BVwG L524 2105371-4

BVwGL524 2105371-48.9.2021

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §53
FPG §55

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2021:L524.2105371.4.00

 

Spruch:

 

L524 2105371-4/18E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Veronika SANGLHUBER LL.B. über die Beschwerde des XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Mag. Christian Hirsch, Hauptplatz 28, 2700 Wiener Neustadt, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.01.2021, Zl. 800904802-161560772, betreffend Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz und Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt befristetem Einreiseverbot, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.05.2021, zu Recht:

A) I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides zu lauten hat: „Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wird Ihr Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Ihren Herkunftsstaat Türkei abgewiesen.“.

III. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. und IV. wird als unbegründet abgewiesen.

IV. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte V. und VI. wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides zu lauten hat: „Es wird gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig ist.“ und die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt.

V. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass das Einreiseverbot auf die Dauer von acht (8) Jahren erhöht wird.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste am 28.09.2010 unrechtmäßig über den Flughafen Wien Schwechat in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte bei einem Grenzkontrollorgan einen ersten Antrag auf internationalen Schutz. Am 30.09.2010 erfolgte eine Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdiensts. Am 05.10.2010 und am 25.01.2011 waren die Einvernahmen vor dem Bundesasylamt (BAA) und am 12.08.2014 erfolgte eine weitere Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA).

Mit Bescheid des BFA vom 13.03.2015, Zl. 800904802/1302307, wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage eine Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.).

Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.10.2015 mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.11.2015, L502 2105371-1/14E, als unbegründet abgewiesen. Im Wesentlichen wurde ausgeführt, dass jener Vorfall, der ihm als Kind widerfahren sei, glaubhaft ist. Jenes Vorbringen hinsichtlich der Ereignisse nach seiner Rückkehr aus der Tschechischen Republik im April 2008 sei hingegen nicht glaubhaft. Diese Entscheidung erwuchs mit 18.11.2015 in Rechtskraft.

2. Am 08.02.2016 stellte der Beschwerdeführer einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz und wurde am selben Tag einer Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdiensts unterzogen. Am 24.03.2016 war die Einvernahme vor dem BFA.

Mit Bescheid des BFA vom 19.04.2016, Zl. 800904802/160196096, wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 61 Abs. 1 FPG wurde die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Beschwerde. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.06.2016, L502 2105371-2/8E, wurde die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. als unbegründet abgewiesen und Spruchpunkt II. ersatzlos aufgehoben, da die Voraussetzungen des § 61 FPG nicht erfüllt seien. Diese Entscheidung erwuchs mit 09.08.2016 in Rechtskraft.

3. Am 18.11.2016 stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen dritten Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag erfolgte eine Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdiensts. Am 12.12.2016, 02.02.2018, 26.02.2018 und 12.03.2018 waren die Einvernahmen vor dem BFA.

Mit Bescheid des BFA vom 10.07.2018, Zl. 800904802/161560772 EAST Ost, wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkte I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gem. § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt V.) Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 FPG werde gegen den Beschwerdeführer ein für die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde. Dieser wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.08.2018, L524 2105371-3/3E, stattgegeben und der angefochtene Bescheid gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG behoben.

Am 28.10.2019 wurde der Beschwerdeführer vor dem BFA einvernommen. In den folgenden 15 Monaten setzte das BFA – bis zur Erlassung des Bescheides – keine einzige weitere Verfahrenshandlung.

Mit Bescheid des BFA vom 29.01.2021, Zl. 800904802/161560772, wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat des Beschwerdeführers abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG „nach“ [!] zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 FPG werde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde.

Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde am 03.05.2021 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, an der nur der Beschwerdeführer als Partei teilnahm. Das BFA entsandte keinen Vertreter.

II. Feststellungen:

Der 33jährige Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger, Kurde und sunnitischer Moslem. Der Beschwerdeführer wurde im Landkreis XXXX in der südostanatolischen Provinz Şırnak geboren und wuchs dort auf.

Der Beschwerdeführer verließ die Türkei erstmals im Jahr 2007 und gelangte dabei über die Tschechische Republik, wo er am 31.10.2007 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte, in die Bundesrepublik Deutschland. Von dort wurde er im Jänner 2008 wieder in die Tschechische Republik überstellt, von wo er im April 2008 freiwillig in die Türkei zurückkehrte. Danach hielt er sich, abgesehen von kurzfristigen Besuchen des Heimatdorfs, überwiegend in Istanbul auf, wo er bei einem Onkel und seinem älteren Bruder wohnhaft und im Unternehmen dieses Onkels als Buchhalter tätig war.

Der Beschwerdeführer verließ die Türkei erneut am 28.09.2010 ausgehend von Istanbul auf dem Luftweg unter Verwendung seines eigenen türkischen Reisepasses und eines Visums für die Russische Föderation und flog nach Wien, wo er am selben Tag im Zuge der Grenzkontrolle am Flughafen Wien einen Antrag auf internationalen Schutz stellte, den das BFA mit Bescheid vom 13.03.2015 sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten abwies. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und sprach die Zulässigkeit der Abschiebung in die Türkei aus. Die gegen den Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 17.11.2015 zur Gänze als unbegründet ab.

Der Beschwerdeführer verblieb weiterhin im österreichischen Bundesgebiet und stellte am 08.02.2016 einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, den das BFA mit Bescheid vom 19.04.2016 wegen entschiedener Sache zurückwies (Spruchpunkt I.). Des Weiteren ordnete die belangte Behörde die Außerlandesbringung an und stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt II.). Die gegen den Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 24.06.2016 bezüglich Spruchpunkt I. als unbegründet ab. Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides behob das Bundesverwaltungsgericht ersatzlos.

Der Beschwerdeführer verblieb im Anschluss weiterhin im österreichischen Bundesgebiet und stellte am 18.11.2016 den gegenständlichen dritten Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.

Der im Jahr XXXX geborene Beschwerdeführer wurde im Jahr XXXX als dreijähriges Kind indirektes Opfer der im Zeitraum zwischen 1990 und 1993 erfolgten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Freiheitskämpfern in seinem Heimatdorf im äußersten Osten der Türkei. Er erlitt, ausgehend von der Misshandlung seiner Mutter durch türkische Militärs, durch einen Sturz auf den Boden eine schwere Verletzung des linken Armes in Form eines Knochenbruchs.

Der Beschwerdeführer fühlt sich aufgrund dieser Ereignisse sowie allfälligen weiteren Erfahrungen in ähnlicher Form in der engeren Heimat im oben angesprochenen Zeitraum durch die türkischen Behörden schikaniert und entstand damals eine grundsätzliche Abneigung gegenüber türkischen Behördenvertretern bzw. insbesondere Sicherheitskräften.

Der vom Beschwerdeführer ansonsten vorgebrachte Fluchtgrund, dass er unmittelbar nach der Ankunft am Flughafen nach seiner Rückkehr im April 2008 Opfer sicherheitsbehördlicher Maßnahmen in Form einer mehrtägigen Anhaltung, verbunden mit gewaltsamen Übergriffen in Form von Schlägen sowie mit verbalen Erniedrigungen geworden und er in der Folge auch einem Staatsanwalt/ Gericht vorgeführt worden sei, das Haus der Familie vor einigen Jahren durch türkische Militärangehörige zerstört worden sei, er bzw. seine Familie Sympathisanten der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê [PKK]) gewesen sei(en), er an Demonstrationen für die kurdischen Belange teilgenommen habe, sein Vater und mehrere Brüder im Jahr 2017 aufgrund seiner bzw. deren politischen Gesinnung und Volksgruppenzugehörigkeit inhaftiert und insbesondere sein Vater während der Haft erniedrigt und gefoltert worden seien und auch er im Gefolge einer Rückkehr von türkischen Sicherheitskräften aus diesem Grunde festgenommen, inhaftiert, gefoltert oder gar getötet werden würde, wird der Entscheidung mangels Glaubhaftigkeit nicht zugrunde gelegt.

Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner ersten Antragstellung in Österreich durchgehend im Bundesgebiet auf.

Der Beschwerdeführer verfügte – außerhalb des bloß vorübergehenden Aufenthaltsrechts im Rahmen seiner Asylverfahren – nie über einen Aufenthalts- und/oder Niederlassungstitel für Österreich.

Der Beschwerdeführer besuchte in der Türkei drei Jahre die Grundschule, fünf Jahre die Hauptschule und ein Jahr ein Lyzeum, welches er vorzeitig ohne Abschluss beendete. Er spricht Türkisch und Kurmandschi (Nordkurdisch) und in geringem Ausmaß Englisch.

In der Türkei leben die Eltern, mehrere Schwestern und Brüder, Tanten, Onkel sowie Cousins. Der Aufenthaltsort seiner in der Türkei lebenden Brüder kann nicht festgestellt werden. Abgesehen von einem Onkel wohnen seine Eltern, Schwestern, Tanten und Onkel weiterhin in der südostanatolischen Provinz Şırnak. Seine Familie betreibt in der Heimatregion eine kleine Landwirtschaft. Der in Istanbul aufhältige Onkel mütterlicherseits betreibt dort ein Bekleidungsunternehmen. Mit Letzterem steht der Beschwerdeführer regelmäßig in Kontakt. Dass aktuell der Kontakt des Beschwerdeführers zu sämtlichen anderen Familienangehörigen abgebrochen ist, kann nicht festgestellt werden.

Auf Grund einer in der Kindheit erlittenen, jedoch medizinisch nicht adäquat versorgten Verletzung des linken Oberarms ist der Beschwerdeführer in diesem Bereich in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt, er vermag mit dem linken Arm nur sehr leichte Lasten zu bewegen. Die bereits im Jahr 2006 in der Türkei behördlich festgestellte Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von 55 % wurde in Österreich im Jahr 2011 im Ausmaß von 80 % festgestellt. Nach der Entfernung der Schilddrüse steht der Beschwerdeführer zudem in medikamentöser Behandlung. Anderweitige maßgebliche gesundheitliche Einschränkungen waren nicht feststellbar. Er befindet sich in einem – eingeschränkt – arbeitsfähigen Zustand und Alter. Er gehört keiner Risikogruppe für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung an.

Der Beschwerdeführer hat zwar Deutschkurse besucht, aber bislang keine Deutschprüfung erfolgreich abgelegt. Der Beschwerdeführer verfügt auf Grund seines mehrjährigen Aufenthalts und durch den Besuch der Deutschkurse mittlerweile dennoch über hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache für den Alltagsgebrauch.

Der Beschwerdeführer geht im Bundesgebiet weder ehrenamtlicher/gemeinnütziger Arbeit noch legaler Erwerbsarbeit nach. Er bezog von 05.10.2010 bis 04.03.2011, von 31.03.2011 bis 02.05.2012 und von 27.09.2015 bis 28.09.2015 Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Im Zuge der zuletzt verbüßten Strafhaft absolvierte der Beschwerdeführer eine berufliche Ausbildung zum Gärtner und erwarb im Zeitraum von 04.07.2017 bis 11.02.2021 Versicherungszeiten gemäß § 66a AlVG. Seit 16.06.2021 bezieht er (voraussichtlich bis 11.01.2022) Arbeitslosengeld in der Höhe von täglich Euro 26,62 und ist seit 02.06.2021 auch erneut bei der staatlichen Grundversorgung gemeldet. Ferner wurde der Beschwerdeführer bzw. wird er von seinen Verwandten in der Türkei finanziell unterstützt. Der Beschwerdeführer verfügt über keine Einstellungszusage.

Der Beschwerdeführer ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation in Österreich.

Der Beschwerdeführer pflegt normale soziale Kontakte. Er verfügt hier über einen Freundes- und Bekanntenkreis, dem auch österreichische Staatsangehörige bzw. in Österreich dauerhaft aufenthaltsberechtigte Personen angehören. Der Beschwerdeführer legte im gegenständlichen Verfahren keine Unterstützungserklärungen seiner Freunde und Bekannten vor.

Der Beschwerdeführer ist seit 06.09.2011 geschieden und kinderlos. Der Beschwerdeführer hat keine Verwandten in Österreich. Er führt seit etwa Mitte März 2021 eine Beziehung mit einer Frau. Ein Bruder und ein Cousin des Beschwerdeführers leben in der Bundesrepublik Deutschland, ein Onkel väterlicherseits in Frankreich und eine Tante mütterlicherseits in der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Es besteht kein ein- oder wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Personen.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 30.10.2013, XXXX , wegen des Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs. 1, Abs. 3 und Abs. 4 erster Fall FPG zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt. Ein Teil der Freiheitsstrafe von 16 Monaten wurde bedingt nachgesehen, wobei die Probezeit mit drei Jahren bestimmt wurde und die bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe schließlich widerrufen wurde. Dieser Verurteilung lag folgender Sachverhalt zu Grunde:

Der Beschwerdeführer hat zwischen März und Juni 2013 als Mitglied einer kriminellen Vereinigung im Auftrag unterschiedlicher Schlepperorganisatoren in 29 Fällen jeweils zwischen ein und zwölf türkische, syrische bzw. albanische Staatsangehörige nach Wien, Italien, Deutschland, Norwegen, Dänemark, Frankreich bzw. zum Flughafen Wien bringen lassen bzw. zu bringen versucht sowie in Hotels untergebracht, um sie danach an andere Orte zu bringen. Außerdem haben die Mittäter des Beschwerdeführers im Auftrag des Beschwerdeführers fremde Staatsangehörige nach Deutschland oder Italien gebracht bzw. zu bringen versucht. Die Mittäter haben dem Beschwerdeführer Fahrer für die Schlepperfahrten angeboten, ein Konto für die Überweisung des Schlepperentgelts dem Beschwerdeführer zur Verfügung gestellt und wurden vom Beschwerdeführer für Schlepperfahrten bezahlt.

Bei der Strafzumessung wurden als mildernd das Geständnis, der darüberhinausgehende Beitrag zur Wahrheitsfindung und der bisherige ordentliche Lebenswandel, als erschwerend die über die Gewerbsmäßigkeit hinausgehende Vielzahl der Angriffe berücksichtigt.

Der Beschwerdeführer wurde nach Erhebung einer Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts XXXX vom 14.11.2016, XXXX , mit Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 04.07.2017, XXXX , wegen des Vergehens der Verleumdung nach § 297 Abs. 1 erster Fall StGB und des Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs. 1, Abs. 3 Z 1 und 2, Abs. 4 erster Fall FPG zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Dieser Verurteilung lag folgender Sachverhalt zu Grunde:

Der Beschwerdeführer hat sich Anfang 2015 einer kriminellen Vereinigung von zumindest zehn Personen angeschlossen. Dieser Zusammenschluss war auf eine Dauer von mehreren Jahren angelegt. Der Beschwerdeführer hat Schlepperaufträge von zwei führenden Mitglieder der Vereinigung und von zwei weiteren Personen erhalten. Der Beschwerdeführer erhielt pro geschleppte Person zumindest € 100, (bei einer Schlepperfahrt) bzw. zumindest € 350, (bei einem Schlepperflug). Die Schleppungen wurden teilweise zwischen Wien und Deutschland, teilweise zwischen Budapest und Deutschland sowie im Falle von Flugschleppungen von Wien nach Berlin und von Wien nach Barcelona durchgeführt. Die Schlepperfahrten und Schlepperflüge organisierte und führte der Beschwerdeführer teilweise auch selbst durch, hinsichtlich einer Anzahl von zumindest 100 Fremden.

Weiters tätigte der Beschwerdeführer in der Hauptverhandlung zu AZ XXXX die Aussage, ein Polizeibeamter, der ihn im Ermittlungsverfahren vernommen habe, habe ihn geschlagen und eingeschüchtert, um von ihm eine belastende Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um ihn für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihm oder einem Drittenbegangene Tat zu bestrafen. Der Beschwerdeführer hat diesen Polizeibeamten damit der Gefahr einer behördlichen Verfolgung ausgesetzt.

Insgesamt berücksichtigte der Oberste Gerichtshof bei der Strafneubemessung als erschwerend das Zusammentreffen mehrerer Verbrechen mit einem Vergehen, die auf gleicher schädlicher Neigung beruhende Vorstrafe, die Tatbegehung während offener Probezeiten, den langen Tatzeitraum und die zusätzliche Erfüllung der nicht den Strafrahmen bestimmenden Qualifikationen nach § 114 Abs. 2 Z 1 und 2 FPG, als mildernd hingegen keinen Umstand.

Der Beschwerdeführer wurde nach Erhebung einer Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts XXXX vom 25.04.2017, XXXX , mit Urteil des Oberlandesgerichts XXXX vom 30.08.2017, XXXX , wegen des Verbrechens des versuchten Missbrauchs der Amtsgewalt nach §§ 15, 12 zweiter Fall, 302 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Dieser Verurteilung lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Beschwerdeführer hat am 21.12.2016 in der Justizanstalt XXXX einen Justizwachebeamten gebeten, dem Beschwerdeführer ein Mobiltelefon zu besorgen.

Bei der Strafzumessung wurde die Tatbegehung während Verbüßung einer Haftstrafe, der äußerst rasche Rückfall nur rund einen Monat nach der zuletzt erfolgten Verurteilung, die neuerliche Delinquenz während offener Probezeit zur bedingten Entlassung gewertet sowie die Unbeeindrucktheit des Beschwerdeführers gegenüber bereits erfahrener, zeitnah gelegener staatlicher Reaktion auf strafbares Handeln. Als mildernd wurde gewertet, dass es beim Versuch geblieben ist.

Der Beschwerdeführer befand sich von 12.06.2013 bis 06.12.2013 und von 10.05.2016 bis 12.02.2021 in Haft. Am 12.02.2021 wurde der Beschwerdeführer bedingt aus der Haft entlassen, wobei die Probezeit mit drei Jahren bestimmt und Bewährungshilfe angeordnet wurde.

Zur Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:

COVID-19

Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (FNS 16.3.2020; vgl. DS 11.3.2020). Mit Jahresende 2020 wurden 2,18 Mio. Corona-Fälle und rund 21.000 Tote in der Türkei verzeichnet (JHU 30.12.2020).

