 31.5.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).
Bei den zwischen Bagdad und Erbil „umstrittenen Gebieten“ handelt es sich um einen breiten territorialen Gürtel der zwischen dem „arabischen“ und „kurdischen“ Irak liegt und sich von der iranischen Grenze im mittleren Osten bis zur syrischen Grenze im Nordwesten erstreckt (Crisis Group 14.12.2018). Die „umstrittenen Gebiete“ umfassen Gebiete in den Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala. Dies sind die Distrikte Sinjar (Shingal), Tal Afar, Tilkaef, Sheikhan, Hamdaniya und Makhmour, sowie die Subdistrikte Qahtaniya and Bashiqa in Ninewa, der Distrikt Tuz Khurmatu in Salah ad-Din, das gesamte Gouvernement Kirkuk und die Distrikte Khanaqin und Kifri, sowie der Subdistrikt Mandali in Diyala (USIP 2011). Die Bevölkerung der „umstrittenen Gebiete“ ist sehr heterogen und umfasst auch eine Vielzahl unterschiedlicher ethnischer und religiöser Minderheiten, wie Turkmenen, Jesiden, Schabak, Chaldäer, Assyrer und andere. Kurdische Peshmerga eroberten Teile dieser umstrittenen Gebiete vom IS zurück und verteidigten sie, bzw. stießen in das durch den Zerfall der irakischen Armee entstandene Vakuum vor. Als Reaktion auf das kurdische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017, das auch die „umstrittenen Gebiete“ umfasste, haben die irakischen Streitkräfte diese wieder der kurdischen Kontrolle entzogen (Crisis Group 14.12.2018).
Sicherheitslage Südirak
Der gesamte südliche Teil des Irak, einschließlich des Gouvernements Babil, steht nominell unter der Kontrolle der irakischen Regierung. Vielerorts scheinen die Regierungsbehörden gegenüber lokalen Stämmen und Milizen noch immer in einer schwächeren Position zu sein. Die irakische Regierung war gezwungen, dem Kampf gegen den IS im Zentral- und Nordirak in den letzten Jahren Vorrang einzuräumen, bedeutende militärische und polizeiliche Ressourcen aus dem Süden abzuziehen und in diese Gegenden zu entsenden. Vor diesem Hintergrund sind Stammeskonflikte, eskalierende Gesetzlosigkeit und Kriminalität ein Problem der lokalen Sicherheitslage. Die Bemühungen der Regierung, die Kontrolle wieder zu übernehmen, scheinen noch nicht zum entscheidenden Erfolg geführt zu haben. Regierungsnahe Milizen sind in unterschiedlichem Maße präsent, aber der Großteil ihrer Kräfte wird im Norden eingesetzt. Terrorismus und Terrorismusbekämpfung spielen im Süden nach wie vor eine Rolle, insbesondere in Babil, aber im Allgemeinen in geringerem Maße als weiter im Norden. Noch immer gibt es vereinzelte Terroranschläge (Landinfo 31.5.2018).
Das Gouvernement Babil ist ein einfaches Ziel für die Aufständischen des IS, in das sie von Anbar aus leichten Zugang haben. Insbesondere der Distrikt Jurf al-Sakhr, in dem es keine Zivilisten gibt und der als PMF-Basis dient, ist ein beliebtes Ziel des IS (Joel Wing 9.9.2019). Im November 2019 gab es im Gouvernement Babil zwei sicherheitsrelevante Vorfälle mit einem Toten (Joel Wing 2.12.2019), im Dezember 2019 drei Vorfälle mit drei Verletzten (Joel Wing 6.1.2020) und im Februar 2020 zwei Vorfälle mit einem Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).
Seit 2015 finden in allen Städten des Südirak regelmäßig Demonstrationen statt, um gegen die Korruption der Regierung und die Arbeitslosigkeit zu protestieren und eine bessere Infrastruktur zu fordern. Gewöhnlich finden diese Demonstrationen in Ruhe statt, sie haben jedoch auch schon zu Zusammenstößen mit der Polizei geführt, mit Verletzten und Toten (CEDOCA 28.2.2018).
Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements des Zentral- aber auch Südiraks (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiyah, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019).
[Anm.: Weiterführende Informationen können dem Kapitel 11.1.1 Protestbewegung entnommen werden]
Rechtsschutz / Justizwesen
Die irakische Gerichtsbarkeit besteht aus dem Obersten Justizrat, dem Obersten Gerichtshof, dem Kassationsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtskommission, dem Zentralen Strafgericht und anderen föderalen Gerichten mit jeweils eigenen Kompetenzen (Fanack 2.9.2019). Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts (AA 12.1.2019).
Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vgl. AA 12.1.2019; USDOS 11.3.2020). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein (USDOS 11.3.2020). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.1.2019). Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 4.3.2020).
Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt (AA 12.1.2019). Strafverfahren sind zutiefst mangelhaft. Willkürliche Verhaftungen, einschließlich Verhaftungen ohne Haftbefehl, sind üblich (FH 4.3.2020). Eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen auf 30 Tage ausgedehnt. Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt würden. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen (AA 12.1.2019).
Korruption oder Einschüchterung beeinflussen Berichten zufolge einige Richter in Strafsachen auf der Prozessebene und bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Zahlreiche Drohungen und Morde durch konfessionelle, extremistische und kriminelle Elemente oder Stämme beeinträchtigten die Unabhängigkeit der Justiz. Richter, Anwälte und ihre Familienangehörigen sind häufig mit Morddrohungen und Angriffen konfrontiert (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 26.2.2019). Nicht nur Richter, sondern auch Anwälte, können dem Druck einflussreicher Personen, z.B. der Stämme, ausgesetzt sein. Dazu kommt noch Überlastung. Ein Untersuchungsrichter kann beispielsweise die Verantwortung über ein Gebiet von einer Million Menschen haben, was sich negativ auf die Rechtsstaatlichkeit auswirkt (LIFOS 8.5.2014).
Die Verfassung garantiert das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess für alle Bürger (USDOS 11.3.2020) und das Recht auf Rechtsbeistand für alle verhafteten Personen (CEDAW 30.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen (USDOS 11.3.2020).
Die Behörden verletzen systematisch die Verfahrensrechte von Personen, die verdächtigt werden dem IS anzugehören, sowie jene anderer Häftlinge (HRW 14.1.2020). Die Verurteilungsrate der im Schnelltempo durchgeführten Verhandlungen tausender sunnitischer Moslems, denen eine IS-Mitgliedschaft oder dessen Unterstützung vorgeworfen wurde, lag 2018 bei 98% (USCIRF 4.2019). Menschenrechtsgruppen kritisierten die systematische Verweigerung des Zugangs der Angeklagten zu einem Rechtsbeistand und die kurzen, summarischen Gerichtsverfahren mit wenigen Beweismitteln für spezifische Verbrechen, abgesehen von vermeintlichen Verbindungen der Angeklagten zum IS (FH 4.3.2020; vgl. CEDAW 30.9.2019). Rechtsanwälte beklagen einen häufig unzureichenden Zugang zu ihren Mandanten, wodurch eine angemessene Beratung erschwert wird. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 11.3.2020). Anwälte und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Familien mit vermeintlicher IS-Zugehörigkeit unterstützen, sind gefährdet durch Sicherheitskräfte bedroht oder sogar verhaftet zu werden (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Laut einer Studie über Entscheidungen von Berufungsgerichten in Fällen mit Bezug zum Terrorismus, haben erstinstanzliche Richter Foltervorwürfe ignoriert, auch wenn diese durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet wurden und die erzwungenen Geständnisse durch keine anderen Beweise belegbar waren (HRW 25.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Für das Anti-Terror-Gericht in Ninewa beobachtete HRW im Jahr 2019 eine Verbesserung bei den Gerichtsverhandlungen. So verlangten Richter einen höheren Beweisstandard für die Inhaftierung und Verfolgung von Verdächtigen, um die Abhängigkeit des Gerichts von Geständnissen, fehlerhaften Fahndungslisten und unbegründeten Anschuldigungen zu minimieren (HRW 14.1.2020).
Am 28.3.2018 kündigte das irakische Justizministerium die Bildung einer Gruppe von 47 Stammesführern an, genannt al-Awaref, die sich als Schiedsrichter mit der Schlichtung von Stammeskonflikten beschäftigen soll. Die Einrichtung dieses Stammesgerichts wird durch Personen der Zivilgesellschaft als ein Untergraben der staatlichen Institution angesehen (Al Monitor 12.4.2018). Das informelle irakische Stammesjustizsystem überschneidet und koordiniert sich mit dem formellen Justizsystem (TCF 7.11.2019).
Nach Ansicht der Regierung gibt es im Irak keine politischen Gefangenen. Alle inhaftierten Personen sind demnach entweder strafrechtlich verurteilt oder angeklagt oder befinden sich in Untersuchungshaft. Politische Gegner der Regierung behaupteten jedoch, diese habe Personen wegen politischer Aktivitäten oder Überzeugungen unter dem Vorwand von Korruption, Terrorismus und Mord inhaftiert oder zu inhaftieren versucht (USDOS 11.3.2020).
Sicherheitskräfte und Milizen
Im Mai 2003, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, demontierte die Koalitions-Übergangsverwaltung das irakische Militär und schickte dessen Personal nach Hause. Das aufgelöste Militär bildete einen großen Pool für Aufständische. Stattdessen wurde ein politisch neutrales Militär vorgesehen (Fanack 2.9.2019).
Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) (USDOS 11.3.2020). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI) (GS 18.7.2019).
Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle (USDOS 11.3.2020; vgl. GS 18.7.2019).
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 11.3.2020).
Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.1.2019).
Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums, sowie über extra-legale Tötungen (USDOS 11.3.2020).
Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi
Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017; vgl. FPRI 19.8.2019; Clingendael 6.2018; Wilson Center 27.4.2018). Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen (GIZ 1.2020a; vgl. FPRI 19.8.2019; Wilson Center 27.4.2018) und werden vorwiegend vom Iran unterstützt (GS 18.7.2019). PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS (Reuters 29.8.2019). Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei (Wilson Center 27.4.2018).
Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 11.3.2020; vgl. Clingendael 6.2018). In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist (Reuters 29.8.2019).
Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.1.2019). Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus (Reuters 29.8.2019).
Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.1.2019; vgl. FPRI 19.8.2019). Leiter der PMF-Dachorganisation, der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission, ist Falah al-Fayyad, dessen Stellvertreter Abu Mahdi al-Mohandis eng mit dem Iran verbunden war (Al-Tamini 31.10.2017). Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen, von denen der mächtigste Hadi Al-Amiri ist, Kommandant der Badr Organisation (FPRI 19.8.2019). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen sie, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten des Assad-Regimes in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind (USDOS 13.3.2019).
Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und den iranischen Revolutionsgarden. Es ist keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch den Premierminister und die ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere – aber nicht nur – in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 13.3.2019).
In vielen der irakischen Sicherheitsoperationen übernahm die PMF eine Führungsrolle. Als Schnittstelle zwischen dem Iran und der irakischen Regierung gewannen sie mit der Zeit zunehmend an Einfluss (GS 18.7.2019).
Am 1.7.2019 hat der irakische Premierminister Adel Abdul Mahdi verordnet, dass sich die PMF bis zum 31.7.2019 in das irakische Militär integrieren müssen (FPRI 19.8.2019; vgl. TDP 3.7.2019; GS 18.7.2019), oder entwaffnet werden müssen (TDP 3.7.2019; vgl GS 18.7.2019). Es wird angenommen, dass diese Änderung nichts an den Loyalitäten ändern wird, dass aber die Milizen aufgrund ihrer nun von Bagdad bereitgestellte Uniformen nicht mehr erkennbar sein werden (GS 18.7.2019). Einige Fraktionen werden sich widersetzen und versuchen, ihre Unabhängigkeit von der irakischen Regierung oder ihre Loyalität gegenüber dem Iran zu bewahren (FPRI 19.8.2019). Die Weigerung von Milizen, wie der 30. Brigade bei Mossul, ihre Posten zu verlassen, weisen auf das Autoritätsproblem Bagdads über diese Milizen hin (Reuters 29.8.2019).
Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen bezüglich Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF (AA 12.1.2019).
Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörige. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen (DIS/Landinfo 5.11.2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 11.3.2020).
Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor. Nach dem Oktober 2017 gab es jedoch Berichte über Verstöße von PMF-Angehörigen gegen die kurdischen Einwohner in Kirkuk und Tuz Khurmatu, wobei es sich bei den Angegriffenen zumeist um Mitglieder der politischen Partei KDP und der Asayish gehandelt haben soll (DIS/Landinfo 5.11.2018).
Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte (GS 18.7.2019). Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde (MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahe stehen (MEE 16.2.2020).
Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (Al Monitor 23.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahe stehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (Al Monitor 23.2.2020).
Die Badr-Organisation ist die älteste schiitische Miliz im Irak und gleichermaßen die mit den längsten und engsten Beziehungen zum Iran. Hervorgegangen ist sie aus dem Badr-Korps, das 1983/84 als bewaffneter Arm des „Obersten Rates für die Islamische Revolution im Irak“ gegründet wurde und von Beginn an den iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) unterstellt war [Anm. der „Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak“ wurde später zum „Obersten Islamischen Rat im Irak“ (OIRI), siehe Abschnitt „Politische Lage“]. Die Badr-Organisation wird von Hadi al-Amiri angeführt und gilt heute als die bedeutendste Teilorganisation und dominierende Kraft der PMF. Sie ist besonders mächtig, weil sie die Kontrolle über das irakische Innenministerium und damit auch über die Polizeikräfte besitzt; ein Großteil der bewaffneten Kräfte der Organisation wurde ab 2005 in die irakische Polizei aufgenommen (Süß 21.8.2017). Die Badr-Organisation besteht offiziell aus elf Brigaden, kontrolliert aber auch einige weitere Einheiten (FPRI 19.8.2019). Zu Badr und seinen Mitgliedsorganisationen gehören Berichten zufolge die 1., 3., 4., 5., 9., 10., 16., 21., 22., 23., 24., 27., 30., 52., 55. und 110. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017). Sie soll über etwa 20.000 bis 50.000 Mann verfügen und ist Miliz und politische Partei in einem (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018). Bei den Wahlen 2018 bildete die Badr-Organisation gemeinsam mit Asa‘ib Ahl al-Haqq und Kata‘ib Hizbullah die Fatah-Koalition (Wilson Center 27.4.2018), die 48 Sitze gewann (FPRI 19.8.2019), 22 davon gewann die Badr-Organisation (Wilson Center 27.4.2018). Viele Badr-Mitglieder waren Teil der offiziellen Staatssicherheitsapparate, insbesondere des Innenministeriums und der Bundespolizei (FPRI 19.8.2019). Die Badr-Organisation strebt die Erweiterung der schiitischen Macht in den Sicherheitskräften an, durch Wahlen und durch Eindämmung sunnitischer Bewegungen (Wilson Center 27.4.2018). Badr-Mitglieder und andere schiitische Milizen misshandelten und misshandeln weiterhin sunnitisch-arabische Zivilisten, insbesondere Sunniten im ehemaligen IS-Gebiet (FPRI 19.8.2019).
Die Kata’ib Hizbullah (Bataillone der Partei Gottes, Hezbollah Brigades) wurden 2007 von Abu Mahdi al-Muhandis gegründet und bis zu seinem Tode 2019 auch angeführt. Die Miliz kann als Eliteeinheit begriffen werden, die häufig die gefährlichsten Operationen übernimmt und vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv ist (Süß 21.8.2017). Kata’ib Hizbullah bilden die 45. der PMF-Brigaden (Wilson Center 27.4.2018). Ihre Personalstärke ist umstritten, teilweise ist die Rede von mindestens 400 bis zu 30.000 Mann (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center). Die Ausrüstung und militärische Ausbildung ihrer Mitglieder sind besser als die der anderen Milizen innerhalb der PMF. Kata’ib Hizbullah arbeiten intensiv mit Badr und der libanesischen Hizbullah zusammen und gelten als Instrument der iranischen Politik im Irak. Die Miliz wird von den USA seit 2009 als Terrororganisation geführt (Süß 21.8.2017). Ihr Anführer Jamal Jaafar Ibrahimi alias Abu Mahdi al Muhandis war auch stellvertretender Leiter der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission (Al-Tamini 31.10.2017).
Die Asa‘ib Ahl al-Haqq (AAH; Liga der Rechtschaffenen oder Khaz‘ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz‘ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak (Süß 21.8.2017). Sie ist eine Abspaltung von As-Sadrs Mahdi-Armee und im Gegensatz zu As-Sadr pro-iranisch (Clingendael 6.2018). Asa‘ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern (Süß 21.8.2017). Asa‘ib Ahl al-Haqq bildet die 41., 42. und 43. der PMF-Brigaden (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017). Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata’ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierungskräfte, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Qais al Khaz‘ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018).
Die Harakat Hezbollah al Nujaba (HHN, Bewegung der Partei der Edlen Gottes) ist ein Ableger von Kata’ib Hizbullah und Asa‘ib Ahl al-Haqq, die 2013 zur Unterstützung des Assad Regimes in Syrien von Sheikh Akram al Ka‘abi gegründet wurde. Die pro-iranische HHN hat eigenen Angaben zufolge etwa 9.000 Kämpfer, von denen einige nach wie vor in Syrien aktiv sind. Sie stellt die 12. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017).
Die Kata‘ib Sayyid al Shuhada (KSS, Meister der Märtyrerbrigade), ist eine Miliz, die im Mai 2013 gegründet wurde, um an der Seite des Assad-Regimes in Syrien zu kämpfen. Nach dem Aufstieg des IS im Jahr 2014 dehnte die KSS ihre Operationen auf den Irak aus und war insbesondere im Gouvernement Salah ad-Din, aber auch in Anbar und Ninewa aktiv. Geschätzt auf über 2.000 Kämpfer im Jahr 2017, wird die KSS von den Iranischen Revolutionsgarden (Islamic Revolutionary Guards Corps, IRGC) unterstützt und finanziert (Wilson Center 27.4.2018). Sie stellt die 14. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017).
