Normen
FrG 1997 §36 Abs1;
FrG 1997 §37 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FrG 1997 §36 Abs1;
FrG 1997 §37 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid erließ die belangte Behörde gegen den Beschwerdeführer, einen Staatsangehörigen von Bosnien-Herzegowina, gemäß § 36 Abs. 1 des Fremdengesetzes 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, ein auf zehn Jahre befristetes Aufenthaltsverbot.
Zur Begründung dieser Maßnahme führte sie im Wesentlichen aus: Der Beschwerdeführer sei am 18. Juni 2001 angezeigt worden, weil er eine Person gefährlich bedroht und auf einen in dieser Sache amtshandelnden Gendarmeriebeamten mit einem Fleischmesser eingestochen habe. Mit Beschluss des Landesgerichtes Korneuburg vom 20. August 2001 sei das Verfahren gemäß § 109 Abs. 1 StPO eingestellt worden. Die Einstellung sei aufgrund eines psychiatrischen Fachgutachtens erfolgt, in dem festgestellt worden sei, dass zum Tatzeitpunkt und wahrscheinlich bereits in einer längeren Zeitspanne davor beim Beschwerdeführer eine ausgeprägte akute paranoid-halluzinatorische psychotische Störung vermutlich im Sinn einer Alkoholparanoia bzw. Alkoholhalluzinose bestanden habe. Im Verhalten des Beschwerdeführers habe sich eine Persönlichkeitsstruktur manifestiert, aus der eine massive Bedrohung für Leib und Leben Dritter anzunehmen sei. Er stelle deshalb für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit, insbesondere für die körperliche Integrität anderer Personen, eine erhebliche Gefahr dar, die die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes rechtfertige. Aus dem im Strafverfahren eingeholten Gutachten sei ersichtlich, dass sich zwar während des Krankenhausaufenthaltes sein psychischer Zustand gebessert habe, jedoch sei angesichts der anhaltenden Kritiklosigkeit, mangelnden Verlässlichkeit und Schwierigkeiten der Alltagsbewältigung eine Alkoholabstinenz und regelmäßige Medikamenteneinnahme in Frage gestellt und ohne Begleitmaßnahmen und Kontrollen das Rückfallrisiko als nicht unerheblich eingestuft worden. Die festgestellten psychischen Störungen seien ohne Zweifel dem Rechtsbegriff einer höhergradigen geistigen oder seelischen Abartigkeit zuzuordnen. Die paranoide Natur der Störung führe zum krankhaften Gefühl der Bedrohung und zu Abwehrhandlungen gegen vermeintliche Angriffe. Außerhalb einer versorgenden und kontrollierenden Institution seien angesichts der mangelnden Kritikfähigkeit ein Alkoholrückfall und ein Absetzen der Medikamente höchstwahrscheinlich. Nur durch die derzeitige Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit könnten Alkoholkarenz und Medikamenteneinnahme sichergestellt werden. Daher müsse angenommen werden, dass bei Besserung der Pflegebedürftigkeit und Wiedererlangung der Mobilität sehr wohl ein Rückfall in die geübten Trinkgewohnheiten und damit eine psychische Störung mit fremdgefährlichen Handlungen auftreten würden. Deshalb sei es dringend erforderlich, den Beschwerdeführer unter Berücksichtigung des § 37 FrG und des Ermessensspielraumes nach § 36 Abs. 1 FrG zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit mit einem Aufenthaltsverbot zu belegen.
Für das Aufenthaltsverbot sei eine strafrechtliche Verurteilung nicht erforderlich. Ein Aufenthaltsverbot könne auch nur auf die Generalklausel des § 36 Abs. 1 FrG ohne Sondertatbestand des § 36 Abs. 2 FrG gestützt werden, wenn triftige Gründe vorliegen, die in ihrer Gesamtheit die in Abs. 1 umschriebene Annahme rechtfertigten.
Der Beschwerdeführer sei seit 4. April 1994 in Österreich aufhältig und habe bis einschließlich 31. März 2001 über befristete Aufenthaltsberechtigungen verfügt. Sein Antrag auf Verlängerung der Niederlassungsbewilligung sei offen. Seit ca. zwei bis drei Jahren habe er mit einer österreichischen Staatsangehörigen eine "Beziehung", sei jedoch nicht verheiratet und habe auch keine Kinder. Der mit dem Aufenthaltsverbot verbundene Eingriff in sein Privatleben sei zur Verhinderung von künftigen Angriffen gegen Leib und Leben dringend geboten. Die bisherigen Geschehnisse hätten gezeigt, dass wegen seines psychischen Gebrechens mit schwerstwiegenden Angriffen auf besonders wichtige "Rechtsschutzgüter" gerechnet werden müsse. Die optimale medikamentöse Behandlung könne von niemandem auch nur annähernd gewährleistet werden. Insofern sei der Beschwerdeführer als "nicht kalkulierbares Risiko" einzustufen. Deshalb komme seinen persönlichen Interessen im Sinn des § 37 FrG eindeutig weniger Gewicht zu. Unter Umständen müsste seine Lebensgefährtin ihn in sein Heimatland begleiten. Das Aufenthaltsverbot sei dringend geboten und es könne die "Kann-Bestimmung" des § 36 Abs. 1 FrG eindeutig nicht zu seinen Gunsten ausgelegt werden. Wegen des Persönlichkeitsprofils des Beschwerdeführers erscheine vor Ablauf von zehn Jahren ein Wegfall der Gefahren nicht anzunehmen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:
Gemäß § 36 Abs. 1 FrG kann gegen einen Fremden ein Aufenthaltsverbot erlassen werden, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass sein Aufenthalt die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit gefährdet (Z 1) oder anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen (diese Konventionsbestimmung nennt die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung, die Verhinderung von strafbaren Handlungen, den Schutz der Gesundheit und der Moral und den Schutz der Rechte und Freiheiten Anderer) zuwiderläuft (Z 2).
Bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die in § 36 Abs. 1 FrG umschriebene Annahme gerechtfertigt ist. Bei der Entscheidung, ein Aufenthaltsverbot zu erlassen, ist Ermessen zu üben, wobei die Behörde vor dem Hintergrund der gesamten Rechtsordnung auf alle für und gegen das Aufenthaltsverbot sprechenden Umstände Bedacht zu nehmen hat (vgl. das hg. Erkenntnis vom 26. April 2005, Zl. 2005/21/0044).
Die belangte Behörde ist in ihrer Ansicht im Recht, dass einem Aufenthaltsverbot nicht ein Verschulden des Fremden zugrunde liegen muss und auch ohne Verwirklichung eines Tatbestandes des § 36 Abs. 2 FrG verhängt werden kann (vgl. zum erstgenannten Gesichtspunkt das hg. Erkenntnis vom 8. Juli 2004, Zl. 2001/21/0119, und zum zweitgenannten Gesichtspunkt jenes vom 25. April 2003, Zl. 2003/21/0040). Es kann ihr auch nicht mit Erfolg entgegengetreten werden, dass vorliegend die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalles in einen Alkoholmissbrauch außerhalb einer versorgenden und kontrollierenden Institution nicht unbeträchtlich ist und neuerlich Abwehrhandlungen gegen vermeintliche Angriffe zu befürchten sind. Dies durfte die belangte Behörde aus dem psychiatrischen Gutachten vom 7. August 2001 ableiten, auch wenn der Sachverständige die Wahrscheinlichkeit zukünftiger störungsbedingter Straftaten aus psychiatrischer Sicht als eher gering einstufte. Letzteres wurde aber vor allem auf die (im Untersuchungszeitpunkt vorhandene) körperliche Hilflosigkeit, die Pflegebedürftigkeit, die erzwungene Alkoholkarenz und die fachkundige Beobachtung und Betreuung gestützt. Bei Wegfall dieser Umstände kann mit der belangten Behörde durchaus ein Rückfall befürchtet werden. Die Prognose nach § 36 Abs. 1 FrG stößt somit nicht auf Bedenken.
In seiner Stellungnahme vom 11. Oktober 2001 hat der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Verhältnissen angegeben, dass er während des Krieges in seinem Heimatland Bosnien eine schwere Traumatisierung erlitten habe. Daraus hätten sich die psychischen Probleme ergeben, die ihn bis heute begleiten würden. Es wäre "absurd und absolut menschenverachtend", ihn nun wieder der Situation auszusetzen, die seine Krankheit überhaupt erst ausgelöst habe, indem man ihn "nach Bosnien ausweist". Es sei wahrscheinlich, dass sich sein psychischer und allgemeiner gesundheitlicher Zustand in Bosnien stark verschlechtern könnte.
In seiner Berufung vom 8. November 2001 gegen den erstinstanzlichen Aufenthaltsverbotsbescheid hat der Beschwerdeführer weiters vorgebracht, es gebe in Bosnien niemanden, der für ihn sorgen könnte, was in seinem derzeitigen psychischen und körperlichen Zustand unzumutbar sei. Seine Familienangehörigen seien verstorben bzw. würden im Ausland leben, hingegen sei in Österreich seine Lebensgefährtin bereit, für die Medikamenteneinnahme und allgemein für ihn zu sorgen.
Mit diesem Vorbringen hat sich die belangte Behörde in keiner Weise auseinandergesetzt. Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom 22. Juni 2001, Zlen. 99/21/0096 und 0097, bereits ausgesprochen, dass bei der Abwägung der persönlichen Interessen des Fremden an einem Verbleib im Bundesgebiet mit dem öffentlichen Interesse an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auch dem Umstand Bedeutung zukommt, dass eine medizinische Behandlung in Österreich vorgenommen wird. Wenn für den Fremden keine Aussicht besteht, sich in seinem Heimatstaat oder einem anderen Land außerhalb Österreichs der für ihn notwendigen Behandlung unterziehen zu können, kann das - abhängig von den dann zu erwartenden Folgen - eine maßgebliche Verstärkung der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich darstellen (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 28. Juni 2000, Zl. 99/18/0175, vom 22. März 2002, Zl. 2002/21/0027, und vom 15. März 2005, Zl. 2002/21/0056). Der vorliegende Fall ist in dieser Hinsicht noch insoweit besonders gelagert, als nicht nur die Frage einer entsprechenden Behandlung des Beschwerdeführers in seinem Heimatstaat - unter der Annahme, dass eine Abschiebung nur dorthin möglich ist - zu beurteilen gewesen wäre, sondern eine solche Abschiebung in das Land, in dem die kriegerischen Vorgänge für die psychischen Probleme des Beschwerdeführers (nach seinem Vorbringen) ursächlich waren, krankheitsverschlechternd wirken könnte. Auch mit diesem - vom Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren angesprochenen - Aspekt hätte sich die belangte Behörde bei ihrer Interessenabwägung nach § 37 FrG auseinandersetzen müssen.
Aus diesen Gründen war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Die Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG unterbleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 11. Oktober 2005
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