Am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Fahrettin Koca, dass nunmehr alle positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik aufgenommen werden. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020). Das kam für den türkischen Ärzteverband nicht überraschend, der seit Monaten davor warnt, dass die bisherigen Zahlen der Regierung das Ausmaß der Ausbreitung verschleiern und dass der Mangel an Transparenz zu dem Anstieg beiträgt. Der Ärzteverband behauptet, dass die Zahlen des Ministeriums immer noch zu niedrig seien, verglichen mit ihrer eigenen Schätzung von mindestens 50.000 neuen Infektionen pro Tag. Die Krankenhäuser des Landes sind laut der Vorsitzenden des Ärzteverbandes, Sebnem Korur Fincanci, überlastet, das medizinische Personal ist ausgebrannt und die Contract-Tracer, die einst dafür bekannt waren, den Ausbruch unter Kontrolle zu halten, haben Schwierigkeiten, die Übertragungen zu verfolgen (AP 29.11.2020).

Beginnend mit 1.12.2020 ist ein Lockdown in Kraft getreten, welcher Ausgangssperren unter der Woche von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr umfasst. An den Wochenenden herrschte eine totale Ausgangssperre von Freitag 21.00 Uhr bis Montag 5.00 Uhr. An allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, gilt Maskenpflicht. Auf öffentlichen Plätzen wurde ein Rauchverbot auch im Freien eingeführt. Das Verbot zur Durchführung von öffentlichen Veranstaltungen durch staatliche und staatsnahe Organisationen sowie von Verbänden bleibt aufrecht. Sportveranstaltungen werden ohne Zuschauer durchgeführt. An Beerdigungen und Hochzeiten dürfen maximal 30 Personen teilnehmen. Feiern und Zusammenkünfte in häuslicher Umgebung sind untersagt. Gastronomische Einrichtungen bleiben tagsüber nur für Lieferservice geöffnet. Einkaufszentren und Lebensmittelgeschäfte dürfen nur zwischen 10.00 Uhr und 20.00 Uhr geöffnet haben. Beim Betreten von Einkaufszentren wird der sogenannten HES (Hayat Eve Sigar) - Code verlangt, ein behördlich verliehener elektronischer Schlüssel, mittels welchem der momentane Status der jeweiligen Person in Hinblick auf Corona verfolgt und überprüft werden kann. Er dient z.B. als Zutrittsvoraussetzung zu Ämtern oder eben Einkaufszentren. Beginnend mit 5.11.2020 müssen kulturelle Einrichtungen, wie Theater, ab 22.00 Uhr geschlossen sein. Kinos bleiben bis auf weiteres geschlossen. Alle Schulen inklusive Vorschulen

sind geschlossen und werden bis auf weiteres nur mehr im Fernunterricht fortgeführt. Jugendliche unter 20 Jahren dürfen nur zwischen 13.00 Uhr und 16.00 Uhr die Wohnung verlassen. Die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln ist Ihnen untersagt. Ältere Menschen über 65 Jahre dürfen tagsüber nur während bestimmter Uhrzeiten (10.00 Uhr – 13.00 Uhr) die Wohnungen verlassen. Auch für diese Personengruppe ist die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln verboten (WKO 21.1.2021).

Ab 28.12.2020 müssen alle Personen, die mit dem Flugzeug in die Türkei reisen, einen Nachweis erbringen, dass sie innerhalb von 72 Stunden vor der Einreise mit einem PCR-Test negativ auf COVID-19 getestet wurden. Einreisende ohne einen negativen Test müssen entweder an ihrer gemeldeten Adresse in der Türkei oder in einer von der Regierung bezeichneten Einrichtung in Quarantäne gehen. Alle Personen, die über die Land- oder Seegrenzen in die Türkei einreisen, unterliegen ab dem 30.12.2020 den gleichen Anforderungen. Die Richtlinie wird mindestens bis zum 1.3.2021 in Kraft bleiben (Garda World 25.12.2020).

Am 30.12.2020 wurde das bis 17.1.2021 gültige Entlassungsverbot per Präsidialdekret um weitere zwei Monate verlängert (Hürriyet 30.12.2020).

In der zweiten Jänner-Woche 2021 ist mit den Impfungen begonnen worden. Zum Einsatz kommt das chinesische Vakzin der Firma Sinovac, dem am 13.1.2021 nach einem Eilverfahren eine Notzulassung erteilt wurde. Die Prüfung sei noch nicht abgeschlossen, sie werde parallel zur Impfkampagne fortgesetzt, teilten die Behörden mit. Prioritär werden die 1,1 Mio. Mitarbeiter des Gesundheitswesens sowie Menschen über 65 Jahren geimpft. Laut dem Generalsekretär der Ärztevereinigung werde die landesweite Impfkampagne voraussichtlich im Juli 2021 angeschlossen werden. Bei Lieferverzögerungen könne sie auch bis Dezember dauern. Türkische Mediziner haben infolge der Ergebnisse in Brasilien und Indonesien ihre Zweifel an der Wirksamkeit des Impfstoffs geäußert. Die türkische Rechtsmedizinerin und Vorsitzende der Ärztevereinigung Sebnem Korur Fincanci sagte, die Sicherheit des Impfstoffs stehe jedoch außer Frage und appellierte, sich impfen zu lassen. Als Folge der intransparenten Politik will sich allerdings nur jeder zweite impfen lassen (FAZ 14.1.2021).

 

Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 24.8.2020; vgl. DFAT 10.9.2020), wobei das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft wurde (DFAT 10.9.2020; vgl. bpb 9.7.2018).

Die Verfassungsarchitektur ist weiterhin von einer fortschreitenden Zentralisierung der Befugnisse im Bereich des Präsidentenamtes geprägt, ohne eine solide und wirksame Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu gewährleisten. Da es keinen wirksamen Kontroll- und Ausgleichsmechanismus gibt, bleibt die demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive auf Wahlen beschränkt. Unter diesen Bedingungen setzten sich die gravierenden Rückschritte bei der Achtung demokratischer Normen, der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten fort. Die politische Polarisierung verhindert einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die parlamentarische Kontrolle über die Exekutive bleibt schwach. Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht gesenkt. Die unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror- Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative İyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem (damals noch) geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von

nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt

ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31.3.2019 hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, mit einem Vorsprung von nur 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). İmamoğlu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yıldırım, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für İmamoğlu betonte (NZZ 23.6.2019).

Die Gesetzgebungsverfahren sind nicht effektiv. Präsidialdekrete bleiben der parlamentarischen Beratung und Kontrolle entzogen (EC 6.10.2020; vgl. ÖB 10.2020). Präsidialdekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 10.2020). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsident und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialdekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments, nichtsdestotrotz hat der Präsident bis Dezember 2019 53 Dekrete erlassen, die ein breites Spektrum sozioökonomischer Politikbereiche abdecken und eben nicht in den Geltungsbereich von Präsidialdekreten fallen (EC 6.10.2020). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialdekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialdekreten beantragen kann (EC 29.5.2019).

Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft (Stand Ende Dezember 2020), im Falle von Selahattin Demirtaş trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020). Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsfreiheit von gewählten Amtsträgern außerhalb des Parlaments einschränkt, bleiben ungelöst (EC 6.10.2020).

Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 6.10.2020). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie „die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören“, bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt auch im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018). Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands verhaftet und mehr als 78.000 aufgrund Vorwürfen mit Terrorismusbezug festgenommen (EC 29.5.2019).

Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von „Treuhändern“ anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020). Mit Stand Oktober 2020 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister, hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblich Verbindungen zu terroristischen Organisationen hatten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 6.10.2020; vgl. bianet 2.10.2020). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Da keine Anklage erhoben wurde, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020).

 

Sicherheitslage

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren

Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020).

Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie der linksextremistischen DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die „Terrorbekämpfung“ und die Sicherung „nationaler Interessen“ hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht. Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihre Ableger, den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (AA 24.8.2020; vgl. SD 29.6.2016, AJ 12.12.2016).

Die Lage im Südosten des Landes ist weiterhin sehr besorgniserregend (EC 6.10.2020). Dort sind die Spannungen besonders groß und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen (EDA 28.12.2020). Die Regierung setzte die inneren und grenzüberschreitenden Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und in Syrien sowie innerhalb des Landes fort (USDOS 24.6.2020; vgl. EC 6.10.2020). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 6.10.2020). In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen (EDA 28.12.2020).

Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) kamen 2019 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 440 Personen ums Leben, davon 98 Angehörige der Sicherheitskräfte, 324 bewaffnete Militante und 18 Zivilisten (İHD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (İHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (İHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (İHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe fast 5.200 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis 10.12.2020. Im Jahr 2020 wurden bis zum 10.12.2020 311 Opfer registriert. Besonders hoch waren die Zahlen in den Monaten Mai bis September 2020 (ICG 20.12.2020). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 6.10.2020).

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 8.10.2020). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbakır, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, Şırnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep,

Şanlıurfa, Diyarbakır, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Muş, Tunceli, Şırnak, Hakkâri undVan besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von

Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbakır und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und A rı (AA 28.12.2020a).

Das türkische Parlament stimmte (mit Ausnahme der pro-kurdischen HDP) am 7.10.2020 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen sowohl im Irak als auch in Syrien um ein weiteres Jahr zu verlängern (BAMF 19.10.2020).

Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 28.12.2020).

 

Gülen- oder Hizmet-Bewegung

Fethullah Gülen, muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war, wird von seinen Gegnern als Bedrohung der staatlichen Ordnung betrachtet (Dohrn 27.2.2017). Während Gülen von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet wird, der einen toleranten Islam fördert, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt (BBC 21.7.2016), und als leidenschaftlicher Befürworter des interreligiösen und interkulturellen Austauschs dargestellt wird, beschreiben Kritiker Gülen als islamistischen Ideologen, der über ein strikt organisiertes Wirtschafts- und Medienimperium regiert und dessen Bewegung den Sturz der säkularen Ordnung der Türkei anstrebt (Dohrn 27.2.2017). Vor dem Putschversuch vom Juli 2016 schätzten internationale Beobachter die Zahl der Gülen-Mitglieder in der Türkei auf mehrere Millionen (DFAT 10.9.2020).

Erdoğan stand Gülen jahrzehntelang nahe. Beide hatten bis vor einigen Jahren ähnliche Ziele:

die politische Macht des Militärs zurückzudrängen und den frommen Anatoliern zum gesellschaftlichen Aufstieg zu verhelfen (HZ 20.7.2016). Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den säkularen, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel, die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 25.7.2016). Gülen-Anhänger hatten viele Positionen im türkischen Staatsapparat inne, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzten, und welche die regierende AKP tolerierte (DW 13.7.2018). Erdoğan nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016). Das Bündnis zwischen Erdoğan und Gülen begann aufzuweichen, als die Gülenisten in Polizei und Justiz zu unabhängig wurden. Das Klima verschärfte sich, als Gülen selbst Erdoğan für seinen Umgang mit den Protesten im Gezi-Park im Jahr 2013 kritisierte. Im Dezember 2013 kam es zum offenen politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als Gülen-nahe Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie des damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen (AA 24.8.2020). Erdoğan beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren, und Untersuchungen zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 25.7.2016). Seitdem wirft die Regierung Gülen und seiner Bewegung vor, die staatlichen Strukturen an sich unterwandert zu haben (AA 24.8.2020). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014) und begann schon seit Ende 2013 darüber hinaus, in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen zu suspendieren, zu versetzen, zu entlassen oder anzuklagen. Die Regierung hat ferner, unter dem Vorwand der Unterstützung der Gülen-Bewegung, Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken sowie andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet (AA 24.8.2020).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 einen Haftbefehl gegen Fethullah Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Türkische Sicherheitskräfte waren landesweit mit einer Großrazzia gegen Journalisten und angebliche Regierungsgegner bei der Polizei vorgegangen (DW 14.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdoğan, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016).Im Juni 2017 definierte das Oberste Berufungsgericht (auch Appellationsgericht genannt), i.e. das Kassationsgericht (türk. Yargıtay), die Gülen- Bewegung als terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 2.2018; vgl. Sabah 17.6.2017).

Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als „Fetullahçı Terör Örgütü – (FETÖ)“, „Fetullahistische Terror Organisatio“, tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung „Devlet Yapılanması (PDY)“, die „Parallele Staatsstruktur“ bedeutet (UKHO 2.2018; vgl. AA 24.8.2020). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017; vgl. Presse 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).

Im Zuge der massiven Verfolgung nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden - die Zahlen variieren - über 20.300 Armeeangehörige, darunter 150 der 326 Generäle und Admirale, 4.145 Richter und Staatsanwälte, mehr als 33.000 Polizeibeamte und mehr als 5.000 Akademiker entlassen. Über 540.000 Personen wurden (zeitweise) festgenommen. Über 160 Medien, mehr als 1.000 Bildungseinrichtungen und fast 2.000 NGOs wurden ohne ordentliches Verfahren geschlossen (SCF 5.10.2020). 150.000 öffentlich Bedienstete wurden entlassen (EC 6.10.2020; vgl. SCF 5.10.2020).

Nach Angaben des türkischen Justizministeriums und des Innenministeriums wurden seit 2016

gegen ca. 500.000 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet. Über 30.000 mutmaßliche Gülen- Mitglieder verbüßen entweder eine rechtskräftige Haftstrafe oder befinden sich in Untersuchungshaft (AA 24.8.2020). Nach einer Mitteilung des Innenministeriums an den türkischsprachigen Dienst der BBC waren mit Stand Mitte Februar 2020 noch 26.862 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert (TM 21.2.2020).

Laut Staatspräsident Erdoğan sind die staatlichen Institutionen noch nicht vollständig von Mitgliedern der „FETÖ“ befreit (Ahval 10.4.2019). Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung dauert an (ÖB 10.2020; vgl. AA 24.8.2020, EC 6.10.2020). Zwar

wurde der größte Teil der Gülen-Aktivisten verhaftet und verurteilt, doch kommt es weiterhin zu Festnahmen, insbesondere unter Lehrkräften, Soldaten und Polizisten (ÖB 10.2020). Verhaftungen von vermeintlichen Gülen-Mitgliedern, wie beispielsweise auf der Informationsplattform NewTurkey aufgelistet, finden im Schnitt wöchentlich statt, wobei es mehrere größere Verhaftungswellen gab (NewTurkey 21.10.2020). Mitte Jänner 2020 erließen die Behörden Haftbefehle gegen 237 Personen. Im Zuge von Polizeioperationen in 49 Provinzen wurden mindestens 203 Verdächtige festgenommen (DS 14.1.2020). Anfang März 2020 wurden Haftbefehle gegen 115 Verdächtige in mehreren Städten erlassen. Betroffen waren Lehrer, Geschäftsleute, Anwälte sowie ehemalige Polizisten (TM 4.3.2020). Während mehrtägiger landesweiter Großrazzien wurden in den ersten Juni-Tagen des Jahres 2020 rund 160 Menschen, größtenteils Militärs wegen vermeintlicher Verbindungen zum Putschversuch von 2016 verhaftet (DW 8.6.2020; vgl. DS 16.6.2020, ZO 9.6.2020). Ende August 2020 vermeldeten die Behörden die Festnahme von über hundert weiteren vermeintlichen Gülen-Mitgliedern (DS 1.9.2020). Während in der zweiten September-Hälfte wieder Militärangehörige, diesmal über 90, verhaftet wurden (DS 20.9.2020), nahmen die Sicherheitsorgane Anfang desselben Monats auch 30 Studentinnen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung fest (TM 3.9.2020) sowie zwei Wochen später 47 Rechtsanwälte, weil diese angeblich durch ihre Rechtsberatung Gülen-Mitglieder unterstützt hätten (AM 16.9.2020). Der Oktober 2020 verzeichnete mehrere Operationen, bei denen vermeintliche Gülen-Anhänger festgenommen wurden. Die größte war Mitte des Monats. Bei der Suche nach 167 Verdächtigen nahm die Polizei am 13.10.2020 in zwei Operationen in insgesamt 41 Provinzen 142 Personen fest. Betroffen waren insbesondere die Luftwaffe und die Küstenwache (CNN 13.10.2020; vgl. DS 13.10.2020). Anfang Dezember 2020 wurden landesweit, insbesondere in Izmir, fast 150 Offiziere von Polizei und Armee festgenommen (DS 1.12.2020), eine Woche später gefolgt von mindestens 266 Festnahmen von Armee-Angehörigen auf der Basis von fast 400 Haftbefehlen in 50 Provinzen (Anadolu 8.12.2020).

Mit Stand November 2020 waren insgesamt 4.154 Putschverdächtige verurteilt, davon über 2.500 zu schweren oder lebenslangen Haftstrafen in 279 Prozessen bei zehn noch ausständigen (DS 26.11.2020). Ende Juni 2020 verurteile ein Gericht in Ankara von 245 Angeklagten im Zusammenhang mit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 121 von ihnen zu lebenslangen Haftstrafen. 86 Angeklagte erhielten eine lebenslange Haftstrafe unter verschärften Haftbedingungen, 35 weitere Angeklagte wurden zu einer regulären lebenslangen Haftstrafe verurteilt (DW 26.6.2020; vgl. MEE 26.6.2020). Am 26.11.2020 endete der bislang größte Prozess gegen 475 vermeintliche Gülen-Mitglieder, denen eine direkte Teilnahme am Putschversuch vorgeworfen wurde. 337 Angeklagte wurden unter anderem wegen „Umsturzversuchs“, „Attentats auf den Präsidenten“ und „vorsätzlicher Tötung“ zu lebenslangen Haftstrafen, in der Mehrheit zu verschärften Bedingungen, verurteilt. Ein kleinerer Teil erhielt kürzere Haftstrafen. 75 Personen wurden freigesprochen (FAZ 26.11.2020; DS 26.11.2020). Am 30.12.2020 erfolgten die Urteile im letzten Massenprozess gegen Gülen-Mitglieder des Jahres 2020. Von 132 Angeklagten wurden 92 zu lebenslangen Haftstrafen, darunter 12 unter verschärften Bedingungen, wegen ihrer Aktivitäten als Mitglieder der Armee im Zuge des Putschversuches verurteilt. 22 Menschen erhielten wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zwischen zwölfeinhalb und 19 Jahren Gefängnis. Weitere Urteile ergingen wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und wegen versuchten Mordes. Neun Soldaten sind freigesprochen worden (Anadolu 30.12.2020; vgl. ZO 30.12.2020).

Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind hierbei recht vage. Türkische Behörden und Gerichte ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind, sondern auch dann, wenn diese beispielsweise lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind (AA 24.8.2020). Bereits am 3.9.2016 veröffentlichte die Tageszeitung Milliyet eine nicht erschöpfende „Liste von sechzehn Kriterien“, die als Richtschnur für die Entlassung aus staatlichen Funktionen und für die Strafverfolgung dient. Personen, welche die angeführten Kriterien in unterschiedlichem Maße erfüllen, werden offiziellen Verfahren unterzogen und als „Terroristen“ bezeichnet - gefolgt von ihrer Festnahme oder Inhaftierung. Nach Angaben der Regierung war das Ziel der Erstellung einer solchen Liste, „die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden“ (JWF 1.2019). In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten: Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App „ByLock“; Geldeinlagen bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013 (bis zu deren Schließung 2016) oder anderen Finanzinstituten der sogenannten „parallelen Struktur“; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordneten Wohltätigkeitsorganisationen (AA 24.8.2020; vgl. JWF 1.2019), wie der einst größten Hilfsorganisation des Landes „Kimse Yok Mu“ (JWF 1.2019); der Besuch der Gülen-Bewegung zugeordneter Schulen durch die eigenen Kinder; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive Beschäftigungsverhältnis; Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung (AA 24.8.2020; vgl. JWF 1.2019). Weiter Kriterien sind u.a. die Unterstützung der Gülen-Bewegung in Sozialen Medien, der mehrmalige Besuch von Internetseiten der Gülen-Bewegung und die Nennung durch glaubwürdige Zeugenaussagen, Geständnisse Dritter oder schlicht infolge von Denunziationen (JWF 1.2019). Eine Verurteilung setzt in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus, wobei der Kassationsgerichtshof präzisiert hat, dass für die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation ein gewisser Bindungsgrad der Person an die Organisation nachgewiesen werden muss (AA 24.8.2020). Der Kassationsgerichtshof entschied im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten noch seine Einschreibung eines Kindes in einer Gülen-Schule als Beweis dienen kann, dass die Person in terroristische Aktivitäten verwickelt oder Mitglied einer terroristischen Vereinigung war (SCF 6.8.2019).

 

Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die nicht nur in der Türkei verboten, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft ist, wird gegenwärtig offiziell für eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei geführt (ÖB 10.2020).

Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 10.2020).

Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 7.2020)

2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“ (keine offiziellen Verhandlungen), bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 10.2020). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 10.2020).

Die International Crisis Group verzeichnet über 3.100 getötete PKK-Kämpfer seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015, schätzt jedoch selbst die Dunkelziffer als höher ein. Die türkischen Behörden sprechen hingegen von über 10.000 „neutralisierten“ PKK-Kämpfern, d.h. diese wurden getötet oder festgenommen. Besonders stark betroffen waren die südöstlichen Provinzen: Hakkari, Şırnak, Sur, Diyarbakır sowie die zentral-östliche Provinz Tunceli (Dersim) (ICG 20.10.2020).

Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerilla-Einheiten der PKK in den südost-anatolischen und den nordsyrischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit setzten sich fort und verschärften sich teils noch. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH 7.2020; vgl. ICG 20.10.2020).

Bei einer der der größten Anti-Terror-Operationen in 42 Provinzen wurden Ende November 2020 laut Innenministerium mindestens 641 vermeintliche PKK-Mitglieder festgenommen (Anadolu 28.11.2020). Bis Anfang Dezember hatten 218 PKK-Mitglieder durch die Überzeugungsarbeit der Behörden laut Innenministerium freiwillig ihre Waffen niedergelegt bzw. sich gestellt (Anadolu 3.12.2020).

In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich durchaus ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit „gefällt mir“ markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB 10.2020).

 

Rechtsstaatlichkeit/Justizwesen

Die Rechtsstaatlichkeit wird ausgehöhlt und die Grundfreiheiten werden weiter eingeschränkt. Dies markiert eine Beschleunigung des Prozesses der Autokratisierung, der im Land bereits zuvor im Gange war (BS 29.4.2020). Die ernsthaften Bedenken der EU hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern verzeichneten im Gegenteil weitere Rückschritte (EC 6.10.2020; vgl. PACE 24.1.2019). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoECommDH 19.2.2020; vgl. EC 6.10.2020, USDOS 11.3.2020). Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020).

Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zahlreiche Maßnahmen des Ausnahmezustandes, darunter insbesondere die Verleihung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden und Einschränkungen der Grundfreiheiten, wurden nunmehr gesetzlich verankert. Besonders problematisch sind der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 10.2020). Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraumbei der Entlassung von Beamten, inklusive Richtern (ÖB 10.2020). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen (ÖB 10.2019).

Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (bianet 24.2.2020).

Im vom World Justice Project jährlich erstellten „Rule of Law Index“ rangierte die Türkei im Jahr 2020 auf Platz 107 von 128 untersuchten Ländern. Der statistische Indikator verharrte wie 2019 auf dem Messwert von 0,43 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien „Grundrechte“ mit 0,32 (Rang 123 von 128) und „Einschränkungen der Macht der Regierung“ mit 0,30 sowie bei der Strafjustiz mit 0,38 ab. Gut war der Wert für „Ordnung und Sicherheit“ mit 0,69, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 11.3.2020).

Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfachgesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richter und Staatsanwälte) unterlaufen. Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren (insgesamt 13 im Jahr 2019), obwohl dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist. Die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften sind nach wie vor für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2020). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten HSK infrage gestellt. Der Rat ist u.a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019).

Seit dem Putschversuch 2016 wurden darüber hinaus insgesamt 4.399 Richter und Staatsanwälte entlassen. Bis heute wurden keine Maßnahmen gesetzt, um den Empfehlungen der Venedig Kommission des Europarates vom Dezember 2016 zu entsprechen, wonach jede Entlassung eines Richters individuell begründet und auf verifizierbare Beweise abgestützt sein

müsse (ÖB 10.2020). Bedenken bezüglich der Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems bestehen weiterhin, da keine Maßnahmen ergriffen wurden,

um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten

Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken. Es wurden keine rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien eingeführt, die verhindern, dass Richter und Staatsanwälte gegen ihren Willen versetzt werden (EC 6.10.2020). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch just am Tag nach Bekanntwerden dieser Garantie erließ der HSK ein Dekret, durch das die Stellen von 3.358 Richtern und Staatsanwälten im Zivil- und Strafrechtsbereich sowie von 364 weiteren Magistraten im Verwaltungsbereich geändert wurden. Insgesamt wurden im Jahr 2019 4.027 Richter und Staatsanwälte versetzt. Abgesehen von Hinweisen auf das Diensterfordernis wurden die Versetzungen nicht begründet (ÖB 10.2020). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weit verbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020). Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im „European Network of Councils for the Judiciary“ seit Ende 2016 ruhend gestellt. Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 10.2020).

Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 10.2020).

Obwohl die Autonomie der Justiz eingeschränkt ist, entschieden die Richter in wichtigen Fällen manchmal auch gegen die Regierung, beispielsweise in den Fällen, in denen Akademiker ein Ende der staatlichen Gewalt in kurdischen Gebieten im Jahr 2016 gefordert hatten (FH 4.3.2020).

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) [Anm.: entspricht etwa dem Verwaltungsgerichtshof], der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 10.2020). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 24.8.2020).

2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht (ÖB 10.2020). Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (ÖB 10.2020; vgl. EC 6.10.2020). Da die Friedensrichter allesamt als von der Regierung ausgewählt und ihr unbedingt loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, welches die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium Sinne der Regierung beeinflusst. Die Venedig Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2020). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019).

Infolge der teilweise sehr lang dauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind, und durch die etwa im Jahr 2019 bereits 213.000 Fälle gelöst werden konnten. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge İdare Mahkemeleri) in Betrieb genommen worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Allerdings liegt der Anteil der Erledigungen der regionalen Berufungsgerichte unter 100%, so dass es nun in dieser Instanz zu einem erheblichen Rückstau kommt. Im Zuge der COVID-19-Krise wurden zwischen März und Mitte Juni keine Gerichtstermine vergeben und sämtliche Fristenläufe gehemmt, sodass es zu weiteren Arbeitsrückständen und Verfahrensverzögerungen kam (ÖB 10.2020).

Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nicht-Beachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte. So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).

Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 24.8.2020).

Private Anwälte und Menschenrechtsbeobachter berichteten von einer unregelmäßigen Umsetzung der Gesetze zum Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren, insbesondere in Bezug auf den Zugang von Anwälten. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen,

insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 11.3.2020). Anwälte werden willkürlich inhaftiert und in Verbindung mit den angeblichen Verbrechen ihrer Mandanten gebracht. Die Regierung erhebt Anklage wegen Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen gegen Anwälte, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Hierbei gibt es keine oder nur spärliche Beweise für eine solche Mitgliedschaft, und das Recht auf ein faires Verfahren wird ignoriert. Die Gerichte verurteilen die Betroffenen zu langen Haftstrafen aufgrund von Terrorismus-Vorwürfen (HRW 10.4.2019). Seit dem Putschversuch 2016 wurden Anwälte wegen angeblicher terroristischer Straftaten inhaftiert, verfolgt und verurteilt. Es wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt und bis September 2019 321 Anwälte wegen ihrer vermeintlichen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (ALI 1.9.2019). Die Verhaftungen hielten auch 2020 an. Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen „Terrorismus“-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben. Da die Ermittlungen einer Geheimhaltungsanordnung unterlagen, war es den Anwälten und ihren Rechtsvertretern nicht gestattet, die Ermittlungsakten einzusehen oder Informationen über den Inhalt der Vorwürfe zu erhalten, bis ihre Mandanten im Sicherheitsdirektorat von Ankara verhört wurden, wodurch ihnen das Recht auf angemessene Zeit zur Vorbereitung einer Verteidigung verweigert wurde (AI 26.10.2020).

Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens

nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 10.2020). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 6.10.2020).

Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehn-jährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 10.2020).

Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden

weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es zur Suspendierung und Entlassung von über 152.000 öffentlich Bediensteten, welche per Dekret unehrenhaft entlassen oder suspendiert wurden, und deren Namen im Amtsblatt veröffentlicht wurden (ÖB 10.2020).

Die mittels Präsidialdekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB 10.2019). Bis Anfang Oktober 2020 waren 126.300 Anträge gestellt worden. Davon hatte die Untersuchungskommission 110.250 geprüft und nur 12.680 hatten zu einer Wiederaufnahme geführt, während 97.570 Beschwerden abgelehnt worden waren. 60 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen und Fernsehstationen. Es waren noch 16.050 Anträge anhängig (ICSEM 2.10.2020). Die Bearbeitungsrate der Anträge gibt laut Europäischer Kommission Anlass zu Sorge, ob jeder Fall einzeln geprüft wird (EC 6.10.2020).

Die Beschwerdekommission stellt keinen wirksamen Rechtsbehelf für die Betroffenen dar, um

sich wirksam und zeitnah Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu verschaffen. Der Kommission fehlt die genuine institutionelle Unabhängigkeit, da ihre Mitglieder zum größten Teil von der Regierung ernannt werden und im Falle von Verdachtsmomenten hinsichtlich Kontakten mit verbotenen Gruppierungen ihrer Funktion enthoben werden können. Somit können die Ernennungs- und Entlassungsvorschriften leicht den Entscheidungsprozess beeinflussen. Denn sollten Kommissionsmitglieder nicht die von ihnen erwarteten Urteile fällen, kann sie die Regierung einfach entlassen (AI 25.10.2018; vgl. ÖB 10.2020). Betroffene haben keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrecht erhalten wird, stützt sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zieht an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB 10.2020; vgl. EC 6.10.2020). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen (einige warten nach über einem Jahr immer noch auf eine Entscheidung) kritisiert (ÖB 10.2020).

 

Sicherheitsbehörden

Die nationale Polizei, die unter der Kontrolle des Innenministeriums steht, ist für die Sicherheit in großen Stadtgebieten verantwortlich (AA 24.8.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Die Jandarma, eine paramilitärische Truppe, die sich teils aus Wehrpflichtigen rekrutiert, ist für ländliche Gebiete und spezifische Grenzgebiete zuständig (AA 24.8.2020; vgl. USDOS 11.3.2020, ÖB 10.2020), obwohl das Militär die Gesamtverantwortung für die Grenzkontrolle und die allgemeine Außensicherheit trägt (USDOS 11.3.2020). Die Jandarma mit einer Stärke von 180.000 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 10.2020). Es gab Berichte, dass Jandarma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende syrischer und anderer Nationalitäten schossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sog. „Sicherheitskräfte“ [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen „Dorfschützer“, eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (USDOS 13.3.2019). Die Polizei und mehr noch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen. Seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung ist die Polizei aber auch selbst zum Objekt umfangreicher Säuberungen geworden (AA 24.8.2020).

Die 2008 abgeschaffte Nachtwache (Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Seitdem wurden mehr als 29.000 junge Männer (TM 28.11.2020) mit nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt. Angehörige der Nachtwache trugen ehemals nur Schlagstöcke und Pfeifen, mit denen sie Einbrecher und Kleinkriminelle anhielten (BI 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse, u.a. Waffeneinsatz und Personenkontrollen, gegen Kritik der Opposition erweitert (AA 24.8.2020; vgl. BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Festnahmen und Verhöre sind ihnen jedoch nicht erlaubt (TRT 11.6.2020). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als „AKP-Miliz“ kritisiert (AA 24.8.2020; vgl. BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Den Einsatz im eigenen Wohnvierteln sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weit verbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020).

Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte Immunität gegenüber dem Gesetz. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB 10.2020).

Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).

Die Transparenz und Rechenschaftspflicht von Militär, Polizei und Geheimdiensten gegenüber

dem Parlament sind jedoch nach wie vor begrenzt. Das Sicherheitspersonal genießt weiterhin

einen weitreichenden Rechtsschutz. Die Erfolgsbilanz bei der gerichtlichen und administrativen Prüfung von Vorwürfen von Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte ist weiterhin schlecht. Die parlamentarische Aufsichtskommission für die Strafverfolgung ist wirkungslos geblieben (EC 6.10.2020; vgl. ÖB 10.2020).

 

Folter und unmenschliche Behandlung

Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und

unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 24.8.2020). Sie hat

das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB 10.2020).

Glaubwürdige Vorwürfe von Folter und Misshandlung werden weiterhin berichtet. Folter und

Misshandlung kommen nach wie vor in Haftanstalten und Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen und auf der Straße vor (EC 6.10.2020; vgl. İHD 18.5.2020a). Davon abgesehen kommt es laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß der Folter entsprechen (İHD 18.5.2020a). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten vier Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen. Zu den Zielpersonen gehören Kurden, Linke und angebliche Anhänger von Fethullah Gülen. Die Staatsanwaltschaft führt keine adäquaten Untersuchungen zu solchen Anschuldigungen durch. Zudem herrscht eine weit verbreitete Kultur der Straflosigkeit für Mitglieder der Sicherheitskräfte und betroffene Beamte (HRW 14.1.2020). Solche Vorwürfe gab es seit Ende des offiziellen Besuchs des UN-Sonderberichterstatters zu Folter im Dezember 2016, u.a. angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu haben, brutalen Verhör-Methoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, Geständnisse zu erzwingen oder Häftlinge zu nötigen, andere zu belasten (OHCHR 27.2.2018; vgl. OHCHR 3.2018). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vgl. EC 29.5.2019).

Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).

Die Institution für Menschenrechte und Gleichberechtigung der Türkei (HREI), die als nationaler Präventionsmechanismus fungieren sollte, erfüllt nicht die zentralen Anforderungen des Fakultativprotokolls zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (UN CAT) und bearbeitet die an sie verwiesenen Fälle noch nicht effektiv genug (EC 6.10.2020).

Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz

informeller Anhaltezentren gibt es weiterhin. Der Europarat konnte jedoch die Existenz informeller Anhaltezentren nicht bestätigen. Von systematischer Anwendung der Folter kann nach Wissensstand der Österreichischen Botschaft Ankara dennoch nicht die Rede sein. Nach Angaben des Justizministeriums wurden im Jahr 2019 gegen 1.618 Beamte Untersuchungen wegen Misshandlungsvorwürfen eingeleitet. Lediglich 320 von ihnen wurden verurteilt (ÖB 10.2020).

Gemeinsame Recherchen des ZDF-Magazins Frontal 21 und acht internationaler Medien, koordiniert von dem gemeinnützigen Recherchezentrum Corrective, basierend auf Überwachungsvideos, internen Dokumenten, Augenzeugen und befragten Opfern, ergaben, dass ein Entführungsprogramm existiert, bei dem der NationaleNachrichtendienst Millî İstihbarat Teşkilâtı (MİT) nach politischen Gegnern, meist Gülen-Anhängern, sucht, die dann in Geheimgefängnisse verschleppt - auch aus dem Ausland - und gefoltert werden, um etwa belastende Aussagen gegen Dritte zu erwirken (ZDF 11.12.2018; vgl. Correctiv 11.12.2018, Ha’aretz 11.12.2018).

Nach Angaben der İHD wurden 2019 1.497 Menschen in offiziellen oder informellen Hafteinrichtungen gefoltert oder misshandelt und 495 weitere in den Gefängnissen. Über 3.900 Demonstranten wurden während Interventionen von Sicherheitskräften geschlagen oder verwundet (İHD 18.5.2020a).