Die Saraya as-Salam (Schwadronen des Friedens, Peace Brigades) wurden im Juni 2014 nach der Fatwa von Großayatollah Ali as-Sistani, in der alle junge Männer dazu aufgerufen wurden, sich im Kampf gegen den IS den Sicherheitskräften zum Schutz von Land, Volk und heiligen Stätten im Irak anzuschließen, von Muqtada as-Sadr gegründet. Die Gruppierung kann de facto als eine Fortführung der ehemaligen Mahdi-Armee bezeichnet werden. Diese ist zwar 2008 offiziell aufgelöst worden, viele ihrer Kader und Netzwerke blieben jedoch aktiv und konnten 2014 leicht wieder mobilisiert werden (Süß 21.8.2017). Die Saraya as-Salam sind der militärische Arm der Sairoun Partei (Allianz für Reformen, Marsch in Richtung Reform). Diese ist eine multiethnische, nicht-konfessionelle (wenn auch meist schiitische), parlamentarische Koalition, die sich aus anti-iranischen Schiiten-Parteien, der Kommunistischen Partei und einigen anderen kleineren Parteien zusammensetzt (FPRI 19.8.2019). Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann. Ihre Schlagkraft ist jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert. Das Haupteinsatzgebiet der Miliz liegt im südlichen Zentrum des Irak, wo sie vorgibt, die schiitischen heiligen Stätten zu schützen. Ebenso waren Saraya as-Salam aber auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (Süß 21.8.2017). Die Saraya as-Salam bilden mindestens drei Brigaden und stellen damit das zweitgrößte Kontingent der PMF. Muqtada as-Sadr verkündete, dass die Saraya as-Salam-Brigaden die Durchführungsverordnung von Premierminister Mahdi sofort annehmen würden und fortan nur noch unter den ihnen zugeteilten Nummern, 313, 314 und 315, bekannt sein würden. Es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass Sadr auch weiterhin großen Einfluss auf diese Milizen haben wird (FPRI 19.8.2019). Es wird angenommen, dass schätzungsweise 15.000 weitere seiner Kämpfer außerhalb der PMF-Brigaden organisiert sind (Wilson Center 27.4.2018).
Auch die Kata’ib al-Imam Ali (KIA, Bataillone des Imam Ali, Imam Ali Batallions) ist eine der Milizen, die im Juni 2014 neu gebildet wurden (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018). Sie ist den PMF als 40. Brigade beigetreten (Wilson Center 27.4.2018). Sie sticht hervor, weil sie sich rasant zu einer schlagkräftigen Gruppe entwickelte, die an den meisten wichtigen Auseinandersetzungen im Kampf gegen den IS beteiligt war. Dies lässt auf eine beträchtliche Kämpferzahl schließen. Die Funktion des Generalsekretärs hat Shibl al-Zaidi inne, ein früherer Angehöriger der Sadr-Bewegung. Zaidi stand in engem Kontakt zu Muhandis (bis zu dessen Tod) und den Pasdaran, weshalb die Miliz intensive Beziehungen zur Badr-Organisation, den Kata’ib Hizbullah und den iranischen Revolutionsgarden unterhält. Die Miliz betreibt außerdem wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit, wodurch ihr Bekanntheitsgrad schnell gestiegen ist. Vor allem der Feldkommandeur Abu Azra‘el erlangte durch Videos mit äußerst brutalen Inhalten zweifelhafte Berühmtheit. Die Gruppe scheint Gefangene routinemäßig zu foltern und hinzurichten (Süß 21.8.2017). Kata’ib al-Imam Ali hat im Dezember 2014 die kleine syriakische (Anm.: aramäisch- assyrisch) Christenmiliz Kata‘ib Roh Allah Issa Ibn Miriam (Die Brigade vom Geist Gottes, Jesus, Sohn der Maria) gegründet und ausgebildet (Wilson Center 27.4.2018).
Rechtsstellung und Aktivitäten der PMF
Obwohl das Milizenbündnis der PMF unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Badr eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von Badr dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann. Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert (Süß 21.8.2017).
Die PMF genießen auch breite Unterstützung in der irakischen Bevölkerung für ihre Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat nach dem teilweisen Zusammenbruch der irakischen Armee im Jahr 2014 (TDP 3.7.2019). Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen, wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht (Süß 21.8.2017).
Einige PMF haben sich Einkommensquellen erschlossen, die sie nicht aufgeben wollen, darunter Raub, Erpressung und Altmetallbergung (FPRI 19.8.2019). Es wird angenommen, dass die PMF einen Teil der lokalen Wirtschaft in Ninewa kontollieren, was von diesen zurückgewiesen wird (Reuters 29.8.2019). Im Norden und Westen des Irak haben Amtspersonen und Bürger über Schikanen durch PMF-Milizen und deren Eingreifen in die Stadtverwaltungen und das alltägliche Leben berichtet. Damit geht der Versuch einher, bisweilen unter Einsatz von Demütigungen und Prügel, Kontrolle über Bürgermeister, Distrikt-Vorsteher und andere Amtsträger auszuüben (ACCORD 11.12.2019). In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, klagen Einheimische, dass sich die PMF gesetzwidrig und unverhohlen parteiisch verhalten. In Mossul beispielsweise behaupteten mehrere Einwohner, dass die PMF weit davon entfernt seien, Schutz zu bieten, und durch Erpressung oder Plünderungen illegale Gewinne erzielten. PMF-Kämpfer haben im gesamten Nordirak Kontrollpunkte errichtet, um Zölle von Händlern einzuheben. Auch in Bagdad wird von solchen Praktiken berichtet. Darüber hinaus haben die PMF auch die Armee in einigen Gebieten verstimmt. Zusammenstöße zwischen den PMF und den regulären Sicherheitskräften sind häufig. Auch sind Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der PMF weitverbreitet. Die Rivalität unter den verschiedenen Milizen ist groß (ICG 30.7.2018).
Neben der Finanzierung durch den irakischen sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem so hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sind und waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind (Posch 8.2017).
Korruption
Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen für Korruption durch Staatsdiener vor, aber die Regierung setzt das Gesetz nicht immer wirksam um. Im Laufe des Jahres 2018 gab es zahlreiche Berichte über staatliche Korruption. Beamte waren häufig ungestraft in korrupte Praktiken verstrickt. Die Untersuchung von Korruption ist nicht frei von politischer Einflussnahme. Erwägungen hinsichtlich Familienzugehörigkeit, Stammeszugehörigkeit und Religionszugehörigkeit beeinflussen Regierungsentscheidungen auf allen Ebenen maßgeblich. Bestechung, Geldwäsche, Vetternwirtschaft und Veruntreuung öffentlicher Gelder sind üblich. Obwohl Antikorruptionsinstitutionen zunehmend mit zivilgesellschaftlichen Gruppen zusammenarbeiten, ist die Wirkung der erweiterten Zusammenarbeit begrenzt. Medien und NGOs versuchen Korruption unabhängig aufzudecken, obwohl ihre Möglichkeiten begrenzt sind. Antikorruptions-, Strafverfolgungs- und Justizbeamte sowie Mitglieder der Zivilgesellschaft und der Medien werden wegen ihrer Bemühungen zur Bekämpfung korrupter Praktiken bedroht und eingeschüchtert (USDOS 11.3.2020). Korruption war einer der Auslöser für die Massenproteste am 1.10.2019 im Süd- und Zentralirak, inklusive Bagdad (UNAMI 10.2019).
Auf dem Corruption Perceptions Index 2020 von Transparency International wird der Irak mit 20 (von 100) Punkten bewertet (0=highly corrupt, 100=very clean) (TI 3.2020).
Religionsfreiheit
Aufgrund der komplexen Verflechtung religiöser und ethnischer Identitäten ist eine strikte Unterscheidung zwischen rein religiösen Minderheiten und rein ethnischen Minderheiten im Irak oft nur schwer möglich. Um eine willkürliche Trennung zu vermeiden, werden alle Minderheiten, einschließlich derer, bei denen das religiöse Element überwiegt, im Abschnitt 15 (Minderheiten) behandelt.
Die Verfassung erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an. Gemäß Artikel 2 Absatz 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung (AA 12.1.2019). Es darf kein Gesetz erlassen werden, das den „erwiesenen Bestimmungen des Islams“ widerspricht. In Absatz 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. Explizit erwähnt werden in diesem Zusammenhang Christen, Jesiden und Mandäer-Sabäer, jedoch nicht Anhänger anderer Religionen oder Atheisten (RoI 15.10.2005; vgl. USDOS 21.6.2019).
Artikel 3 der Verfassung legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung des Irak fest, betont aber auch den arabisch-islamischen Charakter des Landes (AA 12.1.2019; vgl. ROI 15.10.2005). Artikel 43 verpflichtet den Staat zum Schutz der religiösen Stätten (AA 12.1.2019; vgl. ROI 15.10.2005).
Die folgenden religiösen Gruppen werden durch das Personenstandsgesetz anerkannt: Muslime, chaldäische Christen, assyrische Christen, assyrisch-katholische Christen, syrisch-orthodoxe Christen, syrisch-katholische Christen, armenisch-apostolische Christen, armenisch-katholische Christen, römisch-orthodoxe Christen, römisch-katholische Christen, lateinisch-dominikanische Christen, nationale Protestanten, Anglikaner, evangelisch-protestantische Assyrer, Adventisten, koptisch-orthodoxe Christen, Jesiden, Sabäer-Mandäer und Juden. Die staatliche Anerkennung ermöglicht es den Gruppen, Rechtsvertreter zu bestellen und Rechtsgeschäfte wie den Kauf und Verkauf von Immobilien durchzuführen. Alle anerkannten religiösen Gruppen haben ihre eigenen Personenstandsgerichte, die für die Behandlung von Ehe-, Scheidungs- und Erbschaftsfragen zuständig sind. Laut der Regierung gibt es jedoch kein Personenstandsgericht für Jesiden (USDOS 21.6.2019).
Das Gesetz verbietet die Ausübung des Bahai-Glaubens und der wahhabitischen Strömung des sunnitischen Islams (USDOS 21.6.2019; vgl. UNHCR 5.2019).
Die alten irakischen Personalausweise enthielten Informationen zur Religionszugehörigkeit einer Person, was von Menschenrechtsorganisationen als Sicherheitsrisiko im aktuell herrschenden Klima religiös-konfessioneller Gewalt kritisiert wurde. Mit Einführung des neuen Personalausweises wurde dieser Eintrag zeitweise abgeschafft. Mit Verabschiedung eines Gesetzes zum neuen Personalausweis im November 2015 wurde allerdings auch wieder ein religiöse Minderheiten diskriminierender Passus aufgenommen (AA 12.1.2019). Die Religionen, die auf dem Antrag für den nationalen Personalausweis angegeben werden können, sind christlich, sabäisch-mandäisch, jesidisch, jüdisch und muslimisch. Dabei wird zwischen den verschiedenen Konfessionen des Islams (Shi‘a-Sunni) bzw. den unterschiedlichen Denominationen des Christentums nicht unterschieden. Personen, die anderen Glaubensrichtungen angehören, können nur dann einen Ausweis erhalten, wenn sie sich selbst als Muslim, Jeside, Sabäer-Mandäer, Jude oder Christ deklarieren (USDOS 21.6.2019). Artikel 26 besagt, dass Kinder eines zum Islam konvertierenden Elternteils automatisch auch als zum Islam konvertiert geführt werden (AA 12.1.2019). Es wird berichtet, dass das Gesetz faktisch zu Zwangskonvertierungen führt, indem Kinder mit nur einem muslimischen Elternteil als Muslime angeführt werden müssen. Christen, die formell als Muslims registriert sind, aber den christlichen oder einen anderen Glauben praktizieren, berichten auch, dass sie gezwungen sind, ihr Kind als Muslim zu registrieren oder das Kind undokumentiert zu lassen, was die Berechtigung auf staatliche Leistungen beeinträchtigt (USDOS 21.6.2019; vgl. USCIRF 4.2019).
Die meisten religiös-ethnischen Minderheiten sind im irakischen Parlament vertreten. Grundlage bildet ein Quotensystem bei der Verteilung der Sitze (fünf Sitze für die christliche Minderheit sowie jeweils einen Sitz für Jesiden, Mandäer-Sabäer, Schabak und Faili Kurden). Das kurdische Regionalparlament sieht jeweils fünf Sitze für Turkmenen, Chaldäer und assyrische Christen sowie einen für Armenier vor (AA 12.1.2019).
Institutionelle und gesellschaftliche Einschränkungen der Religionsfreiheit sowie Gewalt gegen Minderheitengruppen sind nach Ansicht von Religionsführern und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich auf Religionsfreiheit konzentrieren, nach wie vor weit verbreitet. Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten (USDOS 21.6.2019). Diskriminierung von Minderheiten durch Regierungstruppen, insbesondere durch manche PMF-Gruppen, und andere Milizen, sowie das Vorgehen verbliebener aktiver IS-Kämpfer, hat ethnisch-konfessionelle Spannungen in den umstrittenen Gebieten weiter verschärft. Es kommt weiterhin zu Vertreibungen wegen vermeintlicher IS- Zugehörigkeit. Kurden und Turkmenen in Kirkuk, sowie Christen und andere Minderheiten im Westen Ninewas und in der Ninewa-Ebene berichten über willkürliche und unrechtmäßige Verhaftungen durch Volksmobilisierungskräfte (PMF) (USDOS 11.3.2020).
Da Religion, Politik und Ethnizität oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, viele Vorfälle als ausschließlich auf religiöser Identität beruhend zu kategorisieren (USDOS 11.3.2020).
Vertreter religiöser Minderheiten berichten, dass die Zentralregierung im Allgemeinen nicht in religiöse Handlungen eingreift und sogar für die Sicherheit von Gotteshäusern und anderen religiösen Stätten, einschließlich Kirchen, Moscheen, Schreinen, religiösen Pilgerstätten und Pilgerrouten, sorgt. Manche Minderheitenvertreter berichten jedoch über Schikane und Restriktionen durch lokale Behörden (USDOS 21.6.2019).
Vertreter religiöser Minderheiten berichten weiterhin über Druck auf ihre Gemeinschaften Landrechte abzugeben, wenn sie sich nicht stärker an islamische Gebote halten (USDOS 21.6.2019).
Die Kurdische Region im Irak (KRI) war für viele religiöse und ethnische Minderheiten im Nordirak ein wichtiger Zufluchtsort, während der Phase der konfessionellen Gewalt nach 2003 und während der IS-Krise (USCIRF4.2019). Einige jesidische und christliche Führer berichten über Schikanen und Misshandlungen durch Peshmerga und Asayesh im von der kurdischen Regionalregierung (KRG) kontrollierten Teil von Ninewa, jedoch sagen einige dieser Führer, dass die Mehrheit dieser Fälle eher politisch als religiös motiviert seien (USDOS 21.6.2019).
Minderheiten
Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten faktisch unter weitreichender Diskriminierung und Existenzgefährdung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen (AA 12.1.2019). Mitglieder bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen erleiden in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellen, häufig Diskriminierung oder Verfolgung, was viele dazu veranlasst, Sicherheit in anderen Stadtteilen oder Gouvernements zu suchen (FH 4.3.2020). Es gibt Berichte über rechtswidrige Verhaftungen, Erpressung und Entführung von Angehörigen von Minderheiten, wie Kurden, Turkmenen, Christen und anderen, durch PMF-Milizen, in den umstrittenen Gebieten, insbesondere im westlichen Ninewa und in der Ninewa-Ebene (USDOS 11.3.2020).
Die wichtigsten ethnisch-religiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60-65% der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17-22%) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden, überwiegend sunnitischen Kurden (15-20%) (AA 12.1.2019). Genaue demografische Aufschlüsselungen sind jedoch mangels aktueller Bevölkerungsstatistiken sowie aufgrund der politisch heiklen Natur des Themas nicht verfügbar (MRG 5.2018). Zahlenangaben zu einzelnen Gruppen variieren oft massiv (siehe unten).
Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der Kurdischen Region im Irak (KRI), oft benachteiligt. Zudem ist nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins die irakische Gesellschaft teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen – eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräuel gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat. Gepaart mit der extremen Korruption im Lande führt diese Spaltung der Gesellschaft dazu, dass im Parlament, in den Ministerien und zu einem großen Teil auch in der nachgeordneten Verwaltung, nicht nach tragfähigen, allgemein akzeptablen und gewaltfrei durchsetzbaren Kompromissen gesucht wird, sondern die zahlreichen ethnisch-konfessionell orientierten Gruppen oder Einzelakteure ausschließlich ihren individuellen Vorteil suchen oder ihre religiös geprägten Vorstellungen durchsetzen. Ein berechenbares Verwaltungshandeln oder gar Rechtssicherheit existieren nicht (AA 12.1.2019).
Die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des IS standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäer-Sabäern, Kaka‘i, Schabak und Christen. Aus dieser Zeit liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit von schiitischen Milizen zum Teil erheblich erschwert (AA 12.1.2019).
In der KRI sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden (AA 12.1.2019; vgl. KAS 8.2017). Mit der Verabschiedung des Gesetzes zum Schutze der Minderheiten in der KRI durch das kurdische Regionalparlament im Jahr 2015 wurden die ethnischen und religiösen Minderheiten zumindest rechtlich mit der kurdisch-muslimischen Mehrheitsgesellschaft gleichgestellt. Dennoch ist nicht immer gewährleistet, dass die bestehenden Minderheitsrechte auch tatsächlich umgesetzt werden (KAS 8.2017). Es gibt auch Berichte über die Diskriminierung von Minderheiten (Turkmenen, Arabern, Jesiden, Schabak und Christen) durch KRI-Behörden in den sogenannten umstrittenen Gebieten (USDOS 13.3.2019). Darüber hinaus empfinden dort Angehörige von Minderheiten seit Oktober 2017 erneute Unsicherheit aufgrund der Präsenz der irakischen Streitkräfte und v.a. der schiitischen Milizen (AA 12.1.2019).
Im Zusammenhang mit der Rückeroberung von Gebieten aus IS-Hand wurden problematische Versuche einer ethnisch-konfessionellen Neuordnung unternommen, besonders in dem ethnisch-konfessionell sehr heterogenen Gouvernement Diyala (AA 12.1.2019). Im Gouvernement Ninewa wurden alle Distriktverwaltungen angeordnet, dem Bundesgesetz von 2017 folge zu leisten und den Familien von PMF-Märtyrern, die im Kampf gegen den IS gefallen sind (zumeist Schiiten), Land zuzuweisen. Diese Anordnung schloss auch Distrikte mit sunnitischer und nicht-muslimischer Mehrheit ein. Es kam zu Widerstand unter Verweis auf das in der Verfassung verankerte Verbot eines erzwungenen demografischen Wandels, insbesondere im mehrheitlich christlichen Distrikt Hamdaniya (USDOS 21.6.2019).
[…]
Die territoriale Niederlage des IS im Jahr 2017 beendete dessen Kampagne zur Umwälzung der religiösen Demografie des Landes. Viele Schiiten und religiöse Minderheiten, die vom IS vertrieben wurden, sind bis heute nicht in ihre Häuser zurückgekehrt. Die Rückkehr irakischer Streitkräfte in Gebiete, die seit 2014 von kurdischen Streitkräften gehalten wurden, führte Ende 2017 zu einer weiteren Runde demografischer Veränderungen, wobei manche kurdische Bewohner auszogen, und Araber zurückkehrten. In Gebieten, die von schiitischen Milizen befreit wurden, gab es wiederum Berichte von der Vertreibung sunnitischer Araber (FH 4.3.2020). Aufgrund der konfliktbedingten internen Vertreibungen und Rückkehrbewegungen hat sich seit 2014 die Demographie einiger Gebiete von mehrheitlich sunnitisch zu mehrheitlich schiitisch bzw. zu konfessionell gemischt entwickelt, insbesondere in den Gouvernements Bagdad, Basra und Diyala. Im Distrikt Khanaqin in Diyala ist die Anzahl der Orte mit einer sunnitischen Mehrheit von 81 auf 73 gesunken, jene mit einer kurdisch-sunnitischen Mehrheit von 20 auf 17. Im Gouvernement Babil sind vormals arabisch-sunnitisch-schiitische Mischstädte wie Jurf al-Sakhr und Musayab vollständig schiitisch geworden. In der KRI hat die Präsenz sunnitischer Araber zugenommen, sodass die Anzahl der Orte mit einer sunnitisch-arabischen Mehrheit seit 2014 von 2 auf 25 angewachsen ist (IOM 2019).