Infolge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der PKK in Urfa wurden 47 Personen verhaftet. Nach Angaben ihrer Anwälte und ausgehend von vorliegenden Fotografien wurden einige der Inhaftierten in der dortigen Gendarmerie-Wache von Bozova Yaylak gefoltert oder anderweitig misshandelt (AI 13.6.2019). Die Rechtsanwaltsvereinigung Ankara berichtete auf der Basis von Interviews mit einigen der 249 ehemaligen türkischen Diplomaten, die wegen Terroranschuldigungen verhaftet wurden, dass diese gefoltert oder misshandelt wurden (ABA/HRD 26.5.2019; vgl. WE 3.6.2019). Die Anwaltsvereinigung Diyarbakır berichtete nach Interviews mit Betroffenen, dass vermeintlich 20 Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt in Elazığ durch das Wachpersonal systematisch gefoltert wurden (SCF 19.8.2019). Laut Human Rights Watch bestünden glaubwürdige Beweise, dass im Sommer 2020 die Polizei sowie Mitglieder der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen in Diyarbakır und İstanbul schwere Misshandlungen an mindestens vierzehn Personen begangen haben (HRW 29.7.2020). Ebenfalls in Diyarbakır wurde Ende Juni 2020 die Frauenaktivistin und ehemalige Bürgermeisterin der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Edremit, Rojbin Sevil Çetin, im Zuge der Erstürmung ihres Hauses angeblich physischer und sexueller Folter, verbunden mit Todesdrohungen ausgesetzt. Nachdem Cetins Anwalt Fotos von ihren Verletzungen der Presse übermittelte, wurde gegen ihn, den Anwalt, eine Untersuchung eingeleitet (AM 8.7.2020).

 

Allgemeine Menschenrechtslage

Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden in Bezug auf die Grundrechte und die damit zusammenhängenden, verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Es kam zu weiteren Rückschritten, vor allem in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und die Verfahrensrechte, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, den Schutz von Menschenrechtsverteidigern sowie die Freiheit von Misshandlung und Folter, insbesondere in Gefängnissen. Der Rechtsrahmen umfasst zwar allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Gesetzgebung und die Praxis müssen noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 6.10.2020), denn die Konvention und die Rechtsprechung des EGMR werden bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 24.8.2020). Denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020).

Das harte Durchgreifen gegen tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkende wurde trotz des

Endes des zweijährigen Ausnahmezustands fortgesetzt. Tausende Menschen wurden in langer

Untersuchungshaft mit Sanktionscharakter festgehalten, oft ohne glaubwürdige Beweise dafür, dass sie eine völkerrechtlich anerkannte Straftat begangen hatten. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit waren stark eingeschränkt. Personen, die als kritisch gegenüber der derzeitigen Regierung gelten – vor allem Journalisten, politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger – wurden inhaftiert oder mit erfundenen Anklagen konfrontiert. Die Behörden haben auch weiterhin willkürlich Demonstrationen verboten und wandten bei der Auflösung friedlicher Protestaktionen unnötige und unverhältnismäßige Gewalt an. Es gab glaubwürdige Berichte über Folter und Verschwindenlassen (AI 16.4.2020; vgl. EC 6.10.2020).

Eine Reihe negativer Entwicklungen, insbesondere die während und nach dem Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen, haben einen abschreckenden Effekt erzeugt und zu einem zunehmend feindseligen Umfeld für Menschenrechtsverteidiger beigetragen. Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020).

Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen StGB (z.B. Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes) zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (ÖB 10.2020) und die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen in großem Umfang hält an. Neben tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen [siehe Kapitel Gülen- oder Hizmet-Bewegung], befinden sich schätzungsweise 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei -PKK entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft. Gegen viele weitere läuft der Prozess (HRW 14.1.2020).

Das Europaparlament sieht die Anti-Terror-Maßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Anti-Terror- Maßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen (EP 13.3.2019).

Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen. Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte der Umgang der Türkei mit den EGMR-Urteilen in den Fällen Selahattin Demirtaş (November 2018) und Osman Kavala (Dezember 2019) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 18 EMRK festgestellt und die Freilassung aus der Untersuchungshaft gefordert. Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala) (AA 24.8.2020).

Im Jahr 2019 stellte der EGMR in 97 Fällen (von 113) Verletzungen der EMRK fest, die hauptsächlich die Meinungsfreiheit (35), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (16), den Schutz des Eigentums (14), das Recht auf ein faires Verfahren (13), unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (12), die Achtung des Privat- und Familienlebens und das Recht auf Leben (5) betrafen (EC 6.10.2020). Mit Stand 31.10.2020 waren 10.150 Verfahren aus der Türkei, das waren 16,6% aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 31.10.2020). Dies bedeutet im Vergleich zu den Werten von Ende November 2019 - 8.700 Verfahren und 14,5% aller Fälle - eine nennenswerte Steigerung (ECHR 30.11.2019).

 

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Die Verfassung enthält umfassende Garantien grundlegender Menschenrechte, einschließlich der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Allerdings bestehen für viele verfassungsmäßige Rechte Ausnahmen, nämlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit (DFAT 10.9.2020; vgl. AA 24.8.2020), der öffentlichen Moral oder der Verbrechensverhütung Versammlungen zu verbieten, ohne die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen nachzuweisen. Restriktive und vage formulierte Gesetze erlauben es den Behörden, unverhältnismäßige Maßnahmen zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit zu verhängen und sogar die legitime Ausübung dieses Rechts durch einen Diskurs zu stigmatisieren, der Demonstranten immer wieder mit Extremismus und gewalttätigen Gruppen in Verbindung bringt (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).

Seit 2015 gab es im Bereich der Versammlungsfreiheit Rückschritte, insbesondere durch die während des Ausnahmezustands erfolgte Ausweitung der Befugnisse der Gouverneure, öffentliche Versammlungen untersagen zu können. Der breite Ermessensspielraum der Gouverneure wird für weitere Einschränkungen genutzt. Zahlreiche Demonstrationen und Zusammenkünfte werden entweder mit einem Blanko-Bann von vornherein untersagt bzw. unter Anwendung von Polizeigewalt aufgelöst (ÖB 10.2020; vgl. EC 6.10.2020, USDOS 11.3.2020). Die Europäische Kommission sah 2020 weitere Rückschritte hinsichtlich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, wobei die Gesetzgebung und ihre Umsetzung nicht im Einklang mit europäischen Normen stehen und sich nicht an die türkische Verfassung halten. Wiederkehrende Verbote, unverhältnismäßige Interventionen und übermäßige Gewaltanwendung bei friedlichen Demonstrationen, Ermittlungen, Verwaltungsstrafen und strafrechtliche Verfolgung von Demonstranten unter dem Vorwurf Terrorismus-bezogener Aktivitäten wurden weiterhin gemeldet (EC 6.10.2020). Infolgedessen haben heute viele Menschen in der Türkei Angst davor, den öffentlichen Raum für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu beanspruchen (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).

In der Praxis werden bei regierungskritischen politischen Versammlungen regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen (AA 24.8.2020). Während regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden dürfen, wurden Feierlichkeiten zum 1. Mai von linken und gewerkschaftlichen Gruppen, Proteste von Opfern staatlicher Säuberungen, Parteiversammlungen der Opposition ebenso verboten wie Demonstrationen oder Festivitäten von Kurden (FH 4.3.2020; vgl. BS 29.4.2020). Einschränkungen der Versammlungsfreiheit betreffen nicht selten Frauen und besonders vulnerable Gruppen wie LGBTI und Minderheiten (ÖB 10.2020). Auch Demonstrationen von Umweltaktivisten oder solche, welche die militärischen Interventionen der Türkei in Syrien zum Thema hatten, sowie Proteste gegen die Absetzung von Bürgermeistern meist der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) bzw. die Ernennung von Regierungssachwaltern an deren Stelle, wurden von den Behörden aus Sicherheitsgründen verboten (EC 6.10.2020).

Nach den vom Justizministerium veröffentlichten offiziellen Zahlen wurden 2018 Ermittlungen gegen 8.728 Personen wegen Verstoßes gegen das Gesetz Nr. 2911 über Versammlungen und Kundgebungen eingeleitet, während gegen 4.837 dieser Personen Strafanzeige erstattet wurde (İHD 18.5.2020b). Unabhängigen Beobachtungen zufolge haben die Sicherheitskräfte zwischen April 2019 und Dezember 2019 bei mindestens 1.138 friedlichen Zusammenkünften und Demonstrationen interveniert, bei denen mindestens 2.851 Personen festgenommen wurden (EC 6.10.2020). Die Menschenrechtsvereinigung İHD zählte hingegen für das gesamte Jahr 2019 1.344 Interventionen und 3.741 Festnahmen. Laut İHD wurden 3.935 Personen während Versammlungen oder Protesten von Sicherheitskräften geschlagen und verletzt, der höchste Wert in den vergangenen fünf Jahren (İHD 18.5.2020b).

Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen „Propagandamarsch“ für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei auch, Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in Haft zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen (USDOS 11.3.2020).

Im Jahr 2019 fällte das Verfassungsgericht in 37 Einzelanträgen Urteile zur Versammlungsfreiheit, wobei es in 19 dieser Anträge eine Verletzung und in 7 davon keine Verletzung feststellte. Im September 2019 kam das Verfassungsgericht in seinem Urteil zur Demonstration am 1.5.2009 zu dem Schluss, dass die Versammlungsfreiheit der Demonstranten verletzt wurde. Dies ist das erste innerstaatliche Urteil des Gerichtshofs zur willkürlichen Verhinderung der Gedenkfeiern zum 1. Mai (EC 6.10.2020).

Das Gesetz sieht zwar die Vereinigungsfreiheit vor, doch die Regierung schränkt dieses Recht

weiterhin ein. Die Regierung nutzt Bestimmungen des Anti-Terror-Gesetzes, um die Wiedereröffnung von Vereinen und Stiftungen zu verhindern, die sie zuvor wegen angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit geschlossen hatte (USDOS 11.3.2020).

Die Verordnung von 2018 und das geänderte Gesetz, das im März 2020 im Rahmen eines Omnibus-Gesetzes verabschiedet wurde, machen es für alle Vereinigungen zur Pflicht, alle ihre Mitglieder und nicht nur ihre Vorstandsmitglieder im Informationssystem des Innenministeriums zu registrieren. Diese gesetzliche Verpflichtung steht nicht im Einklang mit den Richtlinien der OSZE und des Europarates hinsichtlich der Vereinigungsfreiheit (EC 6.10.2020). Ein Antrag des Vereins für Menschenrechte (IHD) auf Aufhebung der Bestimmung scheiterte und wurde vom Staatsrat [Anm.: entspricht in etwa dem hiesigen Verwaltungsgerichtshof] abgewiesen. Das Berufungsverfahren läuft (Stand Oktober 2020) (ÖB 10.2020).

Die Kommissarin für Menschenrechte des Europarates stellte in ihrem 2020 veröffentlichten Bericht zu ihrem Besuch der Türkei 2019 fest, dass ein besonderes Vermächtnis des Ausnahmezustands die völlige Schließung einer großen Zahl von NGOs sowie die Liquidation ihres Vermögens durch Notverordnungen war, und zwar durch eine einfache Entscheidung der Exekutive ohne jegliche gerichtliche Entscheidung oder Kontrolle. Trotz des dringenden Aufrufs bereits des vormaligen Kommissars gleich zu Beginn des Ausnahmezustands, diese Praxis unverzüglich zu beenden, schlossen die Behörden, ohne Erklärung oder Begründung, 1.410 Vereine, 109 Stiftungen und 19 Gewerkschaften (CoE-CommDH 19.2.2020). Im Juli 2019 gab die Untersuchungskommission für Notstandsmaßnahmen bekannt, dass die Regierung 1.750 nicht-staatliche Vereinigungen und Stiftungen im Rahmen von Notstandsmaßnahmen geschlossen hatte. 208 von diesen erlaubte die Regierung die Wiedereröffnung. Berufungsverfahren von Einrichtungen, die Rechtsmittel gegen die Schließung einlegten, verlaufen intransparent und bleiben unwirksam (USDOS 11.3.2020).

Laut Gesetz müssen Personen, die eine Vereinigung organisieren, die Behörden nicht vorher benachrichtigen, aber eine Vereinigung muss die Behörden verständigen, bevor sie mit internationalen Organisationen in Kontakt tritt oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhält, und sie muss detaillierte Dokumente über solche Aktivitäten vorlegen (USDOS 11.3.2020).

 

Opposition

Obwohl Verfassung und Gesetze den Bürgern die Möglichkeit bieten, ihre Regierung durch Wahlen zu wechseln, schränkt die Regierung den fairen politischen Wettbewerb ein, auch durch die Begrenzungen der grundlegenden Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Hiervon sind die Aktivitäten einiger oppositioneller politischer Parteien und deren Anführer betroffen, unter anderem durch Verhaftungen. Mehrere Parlamentarier sind nach der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität im Jahr 2016 weiterhin der Gefahr einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt. Restriktive Verordnungen der Regierung beeinträchtigen die Möglichkeit vieler Oppositioneller, politische Aktivitäten durchzuführen, wie z.B. die Organisation von Protesten oder Veranstaltungen für politische Kampagnen und die Verbreitung kritischer Botschaften in den sozialen Medien. Die Regierung hat auch 2020 die Suspendierungen demokratisch gewählter Bürgermeister, basierend auf deren angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, fortgesetzt, und diese durch staatliche „Treuhänder“ ersetzt. Dieses Vorgehen richtet sich am häufigsten gegen Politiker, die der pro-kurdischen Demokratische Partei der Völker (HDP) und ihrer lokalen Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP) angehören (USDOS 11.3.2020). Laut Innenminister Soylu wurden seit 2014 151 Bürgermeister, fast alle aus den Reihen der HDP, wegen Terrorismus-Verbindungen entlassen und durch Treuhänder ersetzt. 73 der 151 ehemaligen Bürgermeister wurden in Summe zu 778 Jahren Gefängnis verurteilt (TM 26.11.2020).

Angesichts des Wiederaufflammens des Konflikts mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begannen 2016 Staatspräsident Erdoğan und seine Regierung der Partei für Gerechtigkeit und

Entwicklung (AKP) vermehrt die HDP zu bezichtigen, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt (NZZ 7.1.2016). Zuletzt bezeichnete Erdoğan im November 2020 den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş, der seit November 2016 aufgrund politisch motivierter Vorwürfe hinter Gittern sitzt, als Terrorist, und leugnete nebenbei die Existenz eines Kurdenproblems in der Türkei (TM 25.11.2020). Hinzukam, dass sich Vertreter der HDP sowohl gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Kurdenregionen der Türkei als auch gegen die ersten militärischen Interventionen in Syrien 2016 (Operation Euphratschild) und später 2018 (Operation Olivenzweig) äußerten. Die Behörden leiteten infolgedessen Ermittlungen gegen HDP-Politiker ein und begannen erstere systematisch aus ihren politischen Ämtern zu entfernen (MEI 3.2.2020).

Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung.

Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren

ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018). Regierungsnahe Medien, wie beispielsweise die Tageszeitung „Daily Sabah“, stellen die HDP und ihre gewählten Gemeindevertreter als Unterstützer der PKK und terroristischer Aktivitäten dar (DS 15.5.2020; vgl. DS 18.12.2019). Während des Wahlkampfes zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 präsentierten nationale Fernsehsender die HDP und ihren inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Demirtaş überwiegend in einem negativen Ton, wobei sie oft beide mit einer terroristischen Organisation gleichgesetzt wurden (OSCE 21.9.2018). Wenn die HDP im Fernsehen erwähnt wird, dann in Bezug auf Kriminalität oder die PKK (UKHO 1.10.2019).

Laut Angaben der HDP sind (Stand September 2020) zwischen Juni 2015 und September 2020

22.321 Parteimitglieder festgenommen worden. Allein in den ersten beiden Jahren landeten 3.647 im Gefängnis. So sollen sich von den rund 22.000 noch 10.000 Mitglieder in Haft befinden (HDP 5.11.2020). Andere Quellen sprechen von lediglich 5.000 inhaftierten Parteifunktionären und Mitgliedern (Stand März 2020) (AA 24.8.2020).

Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der zweitgrößten Oppositionspartei HDP, hält an. Die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (seit vier Jahren) sowie sieben weitere gewählte HDP-Abgeordnete sind weiterhin im Gefängnis (Stand Oktober 2020). Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsfreiheit von gewählten Amtsträgern außerhalb des Parlaments einschränkt, wurden unterdessen nicht behoben. Anfang Juni 2020 wurde ein Parlamentsabgeordneter der Republikanischen Volkspartei (CHP) und zwei der HDP aufgrund gerichtlicher Verurteilungen aus dem Parlament ausgeschlossen (AP 4.6.2020; vgl. EC 6.10.2020). Gegen die aktuellen HDP-Ko-Vorsitzenden und andere Abgeordnete sowohl der HDP als auch der CHP wurden aufgrund ihrer Äußerungen zur Militäroperation „Friedensquelle“ (2019) im Nordosten Syriens gerichtliche Untersuchungen eingeleitet (EC 6.10.2020).

So wurde Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP in Istanbul, im September 2019 mit einer Gefängnisstrafe von fast zehn Jahren bestraft, nachdem sie wegen Beleidigung des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda (FH 4.3.2020), Herabwürdigung des türkischen Staates, Beamtenbeleidigung und Volksverhetzung verurteilt worden war. Die Anklage stützte sich auf Twitter-Nachrichten aus den Jahren 2012 bis 2017. In der zweiten Juni-Hälfte 2020 wurde das Urteil von einem Berufungsgericht bestätigt. Die CHP-Politikerin kann während ihres zweiten Berufungsverfahrens auf freiem Fuß bleiben (ZO 23.6.2020).

Schon in der Periode vor den letzten Lokalwahlen vom März 2019 waren im Zuge der Notstandsdekrete bis Ende 2017 insgesamt über 90 gewählte Gemeindeverwaltungen, überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, vereinzelt Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhänder ersetzt worden (AA 14.6.2019; vgl. PACE 24.1.2019, TM 3.9.2019, DS 4.9.2019). Bei den jüngsten Lokalwahlen am 31.3.2019 wurden im ersten Fall Kandidaten, die aufgrund eines Notstandsdekretes zuvor aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden, nachträglich als nicht wählbar betrachtet, obwohl ihre Kandidatur für die eigentliche Wahl als gültig erklärt worden war (CoE 19.6.2020). Dies betraf auch schon vor der Wahl 2019 abgesetzte Bürgermeister, die zugelassen und dann wiedergewählt wurden. Die lokalen Wahlräte verweigerten einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten, meist der AKP, zu Bürgermeistern (AA 24.8.2020). Nebst den sechs siegreichen HDP-Bürgermeisterkandidaten wurde 88 gewählten Gemeinderatsmitgliedern der HDP vom Innenministerium die Akkreditierung verweigert, angeblich wegen anhängiger strafrechtlicher Ermittlungen (HDP 18.11.2019). Im zweiten Fall wurden nach der Wahl Bürgermeister auf der Grundlage von Gesetzesänderungen, die durch das Gesetz über Notstandsverordnungen eingeführt wurden, wegen Terrorismus-bedingter Anschuldigungen suspendiert, obwohl sie zum Zeitpunkt der Wahlen als wählbar galten, als viele der Ermittlungen oder Anklagen gegen sie bereits eingeleitet worden waren (CoE 19.6.2020; vgl. AA 14.6.2019, HDP 18.11.2019).