[…]
Sunnitische Araber
Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003, insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014), aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es den sunnitischen Arabern weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Oftmals werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt (AA 12.1.2019). Bei willkürlichen Verhaftungen meist junger sunnitischer Männer wird durch die Behörden auf das Anti-Terror-Gesetz verwiesen, welches das Recht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren vorenthält (USDOS 21.6.2019). Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richten sich vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger (AA 12.1.2019).
Es gibt zahlreiche Berichte über Festnahmen und die vorübergehende Internierung von überwiegend sunnitisch-arabischen IDPs durch Regierungskräfte, PMF und Peshmerga (USDOS 11.3.2020). Noch für das Jahr 2018 gibt es Hinweise auf außergerichtliche Hinrichtungen von sunnitischen Muslimen in und um Mossul (USCIRF 4.2019).
Grundversorgung und Wirtschaft
Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten (AA 12.1.2019). Der irakische humanitäre Reaktionsplan schätzt, dass im Jahr 2019 etwa 6,7 Millionen Menschen dringend Unterstützung benötigten (IOM o.D.; vgl. USAID 30.9.2019). Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die grassierende Korruption verstärkt vorhandene Defizite zusätzlich. In vom Islamischen Staat (IS) befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt (AA 12.1.2019).
Nach Angaben der UN-Agentur UN-Habitat leben 70% der Iraker in Städten, die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums (AA 12.1.2019). Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich (K4D 18.5.2018). Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig (AA 12.1.2019).
Nahrungsmittel sind im Allgemeinen verfügbar, es gibt nahezu keine Einschränkung in der Wasserversorgung (EASO ZsI, 59, 60]. In Bagdad sind alle Nahrungsmittelerzeugnisse „weitgehend verfügbar“, nahezu alle (92 %) der Binnenvertriebenen berichten über keine Einschränkungen der Wasserversorgung [EASO, ZsI, 64, 65].
Wirtschaftslage
Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mossul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im April 2019 (GIZ 1.2020c). Iraks Wirtschaft erholt sich allmählich nach den wirtschaftlichen Herausforderungen und innenpolitischen Spannungen der letzten Jahre. Während das BIP 2016 noch um 11% wuchs, verzeichnete der Irak 2017 ein Minus von 2,1%. 2018 zog die Wirtschaft wieder an und verzeichnete ein Plus von ca. 1,2% aufgrund einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitsbedingungen und höherer Ölpreise. Für 2019 wurde ein Wachstum von 4,5% und für die Jahre 2020–23 ebenfalls ein Aufschwung um die 2-3%-Marke erwartet (WKO 18.10.2019).
Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar (GIZ 1.2020c). Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors. Hauptarbeitgeber ist der Staat (AA 12.1.2019).
Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9% im Jahr 2017/18 gestiegen. Unterbeschäftigung ist besonders hoch bei IDPs. Fast 24% der IDPs sind arbeitslos oder unterbeschäftigt (im Vergleich zu 17% im Landesdurchschnitt). Ein Fünftel der wirtschaftlich aktiven Jugendlichen ist arbeitslos, ein weiteres Fünftel weder erwerbstätig noch in Ausbildung (WB 12.2019).
Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen (OHCHR 11.9.2019). Während sie 2012 bei 18,9% lag, stieg sie während der Krise 2014 auf 22,5% an (WB 19.4.2019). Einer Studie von 2018 zufolge ist die Armutsrate im Irak zwar wieder gesunken, aber nach wie vor auf einem höheren Niveau als vor dem Beginn des IS-Konflikts 2014, wobei sich die Werte, abhängig vom Gouvernement, stark unterscheiden. Die südlichen Gouvernements Muthanna (52%), Diwaniya (48%), Maisan (45%) und Dhi Qar (44%) weisen die höchsten Armutsraten auf, gefolgt von Ninewa (37,7%) und Diyala (22,5%). Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5%), Kirkuk (7,6%), Erbil (6,7%) und Sulaymaniyah (4,5%) auf. Diese regionalen Unterschiede bestehen schon lange und sind einerseits auf die Vernachlässigung des Südens und andererseits auf die hohen Investitionen durch die Regionalregierung Kurdistans in ihre Gebiete zurückzuführen (Joel Wing 18.2.2020). Die Regierung strebt bis Ende 2022 eine Senkung der Armutsrate auf 16% an (Rudaw 16.2.2020).
Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Arbeitsmöglichkeiten haben im Allgemeinen abgenommen. Die monatlichen Einkommen im Irak liegen in einer Bandbreite zwischen 200 und 2.500 USD (Anm.: ca. 185-2.312 EUR), je nach Position und Ausbildung. Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD (Anm.: ca. 0,9 EUR) pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land sind derzeit keine dieser Weiterbildungsprogramme, die nur durch spezielle Fonds zugänglich sind, aktiv (IOM 1.4.2019).
Stromversorgung
Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht (AA 12.1.2019). Sie deckt nur etwa 60% der Nachfrage ab, wobei etwa 20% der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit (Fanack 17.9.2019). Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Kurdischen Region im Irak (KRI) erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste (AA 12.1.2019).
Wasserversorgung
Etwa 70% des irakischen Wassers haben ihren Ursprung in Gebieten außerhalb des Landes, vor allem in der Türkei und im Iran. Der Wasserfluss aus diesen Ländern wurde durch Staudammprojekte stark reduziert. Das verbleibende Wasser wird zu einem großen Teil für die Landwirtschaft genutzt und dient somit als Lebensgrundlage für etwa 13 Millionen Menschen (GRI 24.11.2019).
Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist (Clingendael 10.7.2018). Insbesondere Dammprojekte der irakischen Nachbarländer, wie in der Türkei, haben großen Einfluss auf die Wassermenge und Qualität von Euphrat und Tigris. Der damit einhergehende Rückgang der Wasserführung in den Flüssen hat ein Vordringen des stark salzhaltigen Wassers des Persischen Golfs ins Landesinnere zur Folge und beeinflusst sowohl die Landwirtschaft als auch die Viehhaltung. Das bringt in den besonders betroffenen südirakischen Gouvernements Ernährungsunsicherheit und sinkende Einkommensquellen aus der Landwirtschaft mit sich (EPIC 18.7.2017).
Die Wasserversorgung wird zudem von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem fehlt es weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser (AA 12.1.2019). Im Südirak und insbesondere Basra führten schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass im Jahr 2018 mindestens 118.000 Menschen wegen Magen-Darm Erkrankungen in Krankenhäusern behandelt werden mussten (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).
Nahrungsmittelversorgung
Etwa 1,77 Millionen Menschen im Irak sind von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, ein Rückgang im Vergleich zu 2,5 Millionen Betroffenen im Jahr 2019 (USAID 30.9.2019; vgl. FAO 31.1.2020). Die meisten davon sind IDPs und Rückkehrer. Besonders betroffen sind jene in den Gouvernements Diyala, Ninewa, Salah al-Din, Anbar und Kirkuk (FAO 31.1.2020). 22,6% der Kinder sind unterernährt (AA 12.1.2019).
Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Im Zuge des Krieges gegen den IS waren viele Bauern gezwungen, ihre Betriebe zu verlassen. Ernten wurden zerstört oder beschädigt. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Pflanzen, eingelagerte Ernten und Vieh wurden geplündert. Aufgrund des Konflikts und der Verminung konnten Bauern für die nächste Landwirtschaftssaison nicht pflanzen. Die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung wurden unterbrochen, die Nahrungsmittelpreise auf den Märkten stiegen (FAO 8.2.2018). Trotz konfliktbedingter Einschränkungen und Überschwemmungen entlang des Tigris (betroffene Gouvernements: Diyala, Wasit, Missan und Basra), die im März 2019 aufgetreten sind, wird die Getreideernte 2019 wegen günstiger Witterungsbedingungen auf ein Rekordniveau von 6,4 Millionen Tonnen geschätzt (FAO 31.2.2020).
Trotzdem ist das Land von Nahrungsmittelimporten abhängig (FAO 31.1.2020). Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (UNFAO) schätzt, dass der Irak zwischen Juli 2018 und Juni 2019 etwa 5,2 Millionen Tonnen Mehl, Weizen und Reis importiert hat, um den Inlandsbedarf zu decken (USAID 30.9.2019).
Im Südirak und insbesondere Basra führen schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass Landwirte ihre Flächen mit verschmutztem und salzhaltigem Wasser bewässern, was zu einer Degradierung der Böden und zum Absterben von Nutzpflanzen und Vieh führt (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).
Das Sozialsystem wird vom sogenannten „Public Distribution System“ (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen (K4D 18.5.2018; vgl. USAID 30.9.2019). Das PDS ist das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak, in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung. Es ist das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme, obwohl es von schwerer Ineffizienz gekennzeichnet ist (K4D 18.5.2018). Es sind zwar alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des PDS zu erhalten. Das Programm wird von den Behörden jedoch nur sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Außerdem hat der niedrige Ölpreis die Mittel für das PDS weiter eingeschränkt (USDOS 11.3.2020).
Medizinische Versorgung
Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können – für den Zugang zum Gesundheitswesen wird lediglich ein irakischer Ausweis benötigt – haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen (IOM 1.4.2019). Staatliche wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden. Dort ist die Dichte an praktizierenden Ärzten, an privaten und staatlichen Kliniken um ein Vielfaches größer. Gleiches gilt für Apotheken und medizinische Labore. Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss zunächst eine Art Praxisgebühr bezahlt werden. Diese beläuft sich in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 IQD (Anm.: ca. 12-16 EUR). Für spezielle Untersuchungen und Laboranalysen sind zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Außerdem müssen Medikamente, die man direkt vom Arzt bekommt, gleich vor Ort bezahlt werden. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch nicht die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen. Darunter fallen etwa Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen (GIZ 12.2019).
Insgesamt bleibt die medizinische Versorgungssituation angespannt (AA 12.1.2019). Auf dem Land kann es bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben; allerdings gilt die Faustformel: Je kleiner und abgeschiedener das Dorf, umso schwieriger die medizinische Versorgung (GIZ 12.2019). In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführung oder Repression das Land verlassen. Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen (AA 12.1.2019). Spezialisierte Behandlungszentren für Personen mit psychosozialen Störungen existieren zwar, sind jedoch nicht ausreichend (UNAMI 12.2016). Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren (WHO o.D.).
Die große Zahl von Flüchtlingen und IDPs belastet das Gesundheitssystem zusätzlich. Hinzu kommt, dass durch die Kampfhandlungen nicht nur eine Grundversorgung sichergestellt werden muss, sondern auch schwierige Schusswunden und Kriegsverletzungen behandelt werden müssen (AA 12.1.2019). Für das Jahr 2020 werden in Flüchtlingslagern der kurdischen Gouvernements Dohuk und Sulaymaniyah erhebliche Lücken in der Gesundheitsversorgung erwartet, die auf Finanzierungsengpässe zurückzuführen sind (UNOCHA 17.2.2020).
Rückkehr
Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig – u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. Rückführungen aus Deutschland in die Kurdische Region im Irak (KRI) finden regelmäßig statt. In der KRI gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Eine Fortführung dieser Tendenzen wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der KRI kurz- und mittelfristig verbessern wird (AA 12.1.2019).
Studien zufolge ist die größte Herausforderung für Rückkehrer die Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Einkommen. Andere Herausforderungen bestehen in der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, psychischen und psychologischen Problemen, sowie negativen Reaktionen von Freunden und Familie zu Hause im Irak (IOM 2.2018; vgl. REACH 30.6.2017).
Die Höhe einer Miete hängt vom Ort, der Raumgröße und der Ausstattung der Unterkunft ab. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Preise für gewöhnlich günstiger (IOM 1.4.2019). Die Miete für 250 m² in Bagdad liegt bei ca. 320 USD (Anm.: ca. 296 EUR) (IOM 13.6.2018). Die Wohnungspreise in der KRI sind 2018 um 20% gestiegen, während die Miete um 15% gestiegen ist, wobei noch höhere Preise prognostiziert werden (Ekurd 8.1.2019). In den Städten der KRI liegt die Miete bei 200-600 USD (Anm.: ca. 185-554 EUR) für eine Zweizimmerwohnung. Der Kaufpreis eines Hauses oder Grundstücks hängt ebenfalls von Ort, Größe und Ausstattung ab. Während die Nachfrage nach Mietobjekten stieg, nahm die Nachfrage nach Kaufobjekten ab. Durchschnittliche Betriebskosten betragen pro Monat 15.000 IQD (Anm.: ca. 12 EUR) für Gas, 10.000-25.000 IQD (Anm.: ca. 8-19 EUR) für Wasser, 30.000-40.000 IQD (Anm.: ca. 23-31 EUR) für Strom (staatlich) und 40.000-60.000 IQD (Anm.: ca. 31-46 EUR) für privaten oder nachbarschaftlichen Generatorenstrom. Die Rückkehr von IDPs in ihre Heimatorte hat eine leichte Senkung der Mietpreise bewirkt. Generell ist es für alleinstehende Männer schwierig Häuser zu mieten, während es in Hinblick auf Wohnungen einfacher ist (IOM 1.4.2019).
Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser, jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote. In der Zeit nach Saddam Hussein sind die Besitzverhältnisse von Immobilien zuweilen noch ungeklärt. Nicht jeder Vermieter besitzt auch eine ausreichende Legitimation zur Vermietung (GIZ 12.2019).
Im Zuge seines Rückzugs aus der nordwestlichen Region des Irak, 2016 und 2017, hat der Islamische Staat (IS) die landwirtschaftlichen Ressourcen vieler ländlicher Gemeinden ausgelöscht, indem er Brunnen, Obstgärten und Infrastruktur zerstörte. Für viele Bauerngemeinschaften gibt es kaum noch eine Lebensgrundlage (USCIRF 4.2019). Im Rahmen eines Projekts der UN-Agentur UN-Habitat und des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) wurden im Distrikt Sinjar, Gouvernement Ninewa, binnen zweier Jahre 1.064 Häuser saniert, die während der IS-Besatzung stark beschädigt worden waren. 1.501 Wohnzertifikate wurden an jesidische Heimkehrer vergeben (UNDP 28.4.2019).
Es besteht keine öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche für Rückkehrer. Private Immobilienfirmen können jedoch helfen (IOM 1.4.2019).
Staatsbürgerschaft und Dokumente
[…]
Jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, ist gegen Bezahlung zu beschaffen. Zur Jahresmitte 2014 tauchten vermehrt gefälschte Visaetiketten auf. Auch gefälschte Beglaubigungsstempel des irakischen Außenministeriums sind im Umlauf; zudem kann nicht von einer verlässlichen Vorbeglaubigungskette ausgegangen werden (AA 12.1.2019).
II.1.3.2. Hinsichtlich der marokkanischen Staatsangehörigkeit der BF2 wird festgehalten, dass diese Marokko im Jahr 2002 aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hat (AS 43 zu BF2), sie keine eigenen Fluchtgründe, insbesondere Marokko betreffend, geltend gemacht hat, weshalb auf neuerliche Länderfeststellungen zu Marokko verzichtet wird (vgl. AS 125ff zu BF2) und sich das Bundesverwaltungsgericht den dazu getroffenen Ausführungen im angefochtenen Bescheid vollinhaltlich anschließt und auch zu den seinen erhebt. In diesem Zusammenhang wird aber festgehalten, dass es sich bei Marokko um einen sicheren Herkunftsstaat gemäß § 1 Z 9 der Herkunftsstaaten-Verordnung handelt.
II.1.3.3. Coronavirus COVID-19
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet.
Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.
In Österreich gibt es derzeit (Stand 06.10.2021) 750.124 bestätigte Fälle (genesen: 711.335) von mit dem Corona-Virus infizierten Personen und 10.819 Todesfälle; im Irak wurden bislang 2,01 Mio. Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 22.420 Todesfälle bestätigt wurden. In Marokko wurden 936.000 Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 14.372 Todesfälle bestätigt wurden.
II.2. Beweiswürdigung:
II.2.1. Das erkennende Gericht hat durch den Inhalt der übermittelten Verwaltungsakte der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerden, der Gerichtsakte und durch die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung Beweis erhoben. Der festgestellte Sachverhalt in Bezug auf den bisherigen Verfahrenshergang steht aufgrund der außer Zweifel stehenden Aktenlage, der Beschwerdeschreiben der BF und nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen fest und ist das ho. Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.
II.2.2. Die personenbezogenen Feststellungen hinsichtlich der BF und zu ihrer Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit ergeben sich aus ihren in diesen Punkten nicht widerlegten Angaben, ihren Sprach- und Ortskenntnissen und den vorgelegten Identitätsdokumenten. Schon das BFA stellte die Identitäten der BF fest und es gibt für den erkennenden Richter keinen Grund, daran zu zweifeln.
Entgegen den Feststellungen des BFA geht das ho. Gericht davon aus, dass die BF miteinander verheiratet sind. Zwar ist dem BFA dahingehend beizupflichten, dass die von den BF vorgelegte Heiratsurkunde aus den VAE vom Bundeskriminalamt der Republik Österreich als Totalfälschung befunden wurde (AS 87 zu BF1), doch ist diesem Untersuchungsbericht auch zu entnehmen, dass zum fraglichen Formular kein Informations- oder Vergleichsmaterial vorliegt (AS 89 zu BF1). Darüber hinaus brachten die BF noch weitere Beweismittel in Vorlage, ua den irakischen Personalausweis des BF1, ausgestellt am 10.12.2012, samt beglaubigter Übersetzung (AS 311 zu BF1), wonach der BF1 mit der BF2 verheiratet ist. Der irakische Personalausweis wurde bereits dem BFA im Original vorgelegt und von diesem auch nicht beanstandet. Das erkennende Gericht geht daher davon aus, dass die beiden BF miteinander verheiratet sind.
Die Feststellungen hinsichtlich ihrer Asylantragsstellung in Österreich ergeben sich aus den Akteninhalten bzw. aus den Angaben der BF.
Die Feststellungen zu den familiären und persönlichen Lebensumständen in den jeweiligen Herkunftsstaaten sowie jenen in Österreich konnten anhand der Angaben der BF im gesamten Verfahren und anhand der Verwaltungsakten getroffen werden. Sowohl der BF1 als auch die BF2 haben Kontakt zu Familienangehörigen in ihren Herkunftsländern.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der BF ergeben sich aus ihren Angaben im Verfahren, insbesondere in der hg. mündlichen Verhandlung, wonach die BF2 gesund und arbeitsfähig sei. Ihre Covid-Erkrankung sei überstanden und es gehe ihr wieder gut (Verhandlungsschrift vom 28.04.2021 [VHS 2] S 5). Auch der BF1 bestätigte, gesund zu sein (Verhandlungsschrift vom 26.02.2021 [VHS 1) S 12), er nehme nur fallweise Tabletten gegen hohen Blutdruck, sei am Knie operiert worden und er habe Knie- und Wirbelsäulenprobleme. Den mit der Beschwerde vorgelegten Befunden ist zu entnehmen, dass beim BF1 eine Meniskusoperation vorgenommen wurde und er an Lumboischialgie rechts leide. Dass er dafür derzeit ärztliche Behandlung benötige, brachte der BF1 nicht vor, weshalb die Feststellung zu treffen war, dass er an keiner lebensbedrohlichen oder akut behandlungsbedürftigen Erkrankung leidet. Dass beide BF arbeitsfähig sind, ergibt sich mangels anderslautender Hinweise im Verfahren sowie aus dem Umstand, dass sich beide BF in der hg. mündlichen Verhandlung für arbeitsfähig und –willig erklärten (VHS 1, S 7, 14).
Die BF haben bislang keinen Deutschkurs besucht und auch keine Deutschprüfung abgelegt. Dass die BF mangels Asylstatus keinen Deutschkurs hätten besuchen können (VHS 1, S 7) ist als reine Schutzbehauptung zu werten und veranlasste den erkennenden Richter, die BF2 an ihre Wahrheitspflicht zu erinnern. Dass die BF Leistungen aus der Grundversorgung beziehen, ergibt sich aus ihren Angaben im Verfahren im Einklang mit dem aktuellen Speicherauszug aus dem Betreuungsinformationssystem des Bundes; es war daher auch die Feststellung zu treffen, dass die BF nicht selbsterhaltungsfähig sind. Mangels Vorlage von Nachweisen konnten auch sonst keine Integrationsbemühungen der BF festgestellt werden.
Die strafrechtliche Unbescholtenheit der BF ergibt sich aus den in den Akten einliegenden Auszügen (Strafregister).
II.2.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsland
II.2.3.1. Die getroffenen Feststellungen zum Irak beruhen auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020), welches sich seinerseits auf verschiedene anerkannte und teilweise vor Ort agierende staatliche und nichtstaatliche Quellen stützt, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation im Irak ergeben. Angesichts der Seriosität der darin angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Soweit sich diese Feststellungen auf konkrete Berichte beziehen, ist darin die jeweilige Lage zum Berichtszeitpunkt dokumentiert. Diese Berichte sind daher im Lichte der zu diesen Zeiten dokumentierten Opferzahlen zu interpretieren. Beispielsweise weisen Berichte aus 2017 (IBC) wesentlich höhere Opferzahlen aus, als solche neueren Datums (IBC zu 2020).
Zu der getroffenen Auswahl der Quellen, welche zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat herangezogen wurden, ist anzuführen, dass es sich hierbei aus der Sicht des erkennenden Gerichts um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen – sowohl staatlichen, als auch nichtstaatlichen Ursprunges – handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen.
Auch kommt den Quellen im Rahmen einer Gesamtschau Aktualität zu (zu den Anforderungen an die Aktualität einer Quelle im Asylverfahren vgl. etwa Erk. d. VwGH v. 4.4.2001, Gz. 2000/01/0348).
Die Feststellungen zur medizinischen Versorgung konnten anhand der entsprechenden Abschnitte der Länderfeststellungen getroffen werden, denen seitens der BF nicht substantiiert entgegengetreten wurde. Soweit der BF1 Knie- und Wirbelsäulenprobleme vorbrachte ist diesbezüglich auf die Ausführungen unter Punkt II.2.2. zu verweisen, wonach der BF1 derzeit weder lebensbedrohlich erkrankt noch akut behandlungsbedürftig ist.
II.2.3.2. Soweit in der Beschwerde vom 04.05.2017 unvollständige Länderfeststellungen moniert wurden, ist anzumerken, dass bei einem Land wie dem Irak mit einer sehr hohen Berichtsdichte, in dem praktisch ständig neue Erkenntnisquellen entstehen, es de facto unmöglich ist, sämtliches existierende Berichtsmaterial zu berücksichtigen, weshalb die belangte Behörde bzw. das ho. Gericht ihrer Obliegenheit zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak nachkommt, wenn sie bzw. es sich zur Entscheidungsfindung eines repräsentativen Querschnitts des bestehenden Quellenmaterials bedient. Soweit in der Beschwerde moniert wurde, dass sich die Länderberichte der Staatendokumentation nicht mit dem konkreten Fluchtvorbringen des BF1 und seiner Verfolgung befasst hätten, wird – um Wiederholungen zu vermeiden – auf die Ausführungen unter Punkt II.2.4. verwiesen, wonach dem Vorbringen des BF1 die Glaubwürdigkeit abzusprechen war.
Soweit die BF mit ihrem Vorbringen darauf verweisen wollen, dass die Bevölkerung im Irak der Gewalt durch schiitische Milizen ausgesetzt sei, ist auszuführen, dass den Länderfeststellungen zu entnehmen ist, dass es den staatlichen Stellen zwar nicht möglich ist, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen und insbesondere schiitische, aber auch sunnitische, Milizen eigenmächtig handeln, jedoch hat sich die Sicherheitslage verbessert (FH 4.3.2020). Die bloße Zugehörigkeit eines Asylwerbers zu einer Religionsgemeinschaft oder einer Volksgruppe stellt allein noch keinen Grund für die Gewährung von Asyl dar und ist daher – ohne Hinzutreten besonderer Gründe – nicht von einer Verfolgung der BF aus ethnischen oder religiösen Gründen auszugehen.
Soweit in der Beschwerde auf die prekäre Sicherheitslage im Irak und die mangelnde Schutzfähigkeit bzw. –willigkeit des Staates verwiesen wird, ist wie folgt auszuführen:
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht die Lage im Irak und die Tatsache, dass es immer wieder zu Anschlägen kommt. Jedoch ist dem Länderinformationsblatt zu entnehmen, dass sich die allgemeine Sicherheitslage seit Dezember 2017 quer durch das Land verbessert hat (FH 4.3.2020) und die Opferzahlen sich markant verringert haben (IBC 2.2020). So ist der zugrunde gelegten Gesamtaktualisierung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu entnehmen, dass die Anzahl der im Irak zu Tode gekommenen Zivilisten im Jahr 2003 bei 12.133 lag, den Höchststand von 29.526 im Jahr 2006 erreichte, danach auf etwa 10.000 (und darunter) absank, in den Jahren 2014 – 2016 wieder anstieg und insbesondere in den Jahren 2018 und 2019 auf 3.319 bzw. 2.392 sank. Auch im Jahr 2020 ist bislang ein Abwärtstrend zu beobachten (IBD 2.2020). Dieser Abwärtstrend hielt dem aktuellen Iraq Body Count zufolge auch das gesamte Jahr 2020 an, sodass letztlich die Statistik für dieses Jahr 902 Todesopfer ausweist, und ist auch im Jänner bis Mai 2021 zu beobachten (64, 56, 49, 66 bzw. 49 Todesfälle durch Gewalt).
Aus der Grafik (vgl. Punkt II.1.3.1., Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen) ist ersichtlich, dass die Reduktion der Todesopfer seit Ende 2017 eklatant ist. Ebenso ist aus dieser Darstellung und den folgenden Fallzahlen ersichtlich, das im Jahr 2020 (gegenüber 2019) nochmals eine Reduktion um das 2,5-fache Platz griff. Im Jahr 2020 wurde demnach die Gesamtzahl der Todesopfer mit 902 angegeben, die Anzahl der Opfer bewegte sich ab März 2020 durchwegs im mittleren zweistelligen Bereich.
Die österreichische Kriminalstatistik für das Jahr 2019 weist in der Kategorie „vollendete Morde“ eine Anzahl von 65 aus. Hochgerechnet auf eine entsprechende Bevölkerungszahl (der Irak hat in etwa die 5-fache Bevölkerung) würde das einen Wert von 325 ergeben, d.h. die diesbezügliche Opferzahl ist im Irak um das 2,8-fache höher als in Österreich.
Die allgemeine Sicherheitslage ist nicht dergestalt, dass jeder dorthin Zurückkehrende der realen Gefahr unterläge, mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung seiner durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte ausgesetzt zu sein oder für ihn die ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt anzunehmen wäre.
Es besteht das Erfordernis eines tatsächlichen und effizienten Schutzes im Einzelfall, der geeignet ist, die Wahrscheinlichkeit einer drohenden Verfolgung unter das Maß der Erheblichkeit zu senken (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509; 17.09.2002, 2000/01/0414). Von mangelnder Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203).
Mag zwar den Länderfeststellungen zufolge die Schutzfähigkeit der irakischen Sicherheitsbehörden in der derzeitigen komplexen und volatilen Situation im Irak reduziert sein, ist dennoch von einer generell fehlenden Schutzwilligkeit bzw. -fähigkeit des Staates nicht auszugehen. Zudem wird auf die nachfolgenden Ausführungen verwiesen (Punkt II.2.4.), denen zufolge ein Bedrohungsszenario, das die BF zum Verlassen des Irak bewogen haben soll, nicht glaubhaft ist.
II.2.3.3. Hinsichtlich der marokkanischen Staatsangehörigkeit der BF2 wurde – mangels eigener Fluchtgründe der BF2 – auf neuerliche Feststellungen zu Marokko verzichtet (vgl. AS 125ff zu BF2). Hinsichtlich der aktuellen Lage Herkunftsstaat der BF2 sind gegenüber den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen keine entscheidungsmaßgeblichen Änderungen eingetreten. Im angefochtenen Bescheid wurde das aktuelle "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation" zu Marokko zitiert. Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens ist auch keine Änderung eingetreten, sodass das Bundesverwaltungsgericht sich diesen Ausführungen vollinhaltlich anschließt und auch zu den seinen erhebt. Die BF2 erstattete auch kein substantiiertes Vorbringen hinsichtlich einer ihr drohenden Gefährdung in ihrem Herkunftsstaat im Falle ihrer Rückkehr und es ergaben sich auch amtswegig keine diesbezüglichen Hinweise.
Daher liegt für die BF2 bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr einer Verletzung der Artikel 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention nicht vor, auch ist der Herkunftsstaat weder in einen internationalen noch innerstaatlichen Konflikt verwickelt und hat die BF2 als Zivilperson im Fall einer Rückkehr keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes zu erwarten oder dass sie im Fall einer Rückkehr in eine existenzbedrohende oder medizinische Notlage geriete. Marokko gilt als sicherer Herkunftsstaat gemäß § 1 Z 9 der Herkunftsstaaten-Verordnung (HStV), BGBl. I Nr. 177/2009.
II.2.3.4. Auch im Hinblick auf die weltweite Ausbreitung des COVID-19 Erregers kann unter Zugrundelegung der medial ausführlich kolportierten Entwicklungen im Herkunftsland bislang keine derartige Entwicklung erkannt werden, die im Hinblick auf eine Gefährdung nach Art. 3 EMRK eine entscheidungsrelevante Lageänderung erkennen lässt.
Bei COVID 19 handelt es sich um keine wahrscheinlich tödlich verlaufende, die Schwelle des Art. 3 EMRK tangierende Krankheit und haben die BF auch kein Vorbringen erstattet, aus dem sich in diesem Zusammenhang ein reales Risiko im Falle ihrer Rückkehr in den Herkunftsstaat ergeben würde.
Ferner ist auf die Judikatur des EGMR zu verweisen, wonach es – abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde – grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134 mit Verweis auf das Urteil des EGMR vom 05.09.2013, I gegen Schweden, Nr. 61 204/09). Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen – wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde – nicht revisibel (VwGH 22.4.2020, Ra 2020/18/0098, mwN). Weder wurde ein solches Vorbringen von den BF erstattet noch liegen sowohl im Hinblick auf das Alter der BF als auch ihren Gesundheitszustand Anhaltspunkte vor, wonach die BF bei einer allfälligen COVID-19 Infektion einer besonderen Risikogruppe angehören würden (vgl. dazu VwGH vom 23.06.2020, Ra 2020/20/0188-3, wonach die BF ihre individuelle Situation nicht fallbezogen und konkret dargelegt haben und ein „Situationsbericht in Bezug auf Covid-19“ per se noch keine exzeptionellen Umstände bedeuten würde), sondern haben die BF eine Corona-Erkrankung ohne Langzeitfolgen überstanden und sind genesen (VHS 2, S 5).
Die Feststellungen zur Lage im Irak und in Marokko in Bezug auf das Coronavirus COVID-19 werden aufgrund der übereinstimmenden Feststellungen in einer Vielzahl von öffentlich zugänglichen Quellen als notorisch bekannt vorausgesetzt.
II.2.4. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:
Die freie Beweiswürdigung ist ein Denkprozess, der den Regeln der Logik zu folgen hat und im Ergebnis zu einer Wahrscheinlichkeitsbeurteilung eines bestimmten historisch-empirischen Sachverhalts, also von Tatsachen, führt. Der Verwaltungsgerichtshof führt dazu präzisierend aus, dass eine Tatsache in freier Beweiswürdigung nur dann als erwiesen angenommen werden darf, wenn die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens ausreichende und sichere Anhaltspunkte für eine derartige Schlussfolgerung liefern.
Die vom BVwG durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlungen am 26.02.2021 und 28.04.2021 ließen das Bundesverwaltungsgericht aufgrund nachangeführter Darstellung zu den angeführten Feststellungen gelangen.
II.2.4.1. Schon die Angaben des BF1 im Verfahren vor dem BFA waren massiv widersprüchlich. So gab der BF1 im Rahmen der Erstbefragung an, dass er bei einer Gerichtsverhandlung, bei der er seinen Partner beschuldigt habe, ihm $ 1.500.000,00 gestohlen zu haben, ungerecht behandelt worden sei, da man den Richter bestochen habe (AS 17 zu BF1). Im späteren Verlauf des Verfahrens gab der BF1 hingegen an, das Verfahren habe einen Wert von einer halben Million Dollar gehabt (AS 47 zu BF1). Weiters gab der BF1 im Zuge der Erstbefragung an, er habe daraufhin den Richter angezeigt (AS 17 zu BF1), später im Verfahren will er den Präsidenten und zwei Richter (AS 45 zu BF1) des Berufungsgerichtes in Kerbala beim obersten Justizrat in Bagdad wegen Bestechung und Korruption angezeigt haben.
Weiters gab der BF1 im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme beim BFA an, das Strafverfahren gegen die Fälscher sei noch anhängig (AS 45 zu BF1), wohingegen er – dem widersprechend – auch angab, die Verfälschung sei auf Untreue umgewandelt worden und es sei ein mildes Urteil ergangen (A 53 zu BF1).
Der VwGH hat zwar wiederholt Bedenken gegen die unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung erhoben, weil sich diese Einvernahme nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH vom 14.6.2017, Ra 2017/18/0001, mwN), es ist aber dennoch nicht generell unzulässig, derartige Differenzen im Vorbringen – in Zusammenschau mit den nachfolgend ausgeführten Widersprüchen und Unplausibilitäten – beweiswürdigend zu werten.
Hinsichtlich des Verfahrens mit der Fälschung führte der BF1 in der Beschwerde aus, dass in diesem Verfahren ein Urteil ergangen sei, nachträglich aber von Bestechung auf Untreue abgeändert worden sei. Das Verfahren sei abgeschlossen, er habe aber Anzeige gegen korrupte Richter erstattet (AS 227 zu BF1). In der hg. mündlichen Verhandlung führte der BF1 wiederum in Widerspruch dazu aus, dass er bei diesem Verfahren festgestellt habe, dass der Richter korrupt sei und deshalb einen Antrag auf Ruhen gestellt habe (VHS 2, S 11), weshalb das Verfahren noch offen sei (VHS 2, S 12).
Widersprüchlich sind aber auch die Angaben des BF1 hinsichtlich der Anzahl seiner Vertreter im Irak. Beim BFA gab er an, er habe im Irak zwei Vertreter gehabt (AS 49 zu BF1), in der hg. mündlichen Verhandlung hingegen will er – auch auf dezidierte Nachfrage des erkennenden Richters – nur einen Vertreter gehabt haben (VHS 1, S 24).
In den Verhandlungen vom 26.02.2021 und 28.04.2021 kamen neue Widersprüche hinzu. So hatte der BF1 zuvor im Verfahren immer angegeben, er sei im Jahr 2012 aus den VAE in den Irak zurückgekehrt (AS 41, 47 zu BF1). In der ersten mündlichen Verhandlung gab die BF2 an, sie selbst sei im Jahr 2011 aus den VAE in den Irak ausgereist, ihr Mann sechs Monate früher (VHS 1, S 9), der BF1 selbst gab an, er sei am 24.10.2010 (VHS 1, S 20) bzw. am 22.10.2010 (VHS 2, S 19) im Irak angekommen.
In der Verhandlung bezifferte der BF1 den ihm im Irak entstandenen Schaden mit 700.000 bis 800.000 Dollar (im Verfahren beim BFA waren es 1.500.000 Dollar bzw. eine halbe Million Dollar), und er brachte zudem neu vor, dass der Vertreter auch eineinhalb Kilo Gold (Goldschmuck der Töchter) veruntreut habe (VHS 1, S 27). Da er den gestohlenen Goldschmuck im Verfahren überhaupt nicht erwähnt hat, ist das Vorbringen insoweit gesteigert und damit unglaubwürdig.
Zum Datum der Beschädigung seines Autos nannte der BF1 mehrere verschiedene Zeitpunkte: 2014, Anfang 2015, Anfang Sommer 2015 bzw. vermutlich April oder Mai 2015 (VHS 1, S 25).
Weiters gab der BF1 in der Einvernahme an, die Verfolger seien einmal zu ihm gekommen und hätten geklopft, er sei aber nicht rausgekommen (AS 45 zu BF1). In der hg. Verhandlung bestritt er diese Version; die Verfolger seien nicht gekommen, er sei (nur) durch den Drohbrief bedroht worden (VHS 1, S 29).
Auch will der BF1 nunmehr – im Gegensatz zur Einvernahme (derzufolge er den oder die Richter wegen Korruption angezeigt haben will), sich über die Richter nur beschwert haben, weil sie Klagen wegen Fälschung auf Veruntreuung geändert hätten (VHS 1, S 36).