Die ersten prominenten, gewählten HDP-Bürgermeister waren jene von Mardin und Van sowie der Millionenstadt Diyarbakır im Südosten des Landes. Sie wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wurde wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (ZO 19.8.2019; vgl. DW 20.8.2019). Der Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, wurden im Frühjahr 2020 zu neuen Jahren und vier Monaten Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verurteilt (bianet 9.3.2020). Die entlassenen Bürgermeister wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019). Die Entlassung der Bürgermeister hat Kritik seitens der EU und des Europarates ausgelöst, da ihre Entlassung die Ergebnisse der Wahlen vom März 2019 infrage stellt (Ahval 20.8.2019; vgl. CoE 20.8.2019, EU 19.8.2019). Zudem wurde die Absetzung der kurdischen Ortsvorsteher von einer großangelegten Polizeirazzia gegen HDP-Mitglieder in den drei besagten und 26 weiteren Provinzen begleitet, bei der mindestens 418 Personen festgenommen wurden (FR 21.8.2019). Als es Anfang 2020 zu mehrtägigen Protesten gegen die Entlassung von kurdischen Bürgermeistern kam, ging die Bereitschaftspolizei in Diyarbakir gegen die Demonstranten mit Plastikgeschossen, Tränengas und Knüppel vor. Mehrere Journalisten, die über die Vorkommnisse berichteten, wurden von der Polizei misshandelt (AM 21.1.2020).

2020 setzten sich die Festnahmen und Amtsenthebungen von gewählten HDP-Bürgermeistern

ebenso fort wie die Verhaftungen und Anklagen gegen andere Vertreter der HDP. Im März 2020 haben die türkischen Behörden beispielsweise acht Bürgermeister der HDP wegen Terrorvorwürfen abgesetzt. Betroffen waren die Bezirke der Provinzen Batman, Diyarbakır, Bitlis, Siirt und Iğdir (ZO 24.3.2020). Als fünf Bürgermeister der HDP, denen die Regierung Verbindungen zur PKK vorwarf, Mitte Mai 2020 festgenommen, ihres Amtes enthoben und durch Treuhänder der Regierung ersetzt wurden, nannte Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, dies einen scheinbar politisch motivierten Schritt. Er forderte in einer Erklärung die Türkei auf, Maßnahmen aufzuheben, die das Funktionieren der lokalen Demokratie behindern (Duvar 19.5.2020).

Mehr als 50 Personen wurden am 14.7.2020 in den Provinzen Diyarbakır und Gaziantep festgenommen, darunter auch die Ko-Vorsitzende der HDP in der Provinz Gaziantep. Den Verdächtigen, bei denen es sich zumeist um Frauen handelte, darunter die Sprecherin der Freien Frauenbewegung (TJA) wurde vorgeworfen, Verbindungen zur PKK zu haben. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die HDP-Ko-Bürgermeisterin für Diyadin im türkischen Agri-Distrikt, festgenommen und durch einen staatlichen Treuhänder ersetzt worden war (AM 14.7.2020).

Ende September 2020 hat der Generalstaatsanwalt von Ankara Haftbefehle gegen 82 Politiker der HDP ausgestellt und danach angekündigt, die Aufhebung der Immunität von sieben HDP-Abgeordneten zu beantragen. Unter den Festgenommenen befanden sich prominente Politiker wie der Ko-Bürgermeister der Stadt Kars, Ayhan Bilgen, und der frühere Parlamentarier Süreyya Önder, der im Auftrag der türkischen Regierung über Jahre hinweg zwischen dem türkischen Staat und dem inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan vermittelt hatte. Die Generalstaatsanwaltschaft begründet die Festnahmen und das Vorgehen gegen die Abgeordneten mit den Protesten vom Oktober 2014, die sie rückwirkend, sechs Jahre nach den Ereignissen als „Terrorakte“ einstuft. Damals drohte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die umzingelte syrischkurdische Stadt Kobane einzunehmen. Die HDP hatte dem türkischen Staat vorgeworfen, nichts zur Rettung von Kobane zu unternehmen und den IS zu unterstützen, und rief daher zu Solidaritätskundgebungen auf. Vom 6. bis 8.10.2014 wurden bei blutigen Zusammenstößen rund 40 Menschen getötet. Mehrmalige parlamentarische Anträge der HDP die Vorfälle zu untersuchen, wurden damals von der AKP und der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) abgelehnt (FAZ 27.9.2020; vgl. HRW 2.10.2020).

Mit der Festnahme bzw. Amtsenthebung der beiden Ko-Bürgermeister von Kars Anfang Oktober 2020 (bianet 2.10.2020) waren (Stand Ende November 2020) in 59 der insgesamt 65 Gemeinden, die die HDP bei den Lokalwahlen im März 2019 gewonnen hatte, die Bürgermeister abgesetzt und die meisten durch staatliche Treuhänder ersetzt (Duvar 25.11.2020). 18 der ursprünglich 37 Ko-Bürgermeister standen im September 2020 noch unter Arrest (HDP 5.11.2020). Kritik kam u.a. von seiten des Europarates. Der Präsident des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarates, Anders Knape, zeigte sich zutiefst besorgt über die anhaltenden Verhaftungen von demokratisch gewählten Vertretern der Opposition. Die jüngste Entscheidung der Behörden, den Bürgermeister von Kars, Ayhan Bilgen, wegen angeblicher terroristischer Verbindungen aus seinem Amt zu verdrängen, sei ein weiterer Versuch, die lokale Selbstverwaltung des Landes zu untergraben und Millionen von Wählern das Recht zu verwehren, ihrem Wählerwillen gerecht zu werden (CoE 1.10.2020).

 

Haftbedingungen

Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt (ÖB 10.2020). In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen (AA 24.8.2020). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) besucht (ÖB 10.2020). Die Regierung gestattete es NGOs nicht, Gefängnisse zu kontrollieren (USDOS 11.3.2020).

Mit Juli 2020 betrug die Gefängnispopulation, die sich aus verurteilten und nicht verurteilten Häftlingen zusammensetzt, rund 249.600, trotz einer Kapazität von 236.755 in 366 Gefängnissen. 2.500 Häftlinge waren Kinder, von denen 405 bei ihren inhaftierten Müttern untergebracht waren. Nach Angaben des Justizministeriums befinden sich 13% der gesamten Gefängnispopulation wegen Terror-Vorwürfen in Haft, darunter viele Journalisten, politische Aktivisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger (EC 6.10.2020).

Die Überbelegung und die Verschlechterung der Haftbedingungen geben laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zu tiefer Besorgnis. Es gab weiterhin Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft (EC 6.10.2020; vgl. DFAT 10.9.2020). Häftlinge erklärten, dass auf die meisten ihrer Beschwerden nicht eingegangen wurde und dass sich die Lebensbedingungen nicht verbessert haben. Die für die Gefängnisse vorgesehenen Monitoring-Institutionen sind nach wie vor weitgehend wirkungslos. Auch die Institution für Menschenrechte und Gleichbehandlung (HREI), die als Nationaler Präventionsmechanismus (gemäß Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter) fungieren soll, ist nicht voll funktionsfähig, wodurch es keine Aufsicht über Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen gibt. Im September 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Überstellung von Häftlingen in weit von ihrem Wohnort entfernte Gefängnisse eine Verletzung der „Verpflichtung zur Achtung des Schutzes des Privat- und Familienlebens“ darstellt (EC 6.10.2020).

An Orten, an denen es keine speziellen Gefängnisse gibt, werden Minderjährige in getrennten

Abteilungen innerhalb der Gefängnisse für männliche und weibliche Erwachsene untergebracht. Kinder unter sechs Jahren können bei ihren inhaftierten Müttern bleiben. Untersuchungshäftlinge und Verurteilte befinden sich oft in denselben Zellen und Blöcken. Die Gefangenen werden nach der Art der Straftat getrennt: Diejenigen, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt oder verurteilt wurden, werden von anderen Insassen separiert. Es besteht eine strikte Trennung zwischen denjenigen, die wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert sind, und Mitgliedern anderer Organisationen, wie z.B. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In jüngster Zeit gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere. LGBTI-Häftlinge werden in der Regel von heterosexuellen Häftlingen getrennt, obwohl es immer noch Berichte über Diskriminierung, sexuelle Belästigung und Erniedrigung gibt, insbesondere von transsexuellen Häftlingen (DFAT 10.9.2020).

Einige Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert waren, litten unter speziellen Einschränkungen, darunter lange Einzelhaft, starke Einschränkungen bei der Bewegung im Freien und bei Aktivitäten außerhalb der Zelle, Verweigerung des Zugangs zur Bibliothek und zu Medien, schleppende medizinische Versorgung und in einigen Fällen die Verweigerung medizinischer Behandlung (USDOS 11.3.2020; vgl. PI 2.2018). In Medienberichten wurde auch behauptet, dass Besucher von Häftlingen mit Terrorbezug Übergriffen, und Insassen Leibesvisitationen und erniedrigender Behandlung durch Gefängniswärter ausgesetzt waren. Zudem wäre der Zugang zur Familie eingeschränkt gewesen (USDOS 11.3.2020). Das türkische Strafgesetzbuch sieht außerdem vor, dass Haftstrafen zwar für Mütter mit Kindern unter sechs Monaten ausgesetzt werden, nicht jedoch, wenn Personen wegen Verbindungen zu einer terroristischen Vereinigung verurteilt werden (DW 23.6.2019).

Das System der obligatorischen medizinischen Kontrollen ist laut dem CPT nach wie vor grundlegend fehlerhaft. Die Vertraulichkeit solcher Kontrollen ist bei weitem noch nicht gewährleistet. Entgegen den Anforderungen der Inhaftierungsverordnung waren Vollzugsbeamte in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bei den medizinischen Kontrollen weiterhin anwesend, was dazu führt, dass die Betroffenen keine Gelegenheit haben, mit dem Arzt unter vier Augen zu sprechen. Von der Delegation des CPT befragte Häftlinge gaben an, infolgedessen den Ärzten nicht von den Misshandlungen berichtet zu haben. Darüber hinaus gaben mehrere Personen an, dass sie von bei der medizinischen Kontrolle anwesenden Polizeibeamten bedroht worden seien, ihre Verletzungen nicht zu zeigen. Einige Häftlinge behaupteten, überhaupt keiner medizinischen Kontrolle unterzogen worden seien (CoE-CPT 5.8.2020).

 

Todesstrafe

Die Türkei schaffte 2004 die Todesstrafe für alle Straftaten ab. Die letzte Hinrichtung erfolgte 1984 (AI 7.2018).

Obwohl die Türkei dem Protokoll 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beigetreten ist, werden weiterhin von Regierungsvertretern, einschließlich des Präsidenten, Erklärungen zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe abgegeben (EC 29.5.2019). Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020).

 

Ethnische Minderheiten

Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei - primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen Christen, der Juden und der Griechisch-Orthodoxen Christen. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 11.3.2020).

Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren, Syriaken und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 24.8.2020). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und 3.000 im Südosten (MRGI 6.2018b).

Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff „Minderheit“ (im Türkischen „azınlık“) ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als „Spalter“, „Vaterlandsverräter“ und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe „Kurdistan“, „kurdische Gebiete“ und „Völkermord an den Armeniern“ im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018).

Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 11.3.2020).

Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem. Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).

Schulbücher müssten laut Europäischer Kommission überarbeitet werden, um Überreste diskriminierender Referenzen zu den Minderheiten zu eliminieren. Auch die staatlichen Subventionen für Minderheitenschulen sind gesunken und ergehen nur unregelmäßig. Gesetzliche Einschränkungen für muttersprachlichen Unterricht in Grund- und Mittelschulen bleiben bestehen. Optionale Kurse in Kurdisch werden jedoch an öffentlichen staatlichen Schulen fortgesetzt, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki. Die uneingeschränkte Achtung und der Schutz von Sprache, Religion, Kultur und Grundrechten der Minderheiten gemäß den europäischen Normen ist noch nicht vollständig erreicht. Die Regierung hat die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert. Allerdings beschloss die Behörde für Pressewerbung (BİK), die derzeitige Finanzierung für Zeitungen, die von Mitgliedern der armenischen, griechischen und jüdischen Gemeinden betrieben werden, zu erhöhen (EC 6.10.2020). Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 10.2020).

 

Kurden

Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozioökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020).

Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) (ÖB 10.2020). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP, besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - Hüda-Par), die für die Einführung der Schari’a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der PKK und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (NL-MFA 31.10.2019).

Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt (USDOS 11.3.2020), auch 2019, wenn auch von kürzerer Dauer und im kleineren Umfang (İHD 18.5.2020b). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 6.10.2020).

Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung

der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 11.3.2020) und blieben es auch (EC 6.10.2020). Der Druck auf kurdische Medien und auf die Berichterstattung über kurdische Themen hält an (EC 6.10.2020). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 6.10.2020). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 24.8.2020).

Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020).

Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18% der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift (ÖB 10.2020). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch und Zazaki. Gesetzliche Einschränkungen des muttersprachlichen Unterrichts in Grund- und Sekundarschulen bleiben allerdings bestehen (EC 6.10.2020; vgl. ÖB 10.2020). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung - oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB 10.2020).

Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure, die die willkürliche Zensur verschärften, haben negative Auswirkungen auf den Kunst- und Kulturbereich. Nach einer zweiten Runde der Ernennung von staatlichen Treuhändern in vormals von der HDP regierten Gemeinden, wurden die Bemühungen zur Förderung der Schaffung von Sprach- und Kulturinstitutionen in diesen Provinzen weiter untergraben. Die Schließung kurdischer Kultur- und Sprachinstitutionen und kurdischer Medien sowie zahlreicher Kunsträume nach dem Putschversuch von 2016 führte zu einer weiteren Schmälerung der kulturellen Rechte (EC 6.10.2020).

Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Cağrı FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB 10.2020).

Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020; vgl. TM 17.9.2020).

Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 24.8.2020). Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Zwei Universitäten hatten Kurdisch-Institute. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten (USDOS 11.3.2020). Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im privaten Bereicht vollständig (AA 24.8.2020) und im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2020 immer wieder von Gewaltakten, einschließlich Mord und Totschlag, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB 10.2020; vgl. TM 17.9.2020, IRB 7.1.2020). Nebst der (spontanen) Gewalt von Einzelpersonen kommt es auch zu organisierten gewalttätigen Angriffen türkisch-nationalistischer Milizen gegen kurdische Gruppen. Erstere sind überall in der Türkei zu finden, aber besonders im Westen und in Großstädten wie Istanbul und Ankara (UKHO 1.10.2019).

 

Bewegungsfreiheit

Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie

das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern. Das Recht zur Ausreise wiederum darf durch eine richterliche Entscheidung im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung oder Verfolgung eingeschränkt werden (ÖB 10.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Die Regierung beschränkte Auslandsreisen von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein. Die Regierung erklärte die Provinz Hakkâri zu einer „besonderen Sicherheitszone“ und beschränkte die Bewegungsfreiheit in und aus mehreren Bezirken der Provinz wochenlang mit der Begründung, dass die Bürger vor Angriffen der PKK geschützt werden müssten (USDOS 11.3.2020).

Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vgl. USDOS 11.3.2020), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020).

Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019).

Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen (AA 24.8.2020).

Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB 10.2020).

 

Grundversorgung/Wirtschaft

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Gesundheitskrise haben eine fragile wirtschaftliche Erholung in der Türkei zum Entgleisen gebracht. In der zweiten Jahreshälfte 2019 begann sich die Wirtschaft allmählich von den wirtschaftlichen Turbulenzen Mitte 2018 zu erholen. Bis März 2020 drehte sich die Situation schnell. Erstens entstand in der Türkei im zweiten Quartal 2020 schnell wieder ein Leistungsbilanzdefizit durch den Rückgang des Handels und des Tourismus. Der Einbruch der globalen Nachfrage forderte einen hohen Tribut im türkischen Warenhandel. Zweitens haben eine weltweite Kapitalflucht in sichere Häfen und ein erheblicher Rückgang der türkischen Devisenreserven den Druck auf die Außenfinanzierung und die Märkte erhöht. Der negative Kapitalfluss führte zu einer erheblichen Belastung der Devisenreserven, die in diesem Zeitraum um 25% fielen. Drittens führten der externe Druck und die Eindämmungsmaßnahmen in Hinblick auf COVID-19 zu einem plötzlichen Stillstand der inländischen Produktion im April-Mai 2020. Das verarbeitende Gewerbe war stark betroffen, einschließlich großer, exportintensiver Industrien. Viertens haben die Auswirkungen auf die Realwirtschaft die Probleme auf dem Arbeitsmarkt verschärft, die bereits vor der Pandemie bestanden. Der COVID- 19-Schock hat die rückläufigen Trends bei der Erwerbsbeteiligung und Beschäftigung deutlich verschärft. Eine Kombination dieser Faktoren deutet darauf hin, dass der COVID-19-Schock das Wohlstandsniveau der Haushalte in der Türkei ernsthaft beeinträchtigen wird, insbesondere das der armen und gefährdeten Menschen. Der Schock für die Haushaltseinkommen könnte die Armutsquote in der Türkei von 10,4% auf 14,4% erhöhen (WB 11.8.2020).

Nach einem starken Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) im dritten Quartal 2020 um 6,7%, verlangsamt sich das Wachstum in den Wintermonaten, bevor es ab Mitte 2021 wieder aufwärts gehen soll. Die türkische Wirtschaft ist wegen ihrer starken Einbindung in internationale Lieferketten den Folgen der Pandemie in starkem Maße ausgesetzt. Dazu kommt die hohe Abhängigkeit vom Tourismus, der von der Krise stark betroffen ist. Die ausufernde expansive Wirtschaftspolitik der letzten Jahre begrenzt den Handlungsspielraum der Regierung für weitere Maßnahmen zum Ankurbeln der Konjunktur. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostizierte einen Rückgang des BIP um real 5% und für 2021 einen Anstieg um 5%. Das Risiko einer Zahlungsbilanzkrise steigt. Investoren mahnen bereits seit längerem strukturelle Reformen ein und ziehen Kapital ab. Die Währungsreserven sind niedrig und drohen weiter zu sinken. Die Inflation ist hoch und die türkische Lira hat stark an Wert verloren. Die schwache Lira verteuert Importe und die Rückzahlung internationaler Kredite und somit die Durchführung von Projekten. Sie vergünstigt aber auch die türkischen Exporte. Positiv wirkt sich zudem der Ölpreisverfall aus, da die Türkei in hohem Maße auf Energieimporte angewiesen ist (GTAI 10.12.2020).

Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECDDurchschnitt die Staaten 20% des Brutto-Sozialproduktes für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).

In der Türkei sorgen in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1% des BIP (ÖB 10.2020).

 

Sozialbeihilfen/-versicherung

Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 24.8.2020). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 24.8.2020). Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 14.6.2019).

Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. „Milchgeld“ in einmaliger Höhe von 202 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 567 TL und 854 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.544 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2020 alle zwei Monate Anspruch auf 587 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 10.2020).

Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vgl. SSA 9.2018).

 

Arbeitslosenunterstützung

Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens drei Monaten bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40% des Durchschnittslohns, maximal jedoch 80% des Bruttomindestlohns. Nach Erhöhung des Mindestlohns im Jänner 2020 beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 1177 TL, der Maximalbetrag 2.853 TL. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (ÖB 10.2020). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 2020; vgl. ÖB 10.2020).

 

Wegen der Corona-Krise hat die Regierung die Regelung zur Kurzarbeit zugunsten der Arbeitnehmer geändert. Durch Gesetz Nr. 7226 vom 25.3.2020 wurde ein neuer Übergangsartikel geschaffen (Übergangsartikel 23). Dieser bestimmt, dass bei Kurzarbeitergeldanträgen aufgrund der Corona-Krise bis zum 20.6.2020 die Leistungsvoraussetzungen gelockert werden: Damit genügt es, dass der Versicherte in den vergangenen drei Jahren für 450 Tage (statt 600 Tage) Beiträge entrichtet hat. Auch muss er vor dem Leistungsanspruch lediglich 60 (statt 120) Tage ununterbrochen beschäftigt gewesen sein. Weiterhin wurde der Präsident ermächtigt, die Geltungsfrist dieser Bestimmung bis zum 31.12.2020 zu verlängern sowie die Maßstäbe für die Berechnung des Kurzarbeitergelds zu ändern. Mit der am 16.4.2020 verfügten Übergangsbestimmung des Gesetzes 7244 gilt ein Kündigungsverbot für alle Arbeitsverhältnisse für eine Dauer von drei Monaten. Dabei ist nicht von Belang, ob der Arbeitnehmer unter den Geltungsbereich des Arbeitsgesetzes fällt oder nicht. Eine Ausnahme besteht lediglich im Fall einer außerordentlichen (fristlosen) Kündigung (MPI-SR 20.6.2020).

 

Pension

Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Wenn der Begünstigte die Anforderungen erfüllt, erhält er eine monatliche Pension entsprechend der Höhe der Prämienzahlung.

Berechtigung:

• Staatsbürger über 18 Jahre

• Türken, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit ist anrechenbar)

• Ehepartner und Bürger ohne Beruf über 18 Jahren können eine Rente erhalten, wenn sie ihre Prämien für den gesamten oder einen Teil ihres Auslandsaufenthaltes in einer Fremdwährung an SGK, Bağkur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] gezahlt haben.

Voraussetzungen:

• Anmelden bei der Sozialversicherung SGK

• Hausfrauen müssen sich bei Bağkur anmelden

• Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr

 

Personen älter als 65 Jahre, Behinderte über 18 und Personen, mit Vormundschaft über Behinderte unter 18, erhalten eine monatliche Zahlung. Unmittelbare Familienangehörige des

Versicherten, der verstorben ist oder mindestens zehn Jahre gearbeitet hat, haben Zugang zu

Witwen- bzw. Waisenhilfe. Hat der Verstorbene mindestens fünf Jahre gearbeitet, erhalten seine Kinder unter 18, sowie Kinder in der Sekundarschule unter 20 und Kinder in höherer Bildung unter 25 Waisenhilfe (IOM 2020).

Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2% für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90%. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1.10.2008 erfolgte (SSA 9.2018). 2019 wurde eine Mindestrente eingeführt. Durch Gesetz Nr. 7226 vom 25.3.2020 wurde die Mindestrente auf 1.500 TL (200 Euro) angehoben. Wie viele Versicherte nun eine Mindestrente erhalten, lässt sich aus den Statistiken des Versicherungsträgers weiterhin nicht ablesen. Jedoch steht fest, dass auch dieser höhere Betrag nicht ausreichen wird, um die Grundbedürfnisse zu decken. Nach Angaben der TÜRK-İŞ – der Dachorganisation der Gewerkschaften – liegt (Stand März 2020) bei einer vierköpfigen Familie die Armutsgrenze bei 7.639,22 TL (1018,56 Euro) und die Hungergrenze bei 2.345,24 TL (312,69 Euro) (MPI-SR 20.6.2020).

 

Medizinische Versorgung

Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der „Nationalen Gesundheitsfürsorge“ und der „Sozialen Krankenkasse“ etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Rentner ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10% tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90% der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei Geburt um 70%, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3% des Bruttomindestlohnes der Türkei. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB 10.2020).

Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme

von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016c).

Seit 2017 wird das Gesundheitsversorgungswesen der Türkei neu organisiert, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden. Es handelt sich dabei zum Teil um riesige Komplexe, die über eine Belegkapazität von tausenden von Betten verfügen sollen und zum Teil auch schon verfügen. Im Rahmen der Reorganisation sollen insgesamt 31 Stadtkrankenhäuser mit mindestens 43.500 Betten entstehen. Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SR 20.6.2020).

Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und postoperationelle Versorgung dagegen oft mangelhaft, nicht zuletzt aufgrund der mangelhaften sanitären Zustände und Hygienestandards in den staatlichen Spitälern, vor allem in ländlichen Gebieten und kleinen Provinzstädten. NGOs, die sich um Bedürftige kümmern, sind in der Türkei vereinzelt in den Großstädten vorhanden, können jedoch kaum die Grundbedürfnisse der Bedürftigen abdecken (ÖB 10.2019). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 24.8.2020). Zur Behandlung von Drogenabhängigkeit wird allerdings nicht Methadon, sondern entweder eine Kombination aus Buphrenorphin+Naloxan oder Morphin angewandt (MedCOI 18.2.2020)

Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen.

Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 28 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Die aktuelle Kapazität wird mit Blick auf die wachsenden Patientenzahlen als noch unzureichend eingeschätzt, weshalb die Regierung einen Ausbau plant. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser (Ankara, Bursa) unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Krankenhäusern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 24.8.2020).

Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Beiträge sind einkommensabhängig und fangen bei 88,29 TL an (IOM 2020).

Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als

versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (IOM 2020).

 

Behandlung nach Rückkehr

Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das Allgemeine Informationssammlungssystem, das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das Zentrale Melderegistersystem (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020).

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn auf Grund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020).

Personen, die für die Abeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), türkische Hisbollah, Al-Qaida, den sogenannten Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern von der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 10.2020). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.).

Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen und Handlungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten deutschen Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 24.8.2020). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw, über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2020).

Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses mit einer bekanntlich gesuchten Person gleichsam in „Sippenhaft“ genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind. Allein 2020 wurden über ein Dutzend aus Österreich einreisende Personen unmittelbar nach ihrer Ankunft in der Türkei angehalten und, sofern sie nicht in Untersuchungshaft kamen, mit einer Ausreisesperre belegt (ÖB 10.2020).

Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 10.2020). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020; vgl. ÖB 10.2019). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. §3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 10.2019). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020).

Die Pässe türkischer Staatsangehöriger im Ausland, die von den türkischen Behörden der Beteiligung an der Gülen-Bewegung verdächtigt werden, werden für ungültig erklärt und durch einen Ein-Tages-Pass ersetzt, mit dem sie in die Türkei zurückkehren können, um vor Gericht gestellt zu werden, wo sie ihre Unschuld zu beweisen haben. Lehrer und Militärangehörige scheinen besonders betroffen zu sein, sowie kritische Journalisten und, darüber hinaus, Kurden (UKHO 2.2018).

Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem: Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com ; Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/ ; TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, EMail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 10.2020).

III. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen zur Identität und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Angaben in der Erstbefragung und im Verfahren vor der belangten Behörde sowie in der mündlichen Verhandlung in Zusammenschau mit einem (der belangten Behörde, nicht aber dem Bundesverwaltungsgericht im Original) vorgelegten türkischen Personalausweis (Farbkopie, AS 141 des ersten Verwaltungsverfahrensakts). Hierbei darf nicht völlig unberücksichtigt bleiben, dass es die belangte Behörde offenbar auch nicht für erforderlich erachtete, dieses ihr vorgelegte Dokument des Beschwerdeführers einer Überprüfung zuzuführen, weshalb die Identität und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers festgestellt werden kann. Auch die belangte Behörde stellte bereits fest, dass die Identität und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers feststehe (AS 548).

Dass der Beschwerdeführer Moslem ist, sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam bekennt, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe ist und die Sprachen Türkisch und Kurmandschi (Nordkurdisch) sowie in geringem Ausmaß Englisch beherrscht, sagte der Beschwerdeführer glaubhaft aus.

Die weiteren Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers, zu seiner Herkunft, zu seiner Schulausbildung sowie zu den sonstigen persönlichen und familiären Lebensumständen in der Türkei und in Österreich bzw. Europa waren – mit Ausnahme der Fragen nach dem Aufenthaltsort seiner in der Türkei lebenden Brüder, zum Kontakt zu seinen in der Türkei lebenden Familienangehörigen und zur Dauer seines Aufenthalts in Istanbul – auf der Grundlage von glaubhaften Angaben in den beiden vorangehenden Asylverfahren und im gegenständlichen – behördlichen und gerichtlichen – Verfahren sowie dem Verwaltungs- sowie Gerichtsakt zu treffen.

Es ist zwar naheliegend, dass sich seine in der Türkei lebenden Brüder – ebenso wie etwa seine Eltern und Schwestern – weiterhin in der südostanatolischen Provinz Şırnak befinden, zumal der Beschwerdeführer die Unkenntnis bezüglich deren Aufenthaltsorts mit einem Untertauchen dieser Personen vor einer Verfolgung auf Grund seiner bzw. deren politischen Gesinnung und Volksgruppenzugehörigkeit begründete, welche jedoch – wie nachstehend umfassend begründet – als unglaubhaft zu qualifizierten war. Insoweit der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren jedoch nicht bereit ist (vgl. AS 517 f; Seiten 7, 11 des Verhandlungsprotokolls), nähere Angaben zu deren Aufenthaltsort zu treffen, kann dieser dennoch nicht festgestellt werden.

Dass der Beschwerdeführer regelmäßig mit einem in Istanbul lebenden Onkel in Kontakt steht, brachte der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung selbst vor (Seite 8 des Verhandlungsprotokolls). Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb diese Angaben nicht stimmen sollten. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sie daher ohne Weiteres den Feststellungen zugrunde legen. In der Einvernahme vor der belangten Behörde am 28.10.2019 gab der Beschwerdeführer ferner an, dass er zuletzt vor etwa einem Monat – somit etwa Ende September 2019 – mit seinem Vater in telefonischem Kontakt gestanden sei und sie über Vorfälle im Landkreis XXXX – einem Militärgebiet – gesprochen hätten (AS 518). Widersprüchlich und auch nicht plausibel ist vor diesem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung am 03.05.2021 darlegte, in den letzten vier Jahren – somit seit etwa Mai 2017 – mit Ausnahme seines in Istanbul lebenden Onkels keinen Kontakt zu seinen Familienangehörigen gehabt zu haben (Seite 7f des Verhandlungsprotokolls). Wenig überzeugend wirken diese Ausführungen in der mündlichen Verhandlung bezüglich eines fehlenden Kontakts zu seinen Familienangehörigen (Seite 7f des Verhandlungsprotokolls) im Übrigen auch, da der Beschwerdeführer beispielsweise gleichzeitig schilderte, dass er bei seiner Familie anrufen würde, wenn er eine finanzielle Unterstützung benötige, wobei ansonsten nichts besprochen würde (Seiten 7 und 11 des Verhandlungsprotokolls). An anderer Stelle führte der Beschwerdeführer wiederum aus, dass er seine Eltern anrufen würde, weil er die Stimme seiner Mutter hören und wissen wolle, ob es dieser gut gehe (Seite 8 des Verhandlungsprotokolls). Die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers wird durch diese implausiblen Angaben ebenfalls erschüttert. Es zeigt sich außerdem, dass der Beschwerdeführer sein Vorbringen – wie nachstehend auch zur Frage der Dauer seines Aufenthalts in Istanbul und der legalen Ausreise aus der Türkei im Jahr 2010 – geradezu beliebig abändert und sichtlich nicht davor zurückschreckt, gegenüber österreichischen Behörden wahrheitswidrige Angaben zu machen. Da, wie das Bundesverwaltungsgericht noch näher darlegen wird, das Vorbringen des Beschwerdeführers zu den angeblichen Problemen seiner Person und seiner Familie auf Grund der (unterstellten) politischen Gesinnung und der Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe nicht glaubhaft ist, sind auch die Ausführungen, weshalb der Kontakt nicht mehr bestehen soll, die im Übrigen sehr oberflächlich blieben, nicht nachvollziehbar. Infolge der oberflächlichen und nicht glaubhaften Antworten des Beschwerdeführers konnte das Bundesverwaltungsgericht keine Feststellung in dem Sinne treffen, dass aktuell der Kontakt des Beschwerdeführers zu sämtlichen anderen Familienangehörigen abgebrochen ist.

Die Feststellungen zu den beiden vorangegangen Asylverfahren, zur Dauer und zur Beständigkeit des Aufenthalts des Beschwerdeführers im Bundesgebiet sowie zum Nichtvorliegen eines Aufenthalts- und/oder Niederlassungstitels – außerhalb des bloß vorübergehenden Aufenthaltsrechts im Rahmen seiner Asylverfahren – für Österreich ergeben sich aus dem vorgelegten Verwaltungsverfahrensakt, insbesondere auf Grund der im Akt aufliegenden Ausfertigung des Bescheides des BFA vom 29.01.2021, sowie aus den Akten des Bundesverwaltungsgerichts zu den Verfahren L502 2105371-1 und L502 2105371-2 betreffend den Beschwerdeführer in Zusammenschau mit den Eintragungen im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister.

Dass der Beschwerdeführer die Türkei erstmals im Jahr 2007 verließ, dabei über die Tschechische Republik, wo er am 31.10.2007 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte, in die Bundesrepublik Deutschland gelangte und von dort im Jänner 2008 wieder in die Tschechische Republik überstellt wurde, von wo er im April 2008 freiwillig in die Türkei zurückkehrte, ergibt sich aus den Schilderungen des Beschwerdeführers in den Einvernahmen vor der belangten Behörde (AS 517) und in der mündlichen Verhandlung (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls) in Zusammenschau mit dem vorliegenden Eurodac-Treffer (AS 33 des ersten Verwaltungsverfahrensakts) und dem Antwortschreiben der tschechischen Behörden auf ein Informationsersuchen des Bundesasylamts nach Art. 21 Dublin II-VO (AS 285 des ersten Verwaltungsverfahrensakts). Die Feststellungen, dass sich der Beschwerdeführer nach seiner Rückkehr in die Türkei im April 2008, abgesehen von kurzfristigen Besuchen des Heimatdorfs, überwiegend in Istanbul aufhielt, wo er bei einem Onkel und seinem älteren Bruder wohnhaft und im Unternehmen dieses Onkels als Buchhalter tätig war, ergeben sich aus dem Akt des Bundesverwaltungsgerichts zur Zahl L502 2105371-1, insbesondere dem im Akt aufliegenden Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.11.2015. Dennoch darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren sowohl vor der belangten Behörde (AS 517) als auch in der mündlichen Verhandlung (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls) versuchte, die österreichischen Behörden über die Dauer seines Aufenthalts in Istanbul zu täuschen. So legte der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor der belangten Behörde am 28.10.2019 lediglich dar, nach seiner Rückkehr öfters – zum Schluss ca. zwanzig Tage – in Istanbul gewesen zu sein. In der mündlichen Verhandlung am 03.05.2021 führte der Beschwerdeführer wiederum aus, sich nicht mehr an das „Datum“ seines Aufenthalts erinnern zu können bzw. nach seiner Rückkehr wieder kurze Zeit in Istanbul gewesen zu sein. Diese von seinen ursprünglichen Schilderungen im Erstverfahren abweichenden Ausführungen zu seinem Aufenthalt in Istanbul nach seiner Rückkehr im Jahr 2008 vermögen zu diesem späten Verfahrenszeitpunkt nicht zu überzeugen, weshalb nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auch aus diesem Grunde weitere Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers angebracht sind. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Beschwerdeführer im Erstverfahren selbst einen türkischen Personenstandsregisterauszug (AS 231 des ersten Verwaltungsverfahrensakts) vorlegte, welchem entnommen werden kann, dass der Beschwerdeführer ab Mai 2009 in Istanbul seinen Wohnsitz hatte, was vom Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht im Erstverfahren folglich auch bestätigt wurde (Seite 8f des Verhandlungsprotokolls vom 20.10.2015). Insoweit der Beschwerdeführer im Zuge dieser mündlichen Verhandlung im Erstverfahren zudem erläuterte, in diesen zwei Jahren nach seiner Rückkehr bei seinem Onkel in der Buchhaltung in dessen Textilunternehmen gearbeitet zu haben (Seite 9 des Verhandlungsprotokolls vom 20.10.2015), erscheint es lebensfremd und geradezu widersinnig, anzunehmen, dass sich der Beschwerdeführer nach der Rückkehr im Jahr 2008 nur kurze Zeit in Istanbul aufgehalten haben soll.