Im Verfahren vor dem BFA nannte der BF1 immer nur allgemein „Milizen“ als Bedroher, in der Beschwerde wurde erstmals die Miliz „Asaib Ahl Al-Haq“ genannt (AS 231). Auch in der ersten mündlichen Verhandlung war vorerst nur von „Milizen“ die Rede bzw. von „schiitischen Milizen“ bzw. sprach der BF1 von Al Sadr Miliz oder Hisbollah (VHS 1, S 11, 20). Auch bei der Befragung im Hinblick auf den Drohbrief vermied es der BF1, Namen oder Details zu nennen, schweifte ab und antwortete erst nach Wiederholung der Frage, dies sei ein Zettel ohne Kuvert gewesen (VHS 1, S 26). Erst später brachte er den Namen der Miliz „Asaib Ahl Al-Haq“ ins Spiel (VHS 1, S 27, 28, 31). Der Täter hätte sich die zu Unrecht eingetragenen Liegenschaften mit der „Asaib“ geteilt.
Die BF blieben wiederholt vage in ihrer Darstellung des Fluchtvorbringens, beispielsweise die BF2 bei der Antwort auf die Frage, ob ihr Mann eine Autofirma oder eine Transportfirma gehabt habe (VHS 1, S 12), der BF1 ließ konkrete Antworten zu konkreten Fragen hinsichtlich der in Rede stehenden Liegenschaften im Irak vermissen (VHS 1, S 31). So gab er auf Nachfrage des erkennenden Richters nach der Lage der Liegenschaften an, diese hätten sich in der Industriezone befunden. Auf weitere Nachfrage, dass die Autosalons in der Industriezone auf 20 Geschäfte begrenzt seien, seine Garage sei eines davon gewesen und auf nochmalige Nachfrage, die Adresse seiner Liegenschaften zu nennen, führte der BF1 aus, es gebe im Irak keine detaillierten Adressen, es reiche, wenn man die Ortschaften nenne bzw. er habe es vergessen, es sei schon so lange her (VHS 1, S 31). Ein diesbezügliches Vergessen ist aber nach Ansicht des erkennenden Richters ausgeschlossen, zumal sich der BF1 in jahrelangen Rechtsstreitigkeiten mit diesem Betrug beschäftigt haben will und deshalb auch im Irak von 2010 – 2015 nicht habe arbeiten können, weil er die ganze Zeit bei Gericht gewesen und mit dem Verfahren beschäftigt gewesen sei (VHS 2, S 19).
Weiters finden sich wiederholt ausweichende Antworten zu konkreten Fragen, beispielsweise jene nach der Aufenthaltsgenehmigung in den VAE (VHS 1, S 24), wo der erkennende Richter erst nach dreimaliger Nachfrage die Antwort erhielt, dass der BF1 die Aufenthaltsgenehmigung in den VAE nicht mehr habe. Ebenso vage blieb die Antwort des BF1 nach der Dokumentation des Eigentumsrechts an Liegenschaften im Irak (VHS 1, S 34), wo er dazu nur ausführte, es gebe dazu entweder eine allgemeine Vollmacht oder eine Spezialvollmacht. Die Frage, wo das Eigentumsrecht dokumentiert werde, beantwortete der BF1 überhaupt nicht, sondern gab dazu an, sein Vertreter habe die Häuser unter seinem Namen registriert.
Abgesehen vom aufgezeigten widersprüchlichen Aussageverhalten des BF1 wurden insbesondere die Behauptung der Veruntreuung des Goldschmucks der Töchter, die Nennung der Miliz „Asaib Ahl al-Haq“, die Teilung der Liegenschaften zwischen dieser Miliz und dem Täter und dass der BF1 von „Asaib“ mit dem Tod bedroht worden sei (VHS 1, S 39) neu in der mündlichen Verhandlung vorgetragen; diese Angaben stellen eine eklatante Vorbringenssteigerung dar und sind damit unglaubwürdig.
Der BF1 konnte in der Verhandlung auch vorerst das neue Clanoberhaupt nicht benennen; er gab dazu befragt „Bani Hassan“ an – dies ist jedoch der Name des Clans; später in der Verhandlung gab er an, das Clanoberhaupt heiße Ali Mohammad Salman Elhasnawi (VHS 36). In der zweiten mündlichen Verhandlung wurde der BF1 nochmals zum Namen seines Clanoberhaupts befragt, worauf er diesen zunächst mit Ali Mohammad Salman benannte, dieser sei jedoch bereits 2016/2017 gestorben und sein Sohn Hussein habe den Clan nun übernommen. Es gebe auch ein zweites Clanoberhaupt namens Muthanna Hatem Al Hassan (VHS 2, S 16).
Die BF wurden in der Verhandlung am 26.02.2021 aufgefordert, die vorgelegten Dokumente in besser lesbarer Form – vorzugsweise im Original vorzulegen. Dieser Aufforderung kamen die BF nicht nach, sondern sie legten einen Teil dieser Dokumente wiederum in der gleichen schlechten Qualität – wie zuvor – vor und darüber hinaus zahlreiche weitere neue Dokumente (ebenso in gleich schlechter Qualität) – ohne ein Wort dazu zu verlieren (was damit zu beweisen beabsichtigt sei). Die BF wurden wiederholt auf ihre Mitwirkungspflicht im Verfahren hingewiesen; dennoch hat der BF1 es unterlassen, Dokumente bzw. Kopien davon schon zu Beginn seines Verfahrens samthaft vorzulegen, obwohl diese behauptetermaßen in seinem Verfügungsbereich waren. Der BF1 wurde im Rahmen der hg. mündlichen Verhandlung ausdrücklich befragt, woher er die nunmehr (mit Vorlage vom 25.03.2021), teilweise auch neu, vorgelegten Dokumente habe, worauf der BF1 antwortete, dass diese bereits bei ihm zu Hause gewesen seien und er habe diese Originale in Kerbala kopiert (VHS 2, S 12f). Auch dieses Verhalten schadet der Glaubwürdigkeit des BF1 und seinem Vorbringen, zumal nicht nachvollziehbar ist, warum der BF1 seine Beweisstücke gestaffelt – und nicht samthaft – in Vorlage brachte. Insbesondere in Zusammenhang mit dem Umstand, dass sich im vorgelegten Konvolut auch ein Leerformular (Briefkopf eines Dokumentes) befand, dessen Briefkopf mit anderen Dokumenten ident ist, drängt sich der Schluss auf, dass dieses Dokument als Schablone zur Herstellung der anderen Dokumente, welche nur in Kopie vorgelegt wurden, verwendet worden ist.
Zu den vorgelegten Dokumenten konkret:
- Ein Dokument ist bezeichnet als gefälschtes Exemplar – Dokument Nr. 40 der OZ 20 zu BF2; dazu gab der BF1 an, die handschriftliche Benennung, dass dies ein gefälschtes Exemplar sei, stamme von ihm selbst
- Es wurden neue Dokumente vorgelegt, die mit dem bisherigen Vorbringen nicht vereinbar sind (beispielsweise Namen, die weder im Verfahren beim BFA noch in der ersten Verhandlung genannt wurden, Dokumente über eine Kautionsstellung)
- Dokumente über Fahrzeugexporte aus Mai 2005: der BF1 legte solche Dokumente vor, obwohl gemäß seinen Angaben ein Export von Fahrzeugen aus den VAE in den Irak nur bis Anfang 2005 möglich war, dann nicht mehr (VHS 1, S 23)
- Ausfuhrdokumente für Autos aus dem Jahr 2005, die auf der Rückseite Stempel bzw. Beglaubigungsvermerke aus dem Jahr 2010 tragen
- Der Vertreter wurde in der mündlichen Verhandlung vom BF1 stets nur als Vertreter (ohne Benennung mit dem Namen) benannt – gemäß den ergänzend vorgelegten Dokumenten handelt es sich dabei um den Ehemann seiner Schwester und deren Sohn. Im Verfahren erwähnte er das mit keinem Wort. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass der ebenfalls in Österreich aufhältige Sohn des BF1 in seiner niederschriftlichen Befragung zu seinem Fluchtgrund ua auch angab, dass der Vater (BF1) Anzeige gegen die Familie der Tante erstattet habe, weil die Familie der Tante den Vater mit Autos betrogen habe (Niederschrift vom 12.05.2017 zu IFA XXXX ).
- Alle vorgelegten Dokumente sind lediglich Kopien (Kopien von Fotos, Scans, Kopien von Kopien) und ist daher eine Überprüfung auf ihre Echtheit nicht möglich. Bereits aus diesem Grund haben sie einen entsprechend geringen Beweiswert. Darüber hinaus ist im Irak – den Länderfeststellungen zufolge – jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, gegen Bezahlung zu beschaffen.
- Die Vollmacht (vgl. AS 71 zu BF1) ist nur für ein bestimmtes Fzg. – unplausibel ist hier, warum der auf der Vollmacht angeführte Vollmachtnehmer die Dokumente des Vollmachtgebers bräuchte, dazu hätte er ja die Vollmacht.
- Die Dokumente sind in der weitaus überwiegenden Anzahl handschriftlich – zu großen Teilen handelt es sich dabei um gerichtliche Korrespondenz.
- Ein Dokument ist offenbar ein Leerformular ohne Inhalt, der (Brief)kopf des Dokumentes ist ident mit anderen Dokumenten und wurde offensichtlich als Schablone verwendet (vgl. Dokumente 1, 12, 17, 19, 21….der OZ 20 zu BF2).
- Zudem ist unplausibel – wenn sich die Dokumente beim BF1 in Österreich befunden haben – wozu die BF dann eine Fristverlängerung benötigt hätten und sie (nach Fristerstreckung) dann ein Leerformular vorlegen. Das indiziert die nachträgliche Anfertigung der Dokumente.
- Auch das in der Verhandlung vorgelegte Dokument (Beilage A) kann das Vorbringen der BF nicht stützen, zumal ein Dokument aus 2015 – unabhängig von dessen Echtheit – nicht geeignet ist, die Anhängigkeit eines Verfahrens im Jahr 2021 zu beweisen.
Fazit: Die Dokumente sind als nicht authentisch anzusehen und können das Vorbringen der BF – dass sie aus asylrelevanten Gründen bei Gericht benachteiligt worden seien – nicht stützen.
Selbst bei unterstellter Authentizität können die vorgelegten Dokumente das Vorbringen der BF nicht stützen. Die im Verfahren genannten Namen der Richter, die er angezeigt habe, kommen in den von den BF vorgelegten Dokumenten nicht vor. Es findet sich lediglich zweimal ein ähnlicher Name und dieser auch nicht auf einer gerichtlichen Entscheidung, sondern bei einer Einvernahme (vgl. Dokument 8 und 12 der OZ 20 zu BF2). Bei einer von den BF vorgelegten Entscheidung handelt es sich nicht um Abänderung von Fälschung auf Untreue und auch nicht um ein mildes Urteil, sondern um eine kassatorische Entscheidung aus formalen Gründen (Dokument 4 der OZ 20 zu BF2).
Darüber hinaus beschrieb der BF1 das Dokument (AS 257 zu BF2) ausweichend dahingehend, dass ein Festnahmeauftrag gegen XXXX und XXXX erlassen worden sei, es hätten aber zwei Personen für sie als Bürgen gehaftet, weshalb sie gegen Kautionszahlung freigelassen worden seien (VHS 2, S 23), hingegen bezeichnete er dieses Dokument in der ersten Verhandlung noch als die Angaben eines Beschuldigten (VHS 1, S 38).
Soweit in der Beschwerde in Hinblick auf die vorgebrachten Gerichtsverfahren und die daraus resultierende Verfolgung der BF moniert und in diesem Zusammenhang dem BFA vorgeworfen wurde, es habe die komplexe Fluchtgeschichte der BF nicht verstanden (AS 217ff) ist auszuführen, dass es die Aufgabe des Asylwerbers ist, durch ein in sich stimmiges und widerspruchsfreies Vorbringen, allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauert, einen asylrelevanten Sachverhalt glaubhaft zu machen. Auch in den hg. mündlichen Verhandlungen gelang es den BF nicht, ihre Fluchtgeschichte nachvollziehbar, plausibel und widerspruchsfrei zu schildern und ist das Aussageverhalten des BF1 nicht geeignet, die behauptete Bedrohungssituation glaubhaft zu machen. Insgesamt waren die Aussagen des BF1 – wie dargestellt – von einer Vielzahl von Widersprüchen und Ungereimtheiten geprägt, weshalb dem Fluchtvorbringen der BF auch die Glaubwürdigkeit abzusprechen war.
II.2.4.2. Schließlich indiziert der von den BF gewählte Reiseweg – Durchreise durch mehrere sichere Staaten ohne Stellung eines Asylantrages – wirtschaftliche Gründe für das Verlassen des Heimatlandes. Verstärkt wird diese Ansicht durch den Umstand, dass die BF seit ihrer Rückkehr aus den VAE in den Irak auch nicht mehr erwerbstätig waren und Schulden angehäuft haben (VHS 2, S 8).
Die BF reisten legal aus dem Irak mit dem Flugzeug via Türkei aus und in der Folge von Griechenland kommend über Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich, ohne einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.
In diesem Zusammenhang ist auf die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Statusrichtlinie) zu verweisen, welche in ihrem Art. 4 Abs. 5 lit d vorsieht, dass dann, wenn für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise fehlen, diese Aussagen keines Nachweises bedürfen, wenn der Antragsteller internationalen Schutz zum frühest möglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war. Wendet man diese sekundärrechtliche Norm im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung auf das gegenständliche Verfahren an, so ergibt sich im Umkehrschluss, dass gegenständlich jedenfalls – glaubwürdige – Beweise erforderlich gewesen wären.
Weiters ist auf Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 01.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (sog. Verfahrensrichtlinie) zu verweisen, nach dessen lit i ein Prüfungsverfahren dann beschleunigt durchgeführt werden kann, wenn es der Antragsteller ohne vernünftigen Grund versäumt hat, den Antrag zu stellen, obwohl er Gelegenheit dazu gehabt hätte.
Die BF mussten auf ihrer Reise nach Österreich durch andere als sicher geltende Staaten reisen und wäre es ihnen möglich und zumutbar gewesen, schon dort um Schutz anzusuchen und das Verfahren abzuwarten.
Die Vorgehensweise der BF erweist sich als nicht plausibel erklärbar. Würde man doch bei begründeter Furcht vor Verfolgung dieses Ausmaßes annehmen können, dass von Asylwerbern die nächste Gelegenheit genützt wird, um Schutz zu ersuchen, was die BF nicht getan haben. Auch diese Verhaltensweise der BF ist dazu geeignet, die Ansicht der Behörde und des Bundesverwaltungsgerichtes, wonach die Angaben zu den Ausreisegründen unglaubwürdig sind, zu verstärken. Zudem stellen die zeitlichen Umstände jedenfalls ein Argument für den Nachzieheffekt der seit Sommer 2015 anhaltenden – und in Medien (auch sozialen Medien) allseits präsenten Fluchtbewegung aus dem Nahen Osten in Richtung Zentraleuropa.
In diesem Zusammenhang sei aber auch darauf hingewiesen, dass die BF2 marokkanische Staatsbürgerin ist und in ihrem Heimatland keiner Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt war, sondern dieses aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hat. Auf die Frage in der niederschriftlichen Einvernahme, weshalb die BF nicht in das Heimatland der BF2 gegangen seien, wo sie immerhin die Sprache beherrscht hätten, antwortete der BF1, dass er nicht einmal daran denke, in einem arabischen Land zu leben (AS 47 zu BF1). Auch dies zeigt den Entschluss der BF, sich in einem europäischen Land niederlassen zu wollen, weshalb sie sich einer konstruierten Fluchtgeschichte zum Zwecke der Asylerlangung bedienten.
II.2.4.3. Wenngleich die BF in der Beschwerde ihr Fluchtvorbringen auch mit einer Verfolgung aus religiösen Gründen in Verbindung bringen, da die schiitische Miliz wisse, dass der BF1 mit einer marokkanischen Sunnitin verheiratet sei, was ihm ebenfalls in Rahmen der Drohungen vorgehalten worden sei (AS 231 zu BF1), so widerspricht diese Darstellung den Ausführungen der BF im behördlichen Verfahren. Der BF1 gab dazu befragt an, dass es sich bei den Gegnern zwar um Mitglieder religiöser Banden handle, seine Bedrohung habe aber keinen religiösen Hintergrund gehabt. Er habe auch noch nie Probleme wegen der sunnitischen Zugehörigkeit seiner Gattin gehabt, aber er mache sich Sorgen um sie (AS 55 zu BF1).
Die BF2 machte keine eigenen Fluchtgründe geltend, sondern bezog sich auf die Fluchtgründe ihres Ehemannes. Zwar gab sie allgemeine Probleme als Sunnitin in einem schiitischen Land an, eine persönliche und konkret gegen sie gerichtete Verfolgung oder Bedrohung aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit brachte sie auch nach konkreter Nachfrage jedoch nicht vor (AS 47 zu BF2).
Auch wenn die sunnitische Religionszugehörigkeit im Irak möglicherweise zu Diskriminierung führen kann (welche aber weder konkret behauptet wurde noch sonst glaubhaft ist), so ist diesbezüglich bspw auf VwGH vom vom 02.08.2018, Ra 2018/19/0396-5, zu verweisen, wonach nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person als „Verfolgung“ im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen ist, sondern nur in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen und haben dies die Asylbehörde bzw. das BVwG im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen. Das Asylrecht soll zudem nicht jedem, der in seiner Heimat benachteiligt wird, die Möglichkeit eröffnen, seine Heimat zu verlassen oder dorthin nicht zurückkehren zu müssen, weil er in Österreich eine bessere Lebenssituation vorfindet. Vielmehr ist eine Rechtsgutbeeinträchtigung von asylerheblicher Intensität erforderlich. Bei Eingriffen, die nicht unmittelbar das Leben, die Gesundheit und die physische Bewegungsfreiheit betreffen, ist das erst der Fall, wenn sie nach ihrer Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des Heimatstaates aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben (vgl. Erkenntnis d. VwGH vom 22.06.1994, Zl. 93/01/0443; VwGH vom 15.09.1994, Zl. 94/19/0389; VwGH 11.11.1987, 87/01/0136). Ein derart schwerwiegender Eingriff ist dem Vorbringen der BF jedoch nicht zu entnehmen, weshalb eine asylrelevante Gefährdung der BF wegen der sunnitischen Religionszugehörigkeit der BF2 ebenfalls zu verneinen ist.
II.2.4.4. Seitens des Höchstgerichtes wurde auch in mehreren Erkenntnissen betont, dass die Aussage des Asylwerbers die zentrale Erkenntnisquelle darstellt und daher der persönliche Eindruck des Asylwerbers für die Bewertung der Glaubwürdigkeit seiner Angaben von Wichtigkeit ist (VwGH, 24.06.1999, 98/20/0453; 25.11.1999, 98/20/0357). Der erkennende Richter konnte sich in der hg. mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von den BF verschaffen und kam klar und zweifelsfrei zum Schluss, dass das Vorbringen der BF unplausibel und unglaubwürdig ist und es auch an der generellen Glaubwürdigkeit der BF mangelte (Kriterien der Glaubhaftmachung finden sich exemplarisch auch in Art. 4 Abs. 5 der StatusRL (Richtlinie 2004/83/EG ).
In diesem Zusammenhang ist auf Aussagen der BF zu verweisen, welche nicht unmittelbar mit dem Fluchtvorbringen in Zusammenhang standen, dennoch aber geeignet sind, der persönlichen Glaubwürdigkeit der BF zu schaden.
So behauptete die BF2, keinen Deutschkurs besucht zu haben, da ihr dies ohne (Asyl-)Status nicht möglich sei (VHS 1, S 7). Eine derartige Erklärung für den Nichtbesuch eines Deutschkurses ist dem erkennenden Richter – trotz einer Vielzahl von Asylverfahren – bislang nicht zugemutet worden.
Zum Familienstand befragt behauptete die BF2, sie habe die fünf Kinder des BF1 in den VAE großgezogen (VHS 1, S 8). Zur in Wien lebenden Tochter des BF1 habe sie einen guten Kontakt, da sie sie von klein auf aufgezogen habe (VHS 2, S 5). Zieht man jedoch den Umstand in Betracht, dass die in Wien lebende Tochter XXXX 1991 geboren ist (VHS 2, S 14) und im selben Jahr wie die BF2 in den VAE geheiratet hat (VHS 2, S 6), ist es schon aufgrund dieser Fakten nicht möglich, dass die BF2 diese Tochter „von klein auf“ aufgezogen hat, zumal das Familienleben in den VAE nur von 2007 – 2010 dauerte und die älteste Tochter den Großteil dieser Zeit auch schon verheiratet war. Den Angaben des BF1 in der ersten mündlichen Verhandlung zufolge habe er in den VAE nur von 2007 – 2009 mit seiner Frau und den Kindern in einer Wohnung gemeinsam gelebt; er habe die Kinder 2009 in den Irak zurückgeschickt und sei – nur alleine mit seiner Frau – in eine andere Wohnung gezogen (VHS 1, S 22), was die Aussage der BF2 nochmals relativiert. Seinen Aussagen in der zweiten mündlichen Verhandlung zufolge hätten die Kinder dann doch von 2005 bis 2010 bei ihm in den VAE gelebt, seien – ohne ihn – 2010 in den Irak zurückgekehrt und hätten ab 2010 bei ihrem Onkel, dem Bruder des BF1 (VHS 2, S 14), gelebt.
Darüber hinaus gab die BF2 an, sie sei 2011 von den VAE in den Irak gereist, ein genaueres Datum könne sie nicht nennen, sie habe es vergessen (VHS 1, S 9), obwohl es sich dabei sicherlich um ein markantes Ereignis im Leben der BF2 gehandelt haben muss, zumal es sich dabei nicht um eine kurze Reise gehandelt hat, sondern sie ihren Lebensmittelpunkt von den VAE in den Irak verlegt hat, sodass es nicht glaubhaft ist, dass die BF2 diesen Zeitpunkt nicht näher definieren konnte. Ihr Ehemann sei sechs Monate vor ihr in den Irak zurückgekehrt (VHS 1, S 9). Dass der BF1 seine Rückkehr in den Irak unterschiedlich angab, wurde bereits ausgeführt (AS 41, 47 zu BF1, VHS 1, S 20 und VHS 2, S 19).
Auch diese – beispielhaft aufgezählten – Ungereimtheiten zeigen, dass die BF nicht einmal bei Aussagen, die nicht unmittelbar mit dem Fluchtgrund in direktem Zusammenhang standen, in der Lage oder gewillt waren, übereinstimmende Aussagen zu tätigen, weshalb generell ihre persönliche Glaubwürdigkeit Schaden genommen hat.
II.2.4.5. In Anbetracht all dieser aufgezeigten Widersprüche, Ungereimtheiten und Unplausibilitäten ist von einer konstruierten Rahmengeschichte zum Zwecke der Asylerlangung auszugehen. Keinesfalls ist glaubhaft, dass der BF1 aus asylrelevanten Gründen bei Gericht benachteiligt oder ihm der Schutz des irakischen Staates aus in der GFK genannten Gründen verweigert worden wäre. Der BF1 hat eine Verfolgung durch private Personen geltend gemacht, die an sich schon einer Glaubwürdigkeitsprüfung nicht standgehalten hat. Dass aber sein Heimatstaat aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit gewesen wäre, ihm Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010) wurde von ihm ebensowenig glaubhaft gemacht.
II.2.5. Das Bundesverwaltungsgericht kommt aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens zum Ergebnis, dass das Vorbringen der BF aufgrund der widersprüchlichen und im Laufe des Verfahrens gesteigerten Aussagen als unglaubwürdig zu qualifizieren war. Auch nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen konnte keine konkrete nachvollziehbare und glaubhafte Bedrohung der BF im Irak festgestellt werden.
Eine individuelle Verfolgung vor der Ausreise bzw. auch die Gefahr einer solchen für den Fall einer Rückkehr konnten die BF daher letztlich nicht glaubhaft darlegen und war insoweit – der belangten Behörde im Ergebnis folgend – nicht von einer Verfolgungsgefahr aus GFK-relevanten Gründen in einer für die Asylerlangung erforderlichen Intensität für die BF auszugehen.
II.3. Rechtliche Beurteilung:
II.3.1. Hinsichtlich Marokko, dem Herkunftsland der BF2, ist wie folgt auszuführen:
II.3.1.1. Gem. § 19 Abs. 5 BFA-VG kann die Bundesregierung bestimmte Staaten durch Verordnung als sichere Herkunftsstaaten definieren. Gemäß § 1 Z 9 der Herkunftsstaaten-Verordnung (HStV), BGBl. II Nr. 177/2009 idgF, gilt Marokko als sicherer Herkunftsstaat.
Gem. Art. 37 der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 zum gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes können die Mitgliedstaaten zum Zwecke der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz Rechts- und Verwaltungsvorschriften beinhalten oder erlassen, die im Einklang mit Anhang I zur VO sichere Herkunftsstaaten bestimmen können. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Staat als sicherer Herkunftsstaat bestimmt werden kann, werden verscheide Informationsquellen, insbesondere Informationen anderer Mitgliedstaaten, des EASO, des UNHCR, des Europarates und anderer einschlägiger internationaler Organisationen herangezogen.
Gem. dem oben genannten Anhang I gilt ein Staat als sicherer Herkunftsstaat, wenn sich anhand der dortigen Rechtslage, der Anwendung der Rechtsvorschriften in einem demokratischen System und der allgemeinen politischen Lage nachweisen lässt, dass dort generell und durchgängig weder eine Verfolgung im Sinne des Artikels 9 der Richtlinie 2011/95/EU noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe noch Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu befürchten sind.
Bei der entsprechenden Beurteilung wird unter anderem berücksichtigt, inwieweit Schutz vor Verfolgung und Misshandlung geboten wird durch
a) die einschlägigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Staates und die Art und Weise ihrer Anwendung;
b) die Wahrung der Rechte und Freiheiten nach der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und/oder dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und/oder dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention keine Abweichung zulässig ist;
c) die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung nach der Genfer Flüchtlingskonvention;
d) das Bestehen einer Regelung, die einen wirksamen Rechtsbehelf bei Verletzung dieser Rechte und Freiheiten gewährleistet.
Artikel 9 der Richtlinie 2011/95/EU definiert Verfolgung wie folgt:
"1) Um als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention zu gelten, muss eine Handlung
a) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Abweichung zulässig ist, oder
b) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a beschriebenen Weise betroffen ist.
(2) Als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:
a) Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
b) gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
c) unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
d) Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
e) Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 fallen, und
f) Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.
(3) Gemäß Artikel 2 Buchstabe d muss eine Verknüpfung zwischen den in Artikel 10 genannten Gründen und den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen bestehen."
Aus dem Grundsatz, wonach, wann immer nationale Behörden oder Gerichte Recht anwenden, das Richtlinien umsetzt, diese gemäß der richtlinienkonformen Interpretation dazu verhalten sind, "das zur Umsetzung einer Richtlinie erlassene nationale Recht in deren Licht und Zielsetzung auszulegen" (VfSlg. 14.391/1995; zur richtlinienkonformen Interpretation siehe weiters VfSlg. 15.354/1998, 16.737/2002, 18.362/2008; VfGH 5.10.2011, B 1100/09 ua.) ergibt sich, dass davon ausgegangen werden kann, dass sich der innerstaatliche Gesetzgeber und in weiterer Folge die Bundesregierung als zur Erlassung einer entsprechenden Verordnung berufenes Organ bei der Beurteilung, ob ein Staat als sicherer Herkunftsstaat gelten kann, von den oa. Erwägungen leiten lässt bzw. ließ. Hinweise, dass die Republik Österreich entsprechende Normen, wie etwa hier die Herkunftssaaten-Verordnung in ihr innerstaatliches Recht europarechtswidrig umsetzt bestehen nicht, zumal in diesem Punkt kein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Republik Österreich anhängig ist bzw. eingeleitet wurde (vgl. Art. 258 f AEUV).
Der VfGH (Erk. vom 15.10.20014 G237/03 ua. [dieses bezieht sich zwar auf eine im Wesentlichen inhaltsgleiche Vorgängerbestimmung des § 19 BFA-VG, ist aber nach Ansicht des ho. Gerichts aufgrund der in diesem Punkt im Wesentlichen unveränderten materiellen Rechtslage nach wie vor anwendbar]) stellt in Bezug auf die innerstaatliche Rechtslage ua. fest, dass der Regelung des AsylG durch die Einführung einer Liste von sicheren Herkunftsstaaten kein Bestreben des Staates zu Grunde liegt, bestimmte Gruppen von Fremden kollektiv außer Landes zu schaffen. Es sind Einzelverfahren zu führen, in denen auch über die Sicherheit des Herkunftslandes und ein allfälliges Refoulement-Verbot endgültig zu entscheiden ist. Dem Gesetz liegt – anders als der Vorgangsweise im Fall Conka gegen Belgien (EGMR 05.02.2002, 51564/1999) – keine diskriminierende Absicht zu Grunde. Die Liste soll bloß der Vereinfachung des Verfahrens in dem Sinne dienen, dass der Gesetzgeber selbst zunächst eine Vorbeurteilung der Sicherheit für den Regelfall vornimmt. Sicherheit im Herkunftsstaat bedeutet, dass der Staat in seiner Rechtsordnung und Rechtspraxis alle in seinem Hoheitsgebiet lebenden Menschen vor einem dem Art 3 EMRK und der Genfer Flüchtlingskonvention widersprechenden Verhalten seiner Behörden ebenso schützt wie gegen die Auslieferung an einen "unsicheren" Staat. Das Schutzniveau muss jenem der Mitgliedstaaten der EU entsprechen, was auch dadurch unterstrichen wird, dass die anderen sicheren Herkunftsstaaten in § 6 Abs. 2 AsylG [Anm. a. F., nunmehr § 19 Abs. 1 und 2 BFA-VG] in einem Zug mit den Mitgliedstaaten der EU genannt werden.
Die Einführung einer Liste sicherer Herkunftsstaaten führte zu keiner Umkehr der Beweislast zu Ungunsten eines Antragstellers, sondern ist von einer normativen Vergewisserung der Sicherheit auszugehen, soweit seitens des Antragstellers kein gegenteiliges Vorbringen substantiiert erstattet wird. Wird ein solches Vorbringen erstattet, hat die Behörde bzw. das ho. Gericht entsprechende einzelfallspezifische amtswegige Ermittlungen durchzuführen.
Aus dem Umstand, dass sich der innerstaatliche Normengeber im Rahmen einer richtlinienkonformen Vorgangsweise und unter Einbeziehung der allgemeinen Berichtslage zum Herkunftsstaat der BF1 ein umfassendes Bild über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko verschaffte, ist ableitbar, dass ein bloßer Verweis auf die allgemeine Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich nicht geeignet ist, einen Sachverhalt zu bescheinigen, welcher geeignet ist, von der Vorbeurteilung der Sicherheit für den Regelfall abzuweichen (das ho. Gericht geht davon aus, dass aufgrund der in diesem Punkt vergleichbaren Interessenslage die Ausführungen des VwGH in seinem Erk. vom 17.02.1998, Zl. 96/18/0379 bzw. des EGMR, Urteil Mamatkulov & Askarov v Türkei, Rs 46827, 46951/99, 71-77 sinngemäß anzuwenden sind, zumal sich die genannten Gerichte in diesen Entscheidungen auch mit der Frage, wie allgemeine Berichte im Lichte einer bereits erfolgten normativen Vergewisserung der Sicherheit [dort von sog. "Dublinstaaten"] zu werten sind).
II.3.1.2. Auf den konkreten Einzelfall umgelegt bedeutet dies, dass im Rahmen einer verfassungs- und richtlinienkonformen Interpretation der hier anzuwendenden Bestimmungen davon ausgegangen werden kann, dass sich die Bundesregierung im Rahmen einer normativen Vergewisserung ein umfassendes Bild von der asyl- und abschiebungs-relevanten Lage in Marokko verschaffte und zum Schluss kam, dass Marokko die unter Anhang I der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes und den im Erk. des VfGH vom 15.10.20014 G237/03 ua. genannten Kriterien erfüllt.
Aufgrund dieser normativen Vergewisserung besteht für die belangte Behörde bzw. das ho. Gericht die Obliegenheit zur amtswegigen Ermittlung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage nur insoweit, als seitens der BF2 ein konkretes Vorbringen erstattet wird, welches im konkreten Einzelfall gegen die Sicherheit Marokkos spricht und der belangten Behörde bzw. dem ho. Gericht im Lichte der bereits genannten Kriterien die Obliegenheit auferlegt, ein entsprechendes amtswegiges Ermittlungsverfahren durchzuführen. Im gegenständlichen Fall hat die BF2 keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht, sondern sich ausdrücklich auf die Fluchtgründe ihres Ehemannes bezogen, welche sich wiederum ausschließlich auf dessen Herkunftsstaat Irak bezogen und zudem für unglaubwürdig befunden wurden. Die BF2 hat Marokko bereits im Jahr 2002 aus wirtschaftlichen Gründen verlassen (AS 43 zu BF2). Die Behörde bzw. das ho. Gericht waren in diesem Zusammenhang auch nicht verpflichtet, Asylgründen nachzugehen, die die BF2 gar nicht behauptet hat, sondern ergibt sich der maßgebliche Sachverhalt (§ 37 AVG) im Wesentlichen aus der Begründung des Antrages (Erk. des VfGH vom 15.10.2014 G237/03 ua mit zahlreichen wN) und liegt auch kein notorisch bekannter Sachverhalt vor, welcher über das Vorbringen der BF2 hinausgehend noch zu berücksichtigen wäre.
Zu A) Abweisung der Beschwerden:
II.3.2. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):
II.3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Asylantrag gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht. Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht, oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.
Gegenständliche Anträge waren nicht wegen Drittstaatsicherheit (§ 4 AsylG), des Schutzes in einem EWR-Staat oder der Schweiz (§ 4a AsylG) oder Zuständigkeit eines anderen Staates (§ 5 AsylG) zurückzuweisen. Ebenso liegen bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Asylausschlussgründe vor, weshalb die Anträge der BF inhaltlich zu prüfen sind.
II.3.2.2. Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, "aus Gründen" (Englisch: "for reasons of"; Französisch: "du fait de") der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380).
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998. Zl. 98/01/0262). Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194).
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Konvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes befindet.
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, Zl. 94/18/0263; 01.02.1995, Zl. 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht – diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann –, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256).
Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (vgl VwGH 15.3.2001, 99/20/0134).
Eine inländische Fluchtalternative ist nur dann gegeben, wenn sie vom Asylwerber in zumutbarer Weise in Anspruch genommen werden kann (vgl VwGH 19.10.2006, 2006/19/0297 mwN). Herrschen am Ort der ins Auge gefassten Fluchtalternative Bedingungen, die eine Verbringung des Betroffenen dorthin als Verstoß gegen Art 3 EMRK erscheinen lassen würden, so ist die Zumutbarkeit jedenfalls zu verneinen (vgl VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534).
II.3.2.3. Wie im gegenständlichen Fall bereits in der Beweiswürdigung ausführlich erörtert wurde, war das Vorbringen des BF1 geprägt von Widersprüchen und Unplausibilitäten, weshalb die Glaubhaftmachung eines Asylgrundes von vornherein ausgeschlossen werden kann. Die BF2 brachte keine eigenen Fluchtgründe vor. Es sei an dieser Stelle betont, dass die Glaubwürdigkeit des Vorbringens die zentrale Rolle für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Asylgewährung [nunmehr „Status eines Asylberechtigten“] einnimmt (vgl. VwGH v. 20.6.1990, Zl. 90/01/0041).
Im gegenständlichen Fall erachtet das erkennende Gericht in dem im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegten Umfang die Angaben als unwahr, sodass der von den BF behauptete Fluchtgrund nicht als Feststellung der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden kann, und es ist auch dessen Eignung zur Glaubhaftmachung wohl begründeter Furcht vor Verfolgung nicht näher zu beurteilen (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380).
Da sich auch im Rahmen des sonstigen Ermittlungsergebnisses bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Hinweise auf das Vorliegen der Gefahr einer Verfolgung aus einem in Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GFK genannten Grund ergaben, scheidet die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten somit aus.
Auch die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der BF ist nicht dergestalt, dass sich konkret für die BF eine begründete Furcht vor einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden asylrelevanten Verfolgung ergeben würde.
Es gibt bei Zugrundelegung des Gesamtvorbringens der BF keine glaubhaften Anhaltspunkte dafür, dass die BF bei einer Rückkehr in den Irak bzw. nach Marokko maßgeblich wahrscheinlich Gefahr laufen würden, einer asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).
Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist davon auszugehen, dass den BF keine Verfolgung aus in den in der GFK genannten Gründen droht. Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen ebenso wie allfällige persönliche und wirtschaftliche Gründe keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention dar.
Daher ist die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide als unbegründet abzuweisen.
II.3.3. Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):
II.3.3.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 offen steht.
II.3.3.2. Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz setzt somit voraus, dass die Abschiebung der BF in ihre Heimat entweder eine reale Gefahr einer Verletzung insbesondere von Art. 2 oder 3 EMRK bedeuten würde oder für sie eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes im Irak bzw. in Marokko mit sich bringen würde.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095, mit weiteren Nachweisen). Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236 mwN).
Um von der realen Gefahr ("real risk") einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüber hinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (vgl. etwa VwGH 26.04.2017, Ra 2017/19/0016, mwN).
Folter bezeichnet jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind (Art. 1 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984).
Unter unmenschlicher Behandlung ist die vorsätzliche Verursachung intensiven Leides unterhalb der Stufe der Folter zu verstehen (Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht 10. Aufl. (2007), RZ 1394).