Dass der Beschwerdeführer die Türkei am 28.09.2010 ausgehend von Istanbul auf dem Luftweg unter Verwendung seines eigenen türkischen Reisepasses und eines Visums für die Russische Föderation legal in Richtung Wien verließ, ergibt sich ebenfalls aus dem Akt des Bundesverwaltungsgerichtes zur Zahl L502 2105371-1, insbesondere dem im Akt aufliegenden Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.11.2015. Insoweit der Beschwerdeführer nunmehr im gegenständlichen Verfahren behauptete, noch nie einen Reisepass besessen zu haben und erst im September 2010 aus der Türkei ausgereist zu sein, da er drei Jahre einen Weg zur illegalen Ausreise gesucht habe (AS 516, 520), so ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer letztere Ausführungen erst auf einen Vorhalt/eine Frage, weshalb konkret er noch drei Jahre in der Türkei verblieben sei, traf. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass sich der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren hierbei in bloßen Ausflüchten erging. Hätte der Beschwerdeführer die Türkei im Jahr 2010 tatsächlich illegal verlassen müssen, hätte der Beschwerdeführer diesbezüglich bereits im Erstverfahren (nähere) Angaben gemacht und nicht ausgeführt, seinen türkischen Reisepass auf dem Flug nach Wien zerrissen und in der Flugzeugtoilette entsorgt zu haben (AS 5 des ersten Verwaltungsverfahrensakts). Abschließend ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die Vernichtung des türkischen Reisepasses während des Fluges nach Wien – offenbar um nicht in die Türkei zurückgeschickt zu werden – seine mangelnde Kooperationsbereitschaft mit den österreichischen Behörden zeigt und dies auch nicht zu seiner persönlichen Glaubwürdigkeit beiträgt.

Wann der Beschwerdeführer den dritten Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist in unbedenklichen Urkunden/Unterlagen dokumentiert (AS 3 ff) und wurde nicht in Zweifel gezogen.

Dass der Beschwerdeführer die deutsche Sprache für den Alltagsgebrauch beherrscht, Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache besuchte, jedoch noch keine Deutschprüfungen ablegte, wurde unter Berücksichtigung seines mehrjährigen Aufenthalts auf Grund der diesbezüglichen Ausführungen des Beschwerdeführers in den beiden vorangegangenen Asylverfahren, in den Einvernahmen vor der belangten Behörde (AS 247, 516) und in der mündlichen Verhandlung (Seite 4 des Verhandlungsprotokolls) im gegenständlichen Verfahren sowie der nicht erfolgten Vorlage von Zertifikaten oder anderen Nachweisen hinsichtlich der Ablegung einer Deutschprüfung festgestellt.

Dass der Beschwerdeführer im Zuge der zuletzt verbüßten Strafhaft eine berufliche Ausbildung zum Gärtner absolvierte und im Zeitraum von 04.07.2017 bis 11.02.2021 Versicherungszeiten gemäß § 66a AlVG erwarb, sagte der Beschwerdeführer glaubhaft aus und ist urkundlich hinreichend nachgewiesen. Die Feststellungen, dass der Beschwerdeführer weder ehrenamtlicher/gemeinnütziger Arbeit noch legaler Erwerbsarbeit nachgeht und nicht Mitglied eines Vereins oder einer sonstigen Organisation in Österreich ist, ergeben sich aus seinen Angaben vor der belangten Behörde (AS 247, 515 f) und in der mündlichen Verhandlung (Seite 3 f des Verhandlungsprotokolls).

Die Feststellungen zu den Verurteilungen des Beschwerdeführers, den diesen Verurteilungen zugrundeliegenden Tathandlungen und den jeweiligen Strafzumessungsgründen ergeben sich aus den angeführten Urteilen.

Die Feststellungen zur Dauer der vom Beschwerdeführer verbüßten Haftstrafen und zur am 12.02.2021 erfolgten bedingten Entlassung aus der Haft basieren auf einer Vollzugsinformation der Justizanstalt Hirtenberg vom 03.05.2021.

Dass der Beschwerdeführer von 05.10.2010 bis 04.03.2011, von 31.03.2011 bis 02.05.2012 und von 27.09.2015 bis 28.09.2015 Leistungen aus der Grundversorgung bezog, er seit 02.06.2021 erneut bei der staatlichen Grundversorgung gemeldet ist und seit 16.06.2021 (voraussichtlich bis 11.01.2022) Arbeitslosengeld in der Höhe von täglich Euro 26,62 bezieht, ist einem aktuellen Auszug aus dem Betreuungsinformationssystem zu entnehmen. Die Feststellungen betreffend die Finanzierung seines Lebensunterhalts in Österreich ergeben sich schließlich ebenfalls aus dem angefertigten Auszug aus dem Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich in Zusammenschau mit den Aussagen des Beschwerdeführers in den vorangegangen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung im gegenständlichen Verfahren (vgl. Seite 4 des Verhandlungsprotokolls).

Den Feststellungen zum Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich liegen die Aussagen des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zugrunde. Das Bundesverwaltungsgericht stellt insgesamt nicht in Abrede, dass der Beschwerdeführer verschiedene private Kontakte unterhält. Hinweise auf eine einem Familienleben entsprechende Beziehung gibt es – angesichts der Darstellung der Kontakte und der unterbliebenen Vorlage von Unterstützungserklärungen – nicht.

Dass der Beschwerdeführer seit 06.09.2011 geschieden ist, ist durch die Kopie einer türkischen Scheidungsurkunde urkundlich hinreichend nachgewiesen (AS 591 des ersten Verwaltungsverfahrensakts). Dass der Beschwerdeführer keine Verwandten in Österreich hat, kinderlos ist und seit etwa Mitte März 2021 eine Beziehung mit einer Frau führt, war auf Grund seiner eigenen glaubhaften Aussagen festzustellen (AS 515, Seite 4 des Verhandlungsprotokolls). Die Feststellungen zu den in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Familienangehörigen, dem in Frankreich lebenden Onkel väterlicherseits und der in der in der Schweizerischen Eidgenossenschaft lebenden Tante mütterlicherseits, insbesondere zum Fehlen eines ein- oder wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem erwachsenen Beschwerdeführer und diesen Familienangehörigen, folgt im Wesentlichen den Aussagen des Beschwerdeführers in dessen Verfahren, wobei kein Grund für das Bundesverwaltungsgericht besteht, an diesen Ausführungen zu zweifeln. Hinsichtlich der Beziehung zu diesen Verwandten finden sich auch keine Anhaltspunkte, die für eine besondere Beziehungsintensität und emotionale Nähe sprechen. Selbiges gilt im Übrigen für die Beziehung des Beschwerdeführers zu seiner in Österreich befindlichen Freundin.

Die Feststellungen zur in der Kindheit erlittenen, jedoch medizinisch nicht adäquat versorgten Verletzung des linken Oberarms und zur in der Türkei sowie später in Österreich diesbezüglich behördlich festgestellten Minderung der Erwerbsfähigkeit beruhen auf den vom Beschwerdeführer bereits im Erstverfahren selbst vorgelegten medizinischen – türkischen und österreichischen – Unterlagen (etwa AS 233, 379 ff, 511 ff des ersten Verwaltungsverfahrensakts). Die Feststellungen, dass der Beschwerdeführer nach der Entfernung der Schilddrüse zudem in medikamentöser Behandlung steht, ansonsten jedoch an keiner maßgeblichen gesundheitlichen Einschränkung leidet und keiner Risikogruppe für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung angehört, ergibt sich aus den Angaben des Beschwerdeführers in der Erstbefragung (AS 5), vor der belangten Behörde (AS 217, 237, 245, 514) und in der mündlichen Verhandlung (Seite 2f des Verhandlungsprotokolls). Dass der Beschwerdeführer aktuell Gründe haben könnte, insofern wahrheitswidrige Aussagen zu tätigen, ist nicht ersichtlich. Die Feststellungen betreffend die – eingeschränkte –Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers beruhen auf dessen Ausführungen in den vorangegangen Asylverfahren und im gegenständlichen Verfahren im Hinblick auf die mehrjährige Schulausbildung im Herkunftsstaat und die in der Türkei und in Österreich erworbene Berufserfahrung als Buchhalter bzw. Gärtner. Ferner brachte der Beschwerdeführer – wie zuvor erörtert – keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen vor, welche die Arbeitsfähigkeit völlig beeinträchtigen würden. In Anbetracht der Schulbildung, Berufserfahrung und der Sprachkenntnisse geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass es dem Beschwerdeführer – entgegen den Ausführungen in der Beschwerde (AS 651) – möglich und zumutbar ist, durch Aufnahme einer unselbständigen oder selbständigen Tätigkeit ein ausreichendes Einkommen zur Selbsterhaltung zu erwirtschaften, zumal der Beschwerdeführer auch in Österreich in seinen Asylverfahren mehrfach betonte, im Bundesgebiet bei Erhalt eines Aufenthaltstitels einer Beschäftigung nachgehen zu wollen.

Der Beschwerdeführer hielt sich zur Zeit des versuchten Militärputschs in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 nicht in der Türkei auf, eine Beteiligung am Militärputsch ist demnach nicht anzunehmen und kann auch den Aussagen des Beschwerdeführers nicht entnommen werden. Der Beschwerdeführer brachte auch weder vor der belangten Behörde, noch vor dem Bundesverwaltungsgericht glaubhaft ernsthafte Kontakte mit der Gülen-Bewegung, geschweige denn eine Mitgliedschaft ebendort, zum Ausdruck.

Sowohl in den beiden vorangegangen Asylverfahren als auch im gegenständlichen Verfahren (AS 521, Seite 10 des Verhandlungsprotokolls) bezog sich der Beschwerdeführer, nach seinen Ausreisegründen befragt, auf frühere Ereignisse in seinem Heimatdorf im äußersten Osten der Türkei, einem überwiegend von Angehörigen der kurdischen Volksgruppe bewohnten Landesteil, der insbesondere auch im vom Beschwerdeführer angesprochenen Zeitraum zwischen 1990 und 1993 Schauplatz gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Freiheitskämpfern war, weshalb dort über Jahre hinweg behördlich auch der Ausnahmezustand verhängt worden war. Vor diesem Hintergrund kam es u.a. zu Razzien türkischer Sicherheitskräfte in kurdischen Dörfern, unter denen auch die Zivilbevölkerung in Form von gewaltsamen Übergriffen zu leiden hatte. Dieses Szenario war als notorisch anzusehen und bedurfte aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts keiner weiteren Beweisführung.

Im Lichte dieser Ereignisse stellte es sich folglich auch als plausibel dar, dass der im Jahr 1987 geborene Beschwerdeführer behaupteter Weise im Jahr 1990 als dreijähriges Kind ein indirektes Opfer der allgemeinen Ereignisse in der Form wurde, dass er, ausgehend von der Misshandlung seiner Mutter durch türkische Militärs, durch einen Sturz auf den Boden eine schwere Verletzung des linken Armes in Form eines Knochenbruches erlitt (Seite 8 des Verhandlungsprotokolls). Dass diese Verletzung offenkundig nicht bzw. nicht hinreichend medizinisch behandelt worden war, stellte sich nicht nur angesichts einer schon mit freiem Auge erkennbaren Einschränkung der Funktionsfähigkeit des linken Arms des Beschwerdeführers ebenso als plausibel dar.

Dass sich der Beschwerdeführer auf Grund dieser Ereignisse sowie allfälligen weiteren Erfahrungen in ähnlicher Form in der engeren Heimat im oben angesprochenen Zeitraum durch die türkischen Behörden schikaniert fühlt, war für das Bundesverwaltungsgericht ebenso nachvollziehbar, wie eine beim Beschwerdeführer damals entstandene grundsätzliche Abneigung gegenüber türkischen Behördenvertretern bzw. insbesondere Sicherheitskräften. Wie bereits im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.11.2015 im Erstverfahren festgehalten, hat der Beschwerdeführer für den weiteren Zeitraum bis zur erstmaligen Ausreise aus der Türkei im Jahr 2007 jedoch keine konkreten Ereignisse behauptet, aus denen auf eine behördliche Verfolgung zu schließen gewesen wäre, ebenso wie er diese Ausreise selbst auch nicht als Ausfluss von Verfolgungshandlungen darstellte. Des Weiteren legte der Beschwerdeführer ein derartiges Vorbringen auch weder im Erst- und Zweit- noch im gegenständlichen Verfahren bezüglich der Ausreise im Jahr 2010 dar (vgl. AS 520 f) und ist für das Bundesverwaltungsgericht weder in den beiden vorangegangen Verfahren noch im gegenständlichen Verfahren ein sonstiger stichhaltiger Ansatzpunkt für die Annahme, dass der Beschwerdeführer in diesem Zeitraum zum Ziel behördlicher Verfolgung geworden sein könnte, glaubhaft hervorgekommen. So gestand der Beschwerdeführer im Zuge der Einvernahme vor der belangten Behörde am 28.10.2019 selbst ein, dass es keinen fluchtauslösenden Grund für das Verlassen der Türkei im Jahr 2010 gegeben habe. Es habe sich für ihn erst im Jahr 2010 die Möglichkeit geboten, sein Herkunftsland illegal zu verlassen (AS 520f). Bezüglich Letzterem erlaubt sich das Bundesverwaltungsgericht auf die vorangehenden Ausführungen zu verweisen, aus denen sich zweifelsfrei ergibt, dass der Beschwerdeführer die Türkei im Jahr 2010 nicht illegal, sondern auf legalem Wege verlassen hat, womit sich bereits zeigt, dass diese Schilderungen des Beschwerdeführers nicht der Wahrheit entsprechen. Nochmals explizit befragt, weshalb er nun im Jahr 2010 nochmals ausgereist sei, traf der Beschwerdeführer abermals keine konkreten Ausführungen. Stattdessen erwiderte er – die Fragestellung ignorierend – wörtlich: „Wenn man mich mit Handschellen und Augenverband in die Türkei anschieben würde, würde ich noch am selben Tag nach einer Möglichkeit suchen aus der Türkei auszureisen. Wenn ich während dieser Zeit nicht umgebracht oder festgenommen werde.“ (AS 521). Ein Vorbringen zu einem fluchtauslösenden Ereignis erbrachte der Beschwerdeführer hingegen nicht (vgl. auch die Ausführungen des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung im Rahmen derer der Beschwerdeführer abermals auf die Vorfälle in seiner Kindheit verweist; Seite 10 des Verhandlungsprotokolls).

Insoweit erscheint es zunächst nicht unplausibel, dass die damalige gesundheitliche Verfassung des Beschwerdeführers und die Möglichkeit einer Behandlung der Armverletzung in Österreich (vgl. AS 77 des ersten Verwaltungsverfahrensakts) Grundlage einer Ausreiseentscheidung des Beschwerdeführers gewesen sein kann.

Dem steht indes gegenüber, dass eine individuelle Bedrohungssituation vor der endgültigen Ausreise im September 2010 vom Beschwerdeführer – abgesehen von der vorangehend aufgezeigten mangelnden persönlichen Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers – nicht glaubhaft aufgezeigt wurde, zumal sich das Vorbringen des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie vor der belangten Behörde aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts gänzlich diffus und vage gestaltete, ferner war es durch maßgebliche Widersprüche in zentralen Punkten gekennzeichnet und hielt es der Beschwerdeführer für erforderlich, sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens zu steigern, es ist demzufolge zur Glaubhaftmachung eines bestimmten Sachverhalts ungeeignet.

Zunächst ist hervorzuheben, dass die bereits im Erstverfahren geäußerten – und in den folgenden Verfahren modifizierten – Behauptungen des Beschwerdeführers, bei seiner Rückkehr aus der Tschechischen Republik im April 2008 unmittelbar nach der Ankunft am Flughafen Opfer sicherheitsbehördlicher Maßnahmen in Form einer mehrtägigen Anhaltung, verbunden mit gewaltsamen Übergriffen in Form von Schlägen sowie mit verbalen Erniedrigungen geworden und in der Folge auch einem Staatsanwalt vorgeführt worden zu sein, aus folgenden Gründen in dieser Form als nicht glaubhaft zu würdigen waren. So fand sich im Erstverfahren weder in der Erstbefragung (AS 1 ff des ersten Verwaltungsverfahrensakts) noch in der nachfolgenden ausführlichen Einvernahme in der Erstaufnahmestelle des Flughafens nach der Einreise im Jahr 2010 (AS 59 ff des ersten Verwaltungsverfahrensakts) irgendein Hinweis auf diese erst später behaupteten Ereignisse, während der Beschwerdeführer demgegenüber ausdrücklich klarstellte, dass er über das sonst Gesagte hinaus keine anderweitigen Ausreise- bzw. Antragsgründe vorzubringen habe. Bereits dieser Ablauf weckt maßgebliche Zweifel am späteren anderslautenden Vorbringen. Erst auf Vorhalt in der nachfolgenden Einvernahme im Jänner 2011 (AS 359 ff des ersten Verwaltungsverfahrensakts), dass sein früherer Aufenthalt in der Tschechischen Republik sowie seine freiwillige Rückkehr in die Türkei im Jahr 2008 aktenkundig geworden seien, behauptete der Beschwerdeführer erstmals, er sei damals festgenommen, misshandelt, dem Staatsanwalt vorgeführt und bestraft worden. Ihm sei vorgeworfen worden, dass er im Ausland „gegen die Türkei propagiert“ und dort einen Asylantrag gestellt habe. Auf Nachfrage legte er weiter dar, er sei am Flughafen für 24 Stunden festgehalten und danach zu einem Polizeistützpunkt gebracht, in der Folge einem Staatsanwalt vorgeführt und sei von diesem gegen ihn „eine Strafe“, die „später in eine Geldstrafe umgewandelt wurde“, verhängt worden. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht im Erstverfahren dazu nochmals befragt behauptete er zwar neuerlich, er sei nach der Rückkehr im Jahr 2008 am Flughafen festgenommen und ein bis zwei Tage lang angehalten worden, wobei er auch geschlagen und beschimpft sowie verbal erniedrigt worden sei, und habe es danach auch ein Strafverfahren gegen ihn gegeben, auf Nachfrage verneinte er jedoch, dass er „bei den Verhandlungen“ anwesend gewesen sei, auch wisse er nicht „was dabei herausgekommen sei“. Auf Vorhalt seiner anderslautenden Aussage vor dem Bundesasylamt vermeinte er neuerlich, er wisse nicht „was tatsächlich entschieden wurde“, eine Geldstrafe sei wohl gegen ihn verhängt worden, aber „da wurde das Urteil noch nicht verkündet“. Auf Vorhalt seiner früheren Aussage, dass er einem Staatsanwalt vorgeführt und eine erhebliche Geldstrafe gegen ihn verhängt worden sei, vermeinte er sodann, dass dies so gewesen sei (Seite 11 des Verhandlungsprotokolls vom 20.10.2015). Bei genauerer Betrachtung dieser Aussagen des Beschwerdeführers wurde jedoch nicht nachvollziehbar, welchen Verlauf dieses von ihm behauptete Strafverfahren tatsächlich genommen haben soll, zumal die entsprechenden Angaben verworren, sich widersprechend und zum Teil realitätsfremd waren. In dieses Bild passt es schließlich auch, dass der Beschwerdeführer sein Vorbringen zu dieser Thematik im gegenständlichen Verfahren erneut im Zuge der gestellten Fragen und Vorhalte vor der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht abänderte. So schilderte der Beschwerdeführer im Zuge der Einvernahme vor der belangten Behörde im Oktober 2019, dass er nach seiner Rückkehr im Jahr 2008 sogleich am Flughafen festgenommen und geschlagen worden sei. Des Weiteren führte er nunmehr aus, dass er nicht einmal wisse, wie lange er angehalten worden sei, nur um im Folgesatz zu behaupten, dass er zwei oder drei Tage am Flughafen festgehalten worden sei (AS 520). An anderer Stelle erwähnte der Beschwerdeführer dann, dass er des Öfteren dem Staatsanwalt vorgeführt worden sei, welcher ihn jedes Mal freigelassen habe, wobei er jedoch auch jedes Mal psychisch und physisch gefoltert worden sei (AS 522). Eine Geldstrafe erwähnte er hingegen mit keinem Wort. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 03.05.2021 beschränkte sich der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren wiederum auf die oberflächlichen Ausführungen, nach seiner Rückkehr am Flughafen große Probleme gehabt zu haben. Er sei angehalten, geschlagen und psychischem Druck ausgesetzt worden. Anschließend sei er am Gericht gewesen. Sein Onkel habe ihn aus der Haft geholt und sei der Prozess weitergeführt worden (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls).