Unter einer erniedrigenden Behandlung ist die Zufügung einer Demütigung oder Entwürdigung von besonderem Grad zu verstehen (Näher Tomasovsky, FS Funk (2003) 579; Grabenwarter, Menschenrechtskonvention 134f).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein "real risk" (reales Risiko) vorliegt, wenn stichhaltige Gründe ("substantial grounds") dafür sprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in die Heimat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der EGMR in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Risiko iSd Art. 3 EMRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen ("in the most extreme cases") diese Voraussetzung erfüllt (vgl. etwa EGMR vom 28. November 2011, Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi gg. Vereinigtes Königreich, RNr. 218 mit Hinweis auf EGMR vom 17. Juli 2008, Nr. 25904/07, NA gg. Vereinigtes Königreich). In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen ("special distinguishing features"), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (vgl. etwa EGMR Sufi und Elmi, RNr. 217).
Thurin (Der Schutz des Fremden vor rechtswidriger Abschiebung² (2012), 203) fasst die bezughabenden Aussagen in der Rechtsprechung des EGMR dahingehend zusammen, dass der maßgebliche Unterschied zwischen einem "realen Risiko" und einer "bloßen Möglichkeit" prinzipiell im Vorliegen oder Nichtvorliegen von "special distinguishing features" zu erblicken ist, die auf ein "persönliches" ("personal") und "vorhersehbares" ("foreseeable") Risiko schließen lassen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz bestehe nur in sehr extremen Fällen ("most extreme cases") wenn die allgemeine Lage im Herkunftsstaat so ernst sei, dass praktisch jeder, der dorthin abgeschoben wird, einem realen und unmittelbar drohenden ("real and imminent") Risiko einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sei. Diesfalls sei das reale Risiko bereits durch die extreme allgemeine Gefahrenlage im Zielstaat indiziert.
Der Tatbestand einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes in § 8 Abs. 1 Z 2 Asyl 2005 orientiert sich an Art. 15 lit. c der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU ) und umfasst – wie der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) erkannt hat – eine Schadensgefahr allgemeiner Art, die sich als "willkürlich" erweist, also sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann. Entscheidend für die Annahme einer solchen Gefährdung ist nach den Ausführungen des EuGH, dass der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson liefe bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr, einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Dabei ist zu beachten, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH vom 17. Februar 2009, C- 465/07, Elgafaji, und vom 30. Jänner 2014, C-285/12 , Diakite).
Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (vgl. VwGH 25.04.2017, Ra 2017/01/0016, mwN).
Nach der ständigen Judikatur des EGMR, wonach es – abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde – obliegt es grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (vgl. VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134 unter Hinweis auf das Urteil des EGMR vom 5. September 2013, I. gg. Schweden, Nr. 61204/09). Die Mitwirkungspflicht des Beschwerdeführers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich das erkennende Gericht nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (etwa die familiäre, gesundheitliche oder finanzielle Situation), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht (VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279). Der Antragsteller muss die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darstellen (vgl. VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus, wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (EGMR U 17.10.1986, Kilic gegen Schweiz, Nr. 12364/86).
Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich, Zl. 30240/96; 06.02.2001, Bensaid, Zl. 44599/98; vgl. auch VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443). Unter "außergewöhnlichen Umständen" können auch lebensbedrohende Ereignisse (zB Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK iVm § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich; vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 09.07.2002, 2001/01/0164; 16.07.2003, 2003/01/0059). Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Art. 3 EMRK für die Beantwortung der Frage, ob die Abschiebung eines Fremden eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt, unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr ("real risk") – die bloße Möglichkeit genügt nicht – damit verbunden ist (VwGH 23.09.2004, 2001/21/0137). Unter Darstellung der maßgebenden persönlichen Verhältnisse des Fremden (insbesondere zu seinen finanziellen Möglichkeiten und zum familiären und sonstigen sozialen Umfeld) ist allenfalls weiter zu prüfen, ob ihm der Zugang zur notwendigen medizinischen Behandlung nicht nur grundsätzlich, sondern auch tatsächlich angesichts deren konkreter Kosten und der Erreichbarkeit ärztlicher Hilfsorganisationen möglich wäre (VwGH 23.09.2004, 2001/21/0137 unter Hinweis auf VwGH 17.12.2003, 2000/20/0208).
II.3.3.3. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies:
Im gegenständlichen Fall ist es den BF nicht gelungen, eine individuelle Bedrohung bzw. Verfolgungsgefahr glaubhaft zu machen und sie gehören auch keiner Personengruppe mit speziellem Risikoprofil an, weshalb sich daraus auch kein zu berücksichtigender Sachverhalt ergibt, der gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zur Unzulässigkeit der Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung in den jeweiligen Herkunftsstaat führen könnte.
Dass die BF im Fall der Rückkehr in ihren jeweiligen Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnten, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden. Durch eine Rückführung in den jeweiligen Herkunftsstaat würden sie somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.
Hinweise auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage (allgemeine Hungersnot, Seuchen, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse) liegen in Bezug auf den Irak nicht vor, weshalb hieraus aus diesem Blickwinkel bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Vorliegen eines Sachverhaltes gem. Art. 2 bzw. 3 EMRK abgeleitet werden kann. In Bezug auf Marokko ist auf die Einschätzung als sicherer Herkunftsstaat zu verweisen.
Da sich die Herkunftsstaaten der BF nicht im Zustand willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes befinden, kann bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen nicht festgestellt werden, dass für die BF als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines solchen internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes besteht.
Auch wenn sich die Lage der Menschenrechte insbesondere im Herkunftsstaat des BF1 in wesentlichen Bereichen als problematisch darstellt, kann nicht festgestellt werden, dass eine nicht sanktionierte, ständige Praxis grober, offenkundiger, massenhafter Menschenrechtsverletzungen (iSd VfSlg 13.897/1994, 14.119/1995, vgl. auch Art. 3 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984) herrschen würde und praktisch jeder, der sich im Hoheitsgebiet des Staates aufhält schon alleine aufgrund des Faktums des Aufenthaltes aufgrund der allgemeinen Lage mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, von einem unter § 8 Abs. 1 AsylG subsumierbaren Sachverhalt betroffen zu sein.
Es kann auch nicht erkannt werden, dass den BF im Falle einer Rückkehr in den jeweiligen Herkunftsstaat die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059). Einerseits haben die BF selbst nicht vorgebracht, dass ihnen dort jegliche Existenzgrundlage fehlen würde, andererseits besteht nach dem festgestellten Sachverhalt auch kein Hinweis auf „außergewöhnliche Umstände“, welche eine Rückkehr der BF unzulässig machen könnten.
Unter "außergewöhnlichen Umständen" können auch lebensbedrohende Ereignisse (zB Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK iVm § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bilden.
Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt ist die BF2 gesund und arbeitsfähig und leidet der BF1 an keiner lebensbedrohlichen und akut behandlungsbedürftigen Erkrankung. Aus den herangezogenen Länderberichten ist ersichtlich, dass die medizinische Behandlung im Irak zwar sehr angespannt ist, sie ist aber grundsätzlich gegeben. Unbestritten ist zudem, dass nach der allgemeinen Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK und Krankheiten eine Überstellung in den Irak dann nicht zulässig wäre, wenn dort wegen fehlender Behandlung schwerer Krankheiten eine existenzbedrohende Situation drohte. Dass die diesbezüglichen Behandlungsmöglichkeiten im Zielland allenfalls schlechter sind als im Aufenthaltsland, und möglicherweise "erhebliche Kosten" verursachen, ist gemäß der EGMR-Judikatur nicht ausschlaggebend.
Im Allgemeinen hat kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung in Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (Fall D. v. the United Kingdom).
Vor diesem Hintergrund ergeben sich somit keine Hinweise auf das Vorliegen von akut existenzbedrohenden Krankheitszuständen oder Hinweise auf eine unzumutbare Verschlechterung der Krankheitszustände im Falle einer Rückverbringung des BF1 in den Irak, welche eine Überstellung in den Irak gemäß der Judikatur des EGMR verbieten würde und ist nochmals darauf zu verweisen, dass der BF1 aktuell weder Medikamente benötigt noch in ärztlicher Behandlung steht.
Die BF waren zuletzt im Irak in Kerbala aufhältig, von wo aus sie auch die Ausreise angetreten haben. Den Länderfeststellungen zufolge erklärte im Dezember 2017 die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019). Wie unter Punkt II.2.3.2. ausgeführt, haben sich die Opferzahlen im Irak markant verringert und ist – trotz sicherheitsrelevanter Vorfälle – die allgemeine Sicherheitslage nicht dergestalt, dass jeder dorthin Zurückkehrende der realen Gefahr unterläge, mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung seiner durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte ausgesetzt zu sein oder dass für ihn die ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt anzunehmen wäre. Besondere Gefährdungsmomente, die es wahrscheinlich erscheinen lassen, dass insbesondere der BF1 in besonderem Maße von den dort stattfindenden Gewaltakten bedroht wäre, wurden weder in den Einvernahmen noch in der Beschwerde glaubhaft vorgebracht (vgl. dazu VwGH vom 21.02.2017, Ra 2016/18/0137).
Auch in Südirak, der Herkunftsregion des BF1, ist nicht von einer derart prekären Sicherheitslage auszugehen, dass eine Rückkehr dorthin für den BF1 bedeuten würde, mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte ausgesetzt zu sein (vgl. Punkt II.2.3.2.).
Hinsichtlich der BF2 wird auf Punkt II.2.3.3. verwiesen, wonach auch für die BF2 bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr einer Verletzung der Artikel 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention nicht vorliegt und Marokko als sicherer Herkunftsstaat gemäß § 1 Z 9 der Herkunftsstaaten-Verordnung (HStV), BGBl. I Nr. 177/2009 gilt.
Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), liegt nicht vor.
Zur individuellen Versorgungssituation der BF wird festgehalten, dass diese im jeweiligen Herkunftsland über eine hinreichende Existenzgrundlage verfügen. Beim BF1 handelt es sich um einen arbeitsfähigen Mann mit Schulbildung und Berufserfahrung, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt wird. Er bewies seine Anpassungsfähigkeit – welche ihm nach seiner Rückkehr in den Irak zu Gute kommt – durch den Umstand, dass er sich auch in einer fremden Umgebung wie Österreich zurechtfinden konnte. Der BF1 gehört auch keinem Personenkreis an, von welchem anzunehmen ist, dass er sich in Bezug auf seine individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellt als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann.
Die BF2 ist gesund und arbeitsfähig, hat Schulbildung und Berufserfahrung. Auch ihr ist als Friseurin die Teilnahme am Erwerbsleben zuzumuten und sie gehört ebenso keinem Personenkreis an, von welchem anzunehmen ist, dass sie sich in Bezug auf ihre individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellt als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann.
Es erscheint daher eine Rückkehr der BF in ihre jeweilige Heimatregion nicht grundsätzlich ausgeschlossen und aufgrund ihrer individuellen Situation insgesamt auch zumutbar. Wenngleich die wirtschaftliche Lage, die Strom- und Wasserversorgung und auch die Versorgung mit Nahrungsmitteln im Irak noch keineswegs optimal sind, so ist aber insoweit festzustellen, dass der BF1 arbeitsfähig ist und keine spezielle Vulnerabilität aufweist. Es ist vor dem Länderhintergrund daher nicht erkennbar, dass er nicht für seinen Lebensunterhalt sorgen bzw. in eine aussichtslose Notlage geraten könnte. Dem Vorbringen der BF sind keine Gründe zu entnehmen, warum ihnen bei einer Rückkehr in ihre jeweilige Herkunftsregion die notwendigste Lebensgrundlage entzogen werden würde und sie in eine existenzielle Notlage geraten sollten.
Aufgrund der oa. Ausführungen ist letztlich im Rahmen einer Gesamtschau davon auszugehen, dass die BF im Falle der Rückkehr in ihren jeweiligen Herkunftsstaat ihre dringendsten Bedürfnisse werden befriedigen können und nicht in eine, allfällige Anfangsschwierigkeiten überschreitende, dauerhaft aussichtslose Lage geraten werden.
Es ist daher davon auszugehen, dass die BF nicht vernünftiger Weise (VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380) damit rechnen müseen, in ihrem Herkunftsstaat mit einer über die bloße Möglichkeit (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998. Zl. 98/01/0262) hinausgehenden maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einer aktuellen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194) Gefahr im Sinne des § 8 AsylG ausgesetzt zu sein, weshalb die Gewährung von subsidiärem Schutz ausscheidet.
Gemäß § 52a BFA-VG kann auch eine finanzielle Rückkehrhilfe als Startkapital für einen Neubeginn im Heimatland gewährt werden. Rückkehrer werden auf Basis dieser gesetzlichen Grundlage vom ersten Informationsgespräch bis zur tatsächlichen Rückreise in einer Einrichtung beraten, begleitet und umfassend unterstützt. Es ist den BF freigestellt, sich dieser Rückkehrhilfe zu bedienen. Es wäre somit auch damit gewährleistet, etwaige „Startschwierigkeiten“ abfedern zu können.
Wenn auch im Irak oder in Marokko eine wirtschaftlich schwierigere Situation als in Österreich besteht, so ist in einer Gesamtbetrachtung, unter Berücksichtigung ihrer individuellen Situation, festzuhalten, dass von einer lebensbedrohenden Notlage im Herkunftsstaat, welche bei einer Rückkehr die reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung iSd Art 3 EMRK indizieren würde, für die BF nicht gesprochen werden kann.
Durch eine Rückführung in ihren Herkunftsstaat würden die BF somit nicht in ihren Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder den relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 und Nr. 13 verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Dasselbe gilt für die reale Gefahr, der Todesstrafe unterworfen zu werden.
Der BF2 stellt es selbstverständlich frei, gemeinsam mit ihrem Ehemann in den Irak (sowie Jahre zuvor aus den VAE) zurückzukehren und kamen im Verfahren keine Umstände zutage, dass dies nicht möglich wäre.
Daher sind die Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide als unbegründet abzuweisen.
II.3.4. Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte III. bis IV. des angefochtenen Bescheides):
II.3.4.1. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG nicht erteilt wird.
Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:
1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
Die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz sind abzuweisen. Es liegt daher kein rechtmäßiger Aufenthalt der BF im Bundesgebiet (mehr) vor und fallen die BF nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstücks des FPG. Der Aufenthalt der BF ist auch nicht geduldet und es liegen keine Umstände vor, dass den BF allenfalls von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG (Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz) zu erteilen gewesen wäre, und wurde diesbezüglich auch nichts dargetan.
Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG ist diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
Gemäß § 52 Abs. 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Die BF sind Staatsangehörige des Irak bzw. von Marokko und somit keine begünstigten Drittstaatsangehörigen. Es kommt ihnen auch kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Daher war gegenständlich gemäß § 52 Abs. 2 FPG grundsätzlich eine Rückkehrentscheidung vorgesehen.
II.3.4.2. Gemäß § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG darf eine Rückkehrentscheidung jedoch nicht verfügt werden, wenn es dadurch zu einer Verletzung des Privat- und Familienlebens käme.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung – nunmehr Rückkehrentscheidung – nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.
Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
Unter der Schwelle des § 50 FPG kommt den Verhältnissen im Herkunftsstaat unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens Bedeutung zu, sodass etwa "Schwierigkeiten beim Beschäftigungszugang oder bei Sozialleistungen" in die bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorzunehmende Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG miteinzubeziehen sind (vgl. VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119 unter Hinweis auf VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101).
Bei der Interessenabwägung ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101) auch ein Vorbringen zu berücksichtigen, es werde eine durch die Rückkehr in den Heimatstaat wegen der dort herrschenden Verhältnisse bewirkte maßgebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Fremden, insbesondere die deutliche Verschlimmerung psychischer Probleme, eintreten (vgl. VwGH 11.10.2005, 2002/21/0132; 28.03.2006, 2004/21/0191; zur gebotenen Bedachtnahme auf die durch eine Trennung von Familienangehörigen bewirkten gesundheitlichen Folgen VwGH 21.04.2011, 2011/01/0093). Bei dieser Interessenabwägung ist unter dem Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG (Bindungen zum Heimatstaat) auch auf die Frage der Möglichkeiten zur Schaffung einer Existenzgrundlage bei einer Rückkehr dorthin Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 31.01.2013, 2012/23/0006).
II.3.4.3. Wird durch eine Rückkehrentscheidung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung dieser Maßnahme gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG 2014 (nur) zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 MRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG 2014 genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG 2014 ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (VwGH 16.11.2016, Ra 2016/18/0041).
Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts auf das Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, welche in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, der Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (VfSlg. 16928/2003).
Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt (vgl. dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art 8 Abs 2 EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VfSlg. 17.516 und VwGH vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).
Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang kommt dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu. Allerdings hat der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich in einem Gewicht gemindert ist, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen (vgl. VwGH Ra 2016/22/0056).
Außerdem ist nach der bisherigen Rechtsprechung auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (vgl. VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216 mwN).
Die Feststellung, wonach ein Asylwerber strafrechtlich unbescholten ist, stellt laut Judikatur weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.1.1999, Zahl 98/18/0420).
Die Aufenthaltsdauer nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG stellt nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien dar, weshalb auch nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist (vgl. etwa VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055 bis 0058).
Einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu (vgl. VwGH 10.04.2019, Ra 2019/18/0058; VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0070 unter Hinweis auf VwGH 21.01.2016, Ra 2015/22/0119; 10.05.2016, Ra 2015/22/0158; 15.03.2016, Ra 2016/19/0031).
Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf VwGH 25.02.2010, Zl. 2009/21/0070, wonach selbst bei einem rund achtjähriger Aufenhthalt im Bundesgebiet, einer Berufstätigkeit des BF, dem Erlernen der deutschen Sprache, der Unbescholtenheit des BF, dem Vorhandensein eines Freundes- und Bekanntenkreises sowie Verwandten in Österreich und fehlendem Kontakt ins Herkunftsland, die persönlichen Interessen nicht die öffentlichen Interessen überwiegen, wenn die integrationsbegründenden Umstände während eines Aufenthaltes erworben wurden, der sich auf einen nicht berechtigten Asylantrag gründet.
Ebenso auch VwGH 23.03.2010, Zl. 2010/18/0038, im Falle eines Asylwerbers mit siebenjährigem Aufenthalt, guten Deutschkenntnissen, Unbescholtenheit und beruflicher Integration. Auch in diesem Fall wurde dem Vorbringen zur Integration des Beschwerdeführers in Österreich während seines mehrjährigen Aufenthaltes zu Recht entgegengehalten, dass der Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers während seines gesamten Aufenthaltes als unsicher anzusehen war.
Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch noch auf die rezente höchstgerichtliche Judikatur zur Zurückweisung einer Revision im Falle eines Asylwerbers mit mehr als siebenjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet, abgeschlossener Lehre und Berufstätigkeit als Koch, Deutschkenntnissen auf dem Niveau B2, einem sozialen Netz an Freunden, 10monatiger eheähnliche Beziehung, keinen Kontakten zur Familie im Herkunftsstaat, Unbescholtenheit sowie Selbsterhaltungsfähigkeit während des Großteils des Verfahrens. Der VwGH hob besonders hervor, dass maßgeblich relativierend einzubeziehen sei, dass sich der Asylwerber seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein müsse und verneinte auch angesichts der obzitierten integrationsbegründenden Faktoren die Existenz von ‚außergewöhnlichen Umständen‘ (VwGH 04.02.2020, Ra 2020/14/0026-5 mit Verweis auf VwGH 12.12.2019, Ra 2019/14/0242; 25.06.2019, Ra 2019/14/0260, VwGH 02.12.2019, Ra 2019/14/0408).
II.3.4.4. Für den konkreten Fall bedeutet dies:
Der BF1 und die BF2 sind miteinander verheiratet. Es besteht somit ein iSd Art. 8 EMRK schützenswertes Familienleben. Da jedoch gegenüber beiden Ehepartnern mit Erkenntnis des heutigen Tages die vom BFA ausgesprochene Rückkehrentscheidung bestätigt wird, ergibt sich kein Eingriff in das Familienleben. Ist von einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme die gesamte Familie – hier die Ehepartner – betroffen, greift sie lediglich in das Privatleben der Familienmitglieder und nicht auch in ihr Familienleben ein; auch dann, wenn sich einige Familienmitglieder der Abschiebung durch Untertauchen entziehen (EGMR im Fall Cruz Varas gegen Schweden). Auch der Umstand, dass die Rückkehrentscheidung des BF1 und der BF2 unterschiedliche Herkunftsstaaten betrifft, stellt keinen unzulässigen Eingriff in das Familienleben dar, zumal die BF – wie zuvor auch – selbst entscheiden können, in welchem der beiden Herkunftsländer sie ihr Familienleben fortsetzen möchten. Es spricht – mangels glaubhafter Bedrohung – auch nichts dagegen, dass die beiden BF – wie vor ihrer Ausreise – ihr Eheleben im Irak weiterführen, wo sich auch zwei weitere Kinder des BF1 befinden.
Den Angaben der BF zufolge leben sie in Österreich in einer Wohnung gemeinsam mit dem Sohn des BF1, einer seiner Töchter und deren Kind. Der Sohn ist erwerbstätig, die Tochter bezieht für sich und ihr Kind Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 21.04.2011, 2011/01/0093). Zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit zu ihrem Sohn bzw. ihrer Tochter, die über die üblichen Bindungen zwischen Eltern und erwachsenen Kindern hinausgehen, konnten nicht festgestellt werden. Entsprechendes wurde weder im behördlichen Verfahren noch in einer der hg. mündlichen Verhandlungen vorgebracht. Gerade wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand wie etwa ihre familiären Verhältnisse handelt, besteht aber eine erhöhte Mitwirkungspflicht des Asylwerbers (VwGH 14.02.2002, 99/18/0199; VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279, VfGH 09.06.2006, B 1277/04; VwGH 17.11.2009, 2007/20/0955). Mag zwar im gegenständlichen Fall schon aufgrund der gemeinsamen Wohnung ein gewisses Naheverhältnis zu diesen beiden erwachsenen Kindern des BF1 gegeben sein, so ist dennoch keine Abhängigkeit der beiden erwachsenen Kinder zu den BF festzustellen, die über eine übliche Bindung hinausgehen und wurde eine solche von den BF auch nicht dargetan. Beide Kinder sind finanziell von den BF unabhängig und sind auch nicht aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen oder aus sonstigen Gründen auf eine besondere Hilfe der BF angewiesen. Ebensowenig konnte eine solche Abhängigkeit der in Wien lebenden Tochter zu den BF festgestellt werden. Die BF verfügen zwar über ein Familienleben in Österreich, ein schützenswertes Familienleben im Bundesgebiet im oben dargestellten Sinn liegt jedoch nicht vor. Die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung bildet daher keinen unzulässigen Eingriff in das Recht der BF auf Schutz des Familienlebens. Die aufenthaltsbeendende Maßnahme könnte daher allenfalls lediglich in das Privatleben der BF eingreifen.
Der Aufenthalt der BF in Österreich seit ihrer illegalen Einreise im September 2015, somit seit sechs Jahren, beruht auf Anträgen auf internationalen Schutz, die sich als nicht berechtigt erwiesen haben. Das Gewicht eines zwischenzeitig entstandenen Privatlebens wird somit schon dadurch gemindert, dass sich die BF nicht darauf verlassen konnten, ihr Leben auch nach Beendigung des Asylverfahrens in Österreich fortführen zu können, sie sich also im Zeitpunkt, in dem das Privatleben entstanden ist, ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein mussten.
Auch wenn weder das Gesetz noch die Judikatur eine fixe Aufenthaltsdauer nennen, um diese im Lichte des Art. 8 EMRK relevant erscheinen zu lassen, ist darauf hinzuweisen, dass die im gegenständlichen Fall vorliegende Aufenthaltsdauer in Zusammenschau mit den Integrationsschritten der BF nicht ausreichend ist. Zur Zulässigkeit der Ausweisung trotz langjährigem Aufenthalt in Österreich ist insbesondere auf folgende höchstgerichtliche Rechtsprechung hinzuweisen: VwGH 30.04.2009, 2008/21/0307, wonach bei der Interessenabwägung gemäß § 66 Abs 1 FrPolG 2005 der Umstand, dass sich die Fremden während der langen Dauer ihrer Asylverfahren der Ungewissheit ihres weiteren rechtlichen Schicksals bewusst gewesen sein mussten, von Bedeutung ist. Unter Berücksichtigung dieses Umstandes und der mangelnden Selbsterhaltungsfähigkeit kann dem Aufbau eines Freundeskreises, dem Erwerb deutscher Sprachkenntnisse und der Unbescholtenheit der Fremden kein entscheidendes Gewicht zukommen (mit Hinweis auf E 17. März 2009, 2008/21/0089).
Die Dauer des gegenständlichen Verfahrens ist zwar als verhältnismäßig lang zu werten, was den BF auch nicht anzulasten ist; sie übersteigt aber in Anbetracht der hohen Fluchtbewegungen in den letzten Jahren auch (noch) nicht das Maß dessen, was für ein rechtsstaatlich geordnetes, den verfassungsrechtlichen Vorgaben an Sachverhaltsermittlungen und Rechtschutzmöglichkeiten entsprechendes Asylverfahren angemessen ist. Es liegt somit jedenfalls kein Fall vor, in dem die öffentlichen Interessen an der Einhaltung der einreise- und fremdenrechtlichen Vorschriften sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung angesichts der langen Verfahrensdauer oder der langjährigen Duldung des Aufenthaltes im Inland nicht mehr hinreichendes Gewicht haben, die Rückkehrentscheidung als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ erscheinen zu lassen (vgl.VfGH 12.06.2013, U485/2012 mHa VfSlg. 19.752/2013; EGMR 04.12.2012, Butt gegen Norwegen, Appl. 47017/09).
Auch nach der mündlichen Verhandlung kann zu keinem anderen Ergebnis – als jenem des BFA – gelangt werden.
So geht aus dem Akteninhalt nicht hervor, dass die BF selbsterhaltungsfähig wären bzw. ernsthafte und taugliche Bemühungen zur Herstellung der Selbsterhaltungsfähigkeit unternommen hätten. Dazu befragt gab der BF1 an, er habe trotz Führerschein keine Arbeit bekommen; er habe mit einem Freund darüber gesprochen und warte nun darauf, dass dieser was für ihn habe (VHS 1, S 14). In Anbetracht der mittlerweile sechsjährigen Aufenthaltsdauer des BF1 in Österreich ist festzuhalten, dass ein einmaliges Gespräch mit einem Freund nicht geeignet ist, den Arbeitswillen des BF1 erkennen zu lassen oder dass er überhaupt versucht habe, in Österreich eine Selbsterhaltungsfähigkeit zu erlangen. Auch negierte er jegliche karitative Tätigkeit oder ein gemeinnütziges Engagement. Gleiches gilt für die BF2. Zwar gab diese an, vor Corona drei Wochen lang in einem Seniorenheim gearbeitet zu haben, doch war sie nicht in der Lage, dafür eine Bestätigung beizubringen (VHS 1, S 5). Ihren Angaben zufolge habe sie sich dort coronabedingt keine Bestätigung abholen können, doch kann diesen Ausführungen schon deshalb nicht gefolgt werden, da auch eine Übermittlung per Post möglich gewesen wäre. Auch der BF2 ist daher jegliches Bemühen zur Herstellung der Selbsterhaltungsfähigkeit abzusprechen. Von einem ernsthaften Bemühen der BF kann in Anbetracht der sechsjährigen Aufenthaltsdauer jedenfalls nicht ausgegangen werden. Die BF sind auch kein Mitglied in einem Verein oder sonstigen Organisation und verfügen über keine Empfehlungsschreiben. Die BF haben bislang noch keine Deutschprüfung abgelegt und verfügen – trotz sechsjährigem Aufenthalt – über bloß rudimentäre Deutschkenntnisse, die für eine Verständigung im Alltag nicht ausreichen. Insgesamt ist von einer kaum vorhandenen bzw. jedenfalls weit unterdurchschnittlichen Integration der BF auszugehen, ihre diesbezüglichen Bemühungen sind als äußerst bescheiden bzw. nicht vorhanden anzusehen. Eine berücksichtigungswürdige Integration der BF in Österreich konnte nicht festgestellt werden und es besteht – trotz fast sechsjährigem Aufenthalt in Österreich und Familienmitgliedern in Österreich – keine derartige Verdichtung der persönlichen Interessen, dass den BF deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste. Vor allem vor dem Hintergrund, dass die BF nicht selbsterhaltungsfähig sind, kaum über Deutschkenntnisse verfügen und auch sonst keine nachhaltigen Integrationsschritte gesetzt haben, kann von einer verfestigten und gelungenen Eingliederung der BF in die österreichische Gesellschaft nicht ausgegangen werden. Im Fall der BF ist geradezu das Gegenteil der Fall.
Die BF verbrachten den weitaus überwiegenden Teil ihres Lebens in ihren Herkunftsländern, wurden dort sozialisiert und sprechen Arabisch auf muttersprachlichem Niveau. Beide BF gaben an, Kontakt mit Familienmitgliedern in ihren jeweiligen Herkunftsländern zu haben. Daher kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass bereits eine Entwurzelung vom jeweiligen Herkunftsstaat stattgefunden hat und ist – im Vergleich zu Österreich – von einer deutlich stärkeren Bindung der BF zu ihren Herkunftsländern auszugehen. Es deutet daher nichts darauf hin, dass es den BF im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren.
Das Privatleben der BF in Österreich ist dem mittlerweile sechsjährigen Aufenthalt in Österreich geschuldet und wird – wie bereits ausgeführt – dadurch relativiert, dass der Aufenthalt bloß aufgrund der vorläufigen Aufenthaltsberechtigung als Asylwerber rechtmäßig war. Insgesamt konnten zum Entscheidungszeitpunkt keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer verfestigten und gelungenen Eingliederung der BF in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht festgestellt werden. Auch der Umstand, dass sich Familienmitglieder des BF1 in Österreich aufhalten, fällt – mangels Schutzwürdigkeit des Familienlebens – nicht besonders stark ins Gewicht und ist insbesondere festzuhalten, dass sich weitere Familienmitglieder des BF1 (zwei Töchter samt Familien, VHS 1, S 18) im Irak aufhalten.
Die Feststellung der strafrechtlichen Unbescholtenheit der BF stellt der Judikatur folgend weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.01.1999, 98/18/0420).
Die BF vermochten daher zum Entscheidungszeitpunkt keine entscheidungserheblichen integrativen Anknüpfungspunkte im österreichischen Bundesgebiet dartun, welche zu einem Überwiegen der privaten Interessen der BF an einem Verbleib im österreichischen Bundesgebiet gegenüber den öffentlichen Interessen an ihrer Rückkehr in ihre Herkunftsstaaten führen könnte.
Die BF reisten nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet ein, was grds. als relevanter Verstoß gegen das Einwanderungsrecht in die Interessensabwägung einzubeziehen ist (vgl. zB. VwGH 25.02.2010, 2009/21/0165; 25.02.2010, 2009/21/0070).
Da ihnen weder der Status eines Asylberechtigten noch der eines subsidiär Schutzberechtigten zukommt, stellt die rechtswidrige Einreise (bei strafmündigen Personen) auch gegenständlich grds. eine Verwaltungsübertretung dar (vgl. § 120 Abs. 7 FPG).
Die BF legalisierten ihren Aufenthalt erst durch die Stellung der Anträge auf internationalen Schutz, die sich letztlich als unbegründet erwiesen.
Den bei Antragstellung volljährigen BF musste klar sein, dass der Aufenthalt in Österreich im Falle der Abweisung des Asylantrages nur ein vorübergehender ist.
Die Dauer des Asylverfahrens beträgt bislang 6 Jahre und war dies in erster Linie bedingt durch die Flüchtlingswelle der Jahre 2015 und 2016.
Zusammenfassend sprechen folgende Aspekte für eine bestehende Integration und ein schützenswertes Privatleben des BF: Aufenthaltsdauer, Familienmitglieder in Österreich.
Unter Abwägung der Interessen und in wertender Gesamtschau überwiegen allerdings folgende öffentlichen Interessen, die gegen einen Aufenthalt der BF in Österreich sprechen: illegale Einreise; unsicherer Aufenthalt; auf Asylrecht gegründeter Aufenthalt, der sich auf nicht glaubhaftes Vorbringen stützte, kein schutzwürdiges Familienleben zu den in Österreich aufhältigen Familienmitgliedern, trotz 6-jährigem Aufenthalt keine Selbsterhaltungsfähigkeit der BF, unterdurchschnittliche bzw. praktisch nicht vorhandene Integration der BF, kaum Deutschkenntnisse.
Der EGMR wiederholt in stRsp, dass es den Vertragsstaaten zukommt, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, insb. in Ausübung ihres Rechts nach anerkanntem internationalen Recht und vorbehaltlich ihrer vertraglichen Verpflichtungen, die Einreise und den Aufenthalt von Fremden zu regeln. Die Entscheidungen in diesem Bereich müssen insoweit, als sie in ein durch Art. 8 (1) EMRK geschütztes Recht eingreifen, in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, dh. durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und va. dem verfolgten legitimen Ziel gegenüber verhältnismäßig sein.
Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kommt den Normen, die die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regeln, aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Artikel 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu (VwGH 16.01.2001, Zl. 2000/18/0251, uva).
Ebenso wird durch die wirtschaftlichen Interessen an einer geordneten Zuwanderung und das nur für die Dauer des Asylverfahrens erteilte Aufenthaltsrecht, das fremdenpolizeiliche Maßnahmen nach (negativer) Beendigung des Asylverfahrens vorhersehbar erscheinen lässt, die Interessensabwägung anders als in jenen Fällen, in welchen der Fremde aufgrund eines nach den Bestimmungen des NAG erteilten Aufenthaltstitels aufenthaltsberechtigt war, zu Lasten des (abgelehnten) Asylsuchenden beeinflusst (vgl. Feßl/Holzschuster, AsylG 2005, Seite 348).
Die geordnete Zuwanderung von Fremden ist für die Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung und diese Wertung des Gesetzgebers geht auch aus dem Inhalt des Fremdenrechtspakets 2005 und den danach folgenden Novellierungen klar hervor. Demnach ist es gemäß den nun geltenden fremdenrechtlichen Bestimmungen für den Beschwerdeführer grundsätzlich nicht mehr möglich, seinen Aufenthalt vom Inland her auf Antrag zu legalisieren, da eine Erstantragsstellung für solche Fremde nur vom Ausland aus möglich ist. Im gegenständlichen Fall ist bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Sachverhalt ersichtlich, welcher die Annahme rechtfertigen würde, dass dem Beschwerdeführer gem. § 21 (2) und (3) NAG die Legalisierung seines Aufenthaltes vom Inland aus offensteht, sodass ihn mit rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens eine unbedingte Ausreiseverpflichtung trifft, zu deren Durchsetzung es einer Rückkehrentscheidung bedarf.
Könnte sich ein Fremder nunmehr in einer solchen Situation erfolgreich auf sein Privatleben berufen, würde dies darüber hinaus dazu führen, dass einwanderungswillige Fremde, welche die unbegründete bzw. rechtsmissbräuchliche Asylantragstellung, allenfalls in Verbindung mit einer illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet, in Kenntnis der Unbegründetheit bzw. Rechtsmissbräuchlichkeit des Antrages unterlassen und in rechtskonformer Art und Weise vom Ausland aus ihren Antrag auf Erteilung eines Einreise- bzw. Aufenthaltstitels stellen, sowie die Entscheidung auch dort abwarten, letztlich schlechter gestellt wären, als jene Fremde, welche, einer geordneten Zuwanderung widersprechend, genau zu diesen verpönten Mitteln greifen, um ohne jeden sonstigen anerkannten Rechtsgrund den Aufenthalt in Österreich zu erzwingen bzw. zu legalisieren. Dies würde in letzter Konsequenz wohl zu einer unsachlichen Differenzierung der einwanderungswilligen Fremden untereinander führen (vgl. Estoppel-Prinzip bzw. auch den allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen, VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007) und würde angesichts der Publizitätswirksamkeit der Asylentscheidungen wohl den Nachzieheffekt für andere einwanderungswillige Fremde in Richtung nicht rechtmäßiger Zuwanderung in Verbindung mit rechtsmißbräuchlicher, unbegründeter Asylantragstellung verstärken.
Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist daher davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts der BF im Bundesgebiet das persönliche Interesse der BF am Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen (und auch in der Beschwerde nicht vorgebracht worden), dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.
II.3.4.5. Mit der Rückkehrentscheidung ist gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG (vgl. VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0234).
Gemäß § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
Gemäß § 50 Abs. 2 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).
Gemäß § 50 Abs. 3 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
Die Zulässigkeit der Abschiebung der BF ist im gegenständlichen Fall gegeben, da nach den die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz tragenden Feststellungen keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergeben würde.
II.3.4.6. Die zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise der BF ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung stützte das BFA rechtskonform auf § 55 Abs. 2 erster Satz FPG. Von den BF wurden keine besonderen Umstände vorgebracht, die eine längere Frist erforderlich machen würden.
Daher ist die Beschwerde gegen Spruchpunkte III. bis IV. der angefochtenen Bescheide als unbegründet abzuweisen.
II.3.4.7. Anzumerken ist, dass die Vollziehung der Außerlandesbringung in die Zuständigkeit des BFA fällt und diesbezüglich die aktuellen Umstände (Corona-Pandemie) entsprechend zu berücksichtigen sind, wobei nochmals festgehalten wird, dass beide BF eine Corona-Erkrankung (ohne Langzeitfolgen) überstanden haben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
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