Von Entscheidungsrelevanz erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass länderkundlichen Informationen zufolge die illegale Ein- und Ausreise in die bzw. aus der Türkei zwar grundsätzlich strafbar ist, dass der Beschwerdeführer im Jahr 2007 die Türkei illegal verlassen hätte, wurde von ihm aber im Erstverfahren nicht behauptet, vielmehr verwies er darauf, dass er sich 2007, also vor der Ausreise, in Istanbul ein nationales Reisedokument ausstellen hat lassen. Auch die Rückkehr aus der Tschechischen Republik im Jahr 2008 sei seiner Aussage nach offiziell mit Hilfe der Internationalen Organisation für Migration – der Migrationsorganisation der Vereinten Nationen – erfolgt. Diese Organisation unterstützt notorischer Weise eine solche Rückkehr wiederum nur nach Vorlage eines nationalen Reisedokuments und erfolgt eine Wiedereinreise in das Herkunftsland im Rahmen einer solchen Rückführung in der Folge auf legale Weise. Im Übrigen reiste der Beschwerdeführer auch bei seiner zweiten Ausreise aus der Türkei im Jahr 2010 auf legale Weise unter Verwendung seines zuvor erneuerten nationalen Reisedokuments aus, wie er vor dem Bundesasylamt darlegte. Aus der Zusammenschau dessen war sohin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu folgern, dass der Beschwerdeführer dem von ihm behaupteten Strafverfahren nie unterworfen war.

Was die erstmals im gegenständlichen Verfahren erwähnte Inhaftierung von Familienangehörigen (Vater und Brüder) nach dem gescheiterten Putschversuch und einer ihm in diesem Zusammenhang ebenfalls drohenden Inhaftierung betrifft, so ist vorab anzumerken, dass der Beschwerdeführer sein Vorbringen dahingehend beträchtlich steigerte, dass er nunmehr in einer Stellungnahme bezüglich der ihm am 12.03.2018 zur Kenntnis gebrachten Länderinformationen sowie in den folgenden Einvernahmen und der Beschwerde erstmals vorbrachte, er bzw. seine Familie hätten mit der Arbeiterpartei Kurdistans sympathisiert bzw. sei er deklarierter Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans, politisch engagiert und habe an Demonstrationen für die kurdischen Belange teilgenommen (AS 252, 520, 649 ff; Seite 6, 9 des Verhandlungsprotokolls). Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts handelt es sich bei diesen Schilderungen grundsätzlich um ein erhebliches Vorbringen. Dementsprechend überrascht, dass der Beschwerdeführer derartiges weder im Erstverfahren noch im Zweitverfahren oder im gegenständlichen Verfahren in der Erstbefragung oder den Einvernahmen vor der belangten Behörde am 12.12.2016, 02.02.2018, 26.02.2018 und 12.03.2018 vorbrachte. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts ist diese Steigerung des Vorbringens in einem Kernpunkt der vorgebrachten Asylgründe ein weiteres Indiz für die Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers und folglich der Unglaubhaftigkeit der geltend gemachten Ausreisegründe, hatte doch der Beschwerdeführer bereits in den beiden vorangegangen Asylverfahren und seinen zuvor angeführten Einvernahmen vor dem BFA im gegenständlichen Verfahren die umfassende Möglichkeit, sämtliche Ausreisegründe vorzubringen. Bei diesen erstmals in der Stellungnahme sowie später erneut geschilderten Angaben handelt es sich um eine klare Steigerung des Vorbringens des Beschwerdeführers, welches angesichts der in den beiden vorangegangen ab- und zurückweisenden rechtskräftigen Entscheidungen der belangten Behörde konstruiert wurde, vermutlich zu dem Zweck, um seinem Antrag auf internationalen Schutz mehr Substanz zu verleihen, was sich auch daran zeigt, dass im Erstverfahren in der Eingabe des Beschwerdeführers vom 21.04.2011 in Form einer Sachverhaltsergänzung noch in den Raum gestellt wurde, dass „die Angehörigen der Herkunftsfamilie des Beschwerdeführers vor dem Hintergrund der allgemeinen Lage in der engeren Heimat des Beschwerdeführers von den türkischen Behörden stets als Sympathisanten kurdischer Freiheitskämpfer angesehen und deshalb Hausdurchsuchungen und gewaltsamen Übergriffen ausgesetzt gewesen seien“. Zu diesem Zeitpunkt brachte der Beschwerdeführer somit lediglich zum Ausdruck, dass ihm und seiner Familie diese Sympathie für die kurdischen Freiheitskämpfer vor dem Hintergrund der allgemeinen Lage von den türkischen Sicherheitskräften unterstellt werde. Dass es sich bei ihm und seiner Familie tatsächlich um deklarierte Sympathisanten der Arbeiterpartei Kurdistans handeln würde, erwähnte er hingegen nicht. Dazu tritt, dass sich diese Ausführungen des Beschwerdeführers im Ergebnis als vage und inhaltsleer darstellen. Es verbleibt vielmehr der Eindruck, dass der Beschwerdeführer hiermit den Versuch unternahm, mit einem nochmals gesteigerten Vorbringen das behauptete Interesse der türkischen Behörden an seiner Person zu plausibilisieren. Tatsächlich war die Steigerung des Vorbringens der Glaubwürdigkeit der Position des Beschwerdeführers abträglich.

Anzumerken ist auch, dass sich der Beschwerdeführer laut seinen Angaben im Erstverfahren vor seiner Ausreise aus seinem Heimatstaat im Jahr 2010 seinen türkischen Reisepass erneuern ließ. Dies spricht ebenfalls gegen die Ausführungen des Beschwerdeführers, zumal bei tatsächlich vorliegender Verfolgung durch die türkischen Sicherheitsbehörden die Verlängerung eines auf seinen Namen lautenden Reisepasses durch das Passamt in seinem Herkunftsstaat nicht so unproblematisch vonstattengehen würde bzw. wäre dem Beschwerdeführer im Falle einer tatsächlich behördlichen Verfolgung kein zur Ausreise berechtigendes Dokument ausgestellt worden. Zudem brachte der Beschwerdeführer nicht zum Ausdruck, dass es bei der Grenzkontrolle Probleme gegeben hätte und spricht auch dieser Umstand dafür, dass gegen den Beschwerdeführer in der Türkei nichts vorliegt bzw. er in der Türkei keiner asylrelevanten Verfolgung unterliegt.

Wäre die – seitens des Beschwerdeführers in den Raum gestellte – Bedrohung und Verfolgung durch die türkischen Behörden indes tatsächlich gegeben, hätte der Beschwerdeführer damit rechnen müssen, dass die Verlängerung der Gültigkeitsdauer des Reisepasses verweigert wird oder er auf die Fahndungsliste gesetzt wird. Gerade derartige Reisevorbereitungen (Verlängerung eines Reisepasses, Beantragung eines Visums bei den russischen Vertretungsbehörden in der Türkei) lassen auf eine geplante, vorbereitete Ausreise schließen, und kontraindizieren die Annahme einer auf gegründeter Furcht basierenden Flucht.

Gegen die behauptete staatliche Verfolgung spricht ferner das dargelegte Verhalten des Beschwerdeführers nach seiner Rückkehr im April 2008. Anstatt sich seinen staatlichen Verfolgern unmittelbar durch Flucht ins Ausland erneut zu entziehen, war der Beschwerdeführer weiterhin in Istanbul aufhältig und ging dort zumindest zeitweise einer beruflichen Beschäftigung nach. Insoweit verblieb der Beschwerdeführer noch über mehrere Jahre in der Türkei und damit im Einflussbereich seiner Gegner, obwohl er damit rechnen musste, von seinen Verfolgern gefunden zu werden. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts muss davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer im Fall der tatsächlichen Konfrontation mit einer ernsthaften, gegen sein Leben gerichteten Bedrohung die Türkei umgehend verlassen hätte, um sich der Gefahr zu entziehen. Insoweit der Beschwerdeführer nunmehr im gegenständlichen Verfahren behauptete, noch nie einen Reisepass besessen zu haben und erst im September 2010 aus der Türkei ausgereist zu sein, da er drei Jahre einen Weg zur illegalen Ausreise gesucht habe (AS 516, 520), so erlaubt sich das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang auf die vorangehenden Ausführungen zu verweisen, die widerlegen, dass dem Beschwerdeführer eine legale Ausreise mit seinem eigenen Reisepass nicht möglich gewesen wäre.

Ferner war für das Bundesverwaltungsgericht zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren im Zuge der Einvernahmen vor der belangten Behörde bzw. in der mündlichen Verhandlung widersprüchliche Aussagen zum Zeitpunkt der Inhaftierung seines Vaters tätigte. So legte der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor der belangten Behörde am 12.12.2016 ursprünglich dar, dass sich sein Vater seit sieben Monaten – somit seit Mitte Mai 2016 – in Haft befinde (AS 221). Im Anschluss erläuterte der Beschwerdeführer hingegen, dass es im Sommer in der Türkei einen Putschversuch gegeben habe und sein Vater und seine Brüder deshalb in Haft seien (AS 223). Insoweit der Putschversuch jedoch in der Nacht vom 15. Juli auf den 16. Juli 2016 stattfand, erscheint es unmöglich, dass sich der Vater des Beschwerdeführers aus diesem Grunde bereits seit Mai 2016 in Haft befunden haben soll. Abweichend von diesen Ausführungen gab der Beschwerdeführer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung schließlich an, dass die Inhaftierung seines Vaters im Jahr 2017 erfolgt sein müsste (Seite 11 des Verhandlungsprotokolls).

Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer die Schilderungen bezüglich einer Inhaftierung seiner Brüder im Rahmen der Einvernahmen vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gravierend modifiziert. Insoweit gestalteten sich die Schilderungen des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde bzw. in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in einem wesentlichen Punkt als nicht übereinstimmend. So führte der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren – wie im Übrigen auch bereits in der Erstbefragung – in der Einvernahme vor der belangten Behörde am 12.12.2016, in der Beschwerde und später in der mündlichen Beschwerdeverhandlung an, dass auch seine Brüder festgenommen bzw. in Haft gewesen seien (AS 7, 221, 647, 651; Seite 7 des Verhandlungsprotokolls). Gegen Ende der mündlichen Verhandlung schilderte der Beschwerdeführer dann hingegen auf Befragung durch seine rechtsfreundliche Vertretung, dass zwar sein Vater festgenommen worden sei, seine Brüder jedoch davonlaufen hätten können (Seite 11 des Verhandlungsprotokolls). Aus den Angaben des Beschwerdeführers zur Inhaftierung seiner Brüder bzw. deren erfolgreicher Flucht ergeben sich daher gravierende und unauflösbare Widersprüche in den Schilderungen des Beschwerdeführers. Nicht völlig unberücksichtigt bleiben darf des Weiteren in diesem Zusammenhang, dass der Beschwerdeführer in der Erstbefragung zu Protokoll gab, dass sein Vater und seine Brüder auf Grund ihrer Religion – der Beschwerdeführer und seine Familie seien Kurden – in Haft genommen worden seien (AS 7). Im weiteren Verlauf des gegenständlichen Verfahrens zeigte sich jedoch, dass der Beschwerdeführer eine Bedrohung und/oder Verfolgung auf Grund der politischen Gesinnung und der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden, nicht auf Grund seiner Zugehörigkeit zur in der Türkei mehrheitlich überwiegend vertretenen Religionsgemeinschaft zum Ausdruck bringen wollte. Insoweit gestalteten sich die entsprechenden Angaben des Beschwerdeführers auch in diesem Punkt verworren, widersprechend bzw. realitätsfremd.

Über diese Erwägungen hinaus war für das Bundesverwaltungsgericht zu berücksichtigen, dass die Schilderungen des Beschwerdeführers hinsichtlich der angeblich erfolgten Inhaftierung seiner Familienangehörigen als oberflächlich und nicht detailliert zu qualifizieren sind, was als weiteres Indiz für die Unglaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens im zuvor dargestellten Ausmaß zu werten ist. Trotz der konkreten Frage durch seine rechtsfreundliche Vertretung in der mündlichen Verhandlung, warum er nicht in die Türkei zurückkehren wolle bzw. wovor er Angst habe, erwähnte der Beschwerdeführer die Inhaftierung seiner Familienangehörigen bei dieser Gelegenheit mit keinem Wort (Seite 6 des Verhandlungsprotokolls). Erst bei der Frage nach dem Wohnort seiner Eltern und Geschwister machte der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung Angaben zu diesen Ereignissen, die sich allerdings äußerst vage gestalteten (vgl. Seite 7 des Verhandlungsprotokolls). Der Beschwerdeführer beschränkte sich auf folgende kurze Sätze: „Meine Eltern leben in XXXX und von 3 älteren Brüdern weiß ich nicht wo sie sind. Ab 2017 wurden sie festgenommen, mein Vater genauso. Mein Vater wurde wegen seines Alters enthaftet. Meine älteren Brüder sind verschwunden. […]“. Selbst nach konkreter Nachfrage zur Dauer der Haft und zum Grund der Freilassung seines Vaters erreichte die Schilderung keine inhaltliche Tiefe, blieb oberflächlich und vermittelte nicht den Eindruck, der Beschwerdeführer legte tatsächlich vorgefallene Ereignisse dar. Diesbezüglich erlaubt sich das Bundesverwaltungsgericht auf die folgende Passage aus der mündlichen Verhandlung zu verweisen (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls):

„R: Wie lange war Ihr Vater in Haft?

BF: So genau kann ich das nicht sagen, aber einige Monate war er in Haft.

R: Warum wurde er freigelassen?

BF: Wegen seines Alters. Sie haben ihn während seiner Inhaftierung geschlagen, beleidigt.“

Hervorgehoben sei des Weiteren, dass der Beschwerdeführer auch auf Befragung durch seine rechtfreundliche Vertretung, wann der Vater konkret in Haft genommen worden sei und seit wann die Brüder verschollen seien, lediglich erwiderte: „Das müsste im Jahr 2017 gewesen sein.“ In der Folge wiederholte der Beschwerdeführer auf weitere Befragung einzig, dass sein Vater festgenommen worden sei, seine Brüder davonlaufen hätten können und er nicht wisse, wo sich seine Brüder befänden (Seiet 11 des Verhandlungsprotokolls). In Anbetracht dessen, dass diese angeblichen Inhaftierungen durchaus ein wesentliches Element des Vorbringens darstellen, ist es bemerkenswert, dass der Beschwerdeführer keine nachvollziehbaren und detaillierten Angaben diesbezüglich tätigte und auch bereits zuvor im Zuge der Einvernahme vor der belangten Behörde am 12.12.2016 die Gelegenheit verstreichen ließ, sich zu den von ihm vorgebrachten angeblichen Inhaftierungen seines Vaters und seiner Brüder, etwa auch zum Haftort, näher zu äußern (vgl. AS 221 ff). Auffallend erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass es der Beschwerdeführer im Zuge der weiteren Einvernahme am 28.10.2019 überhaupt unterließ, diese Inhaftierungen von sich aus zu thematisieren (AS 523). Auf Nachfrage durch den Leiter der Einvernahme, warum er diese Festnahmen im Zuge der Einvernahme nicht erwähnt habe, beschränkte sich der Beschwerdeführer auf die Feststellung, dass dies richtig sei und er jedes Mal die Fragen des Einvernahmeleiters beantwortet habe. Ansonsten hielt sich der Beschwerdeführer abermals äußerst kurz und führte aus, dass sein Vater nicht mehr in Haft sei und er aus diesem Grunde nicht mehr bezüglich seiner Brüder angeben wolle. Er wisse nicht, was mit diesen passiert sei.

Ebenso wenig ist nachvollziehbar, dass die Eltern und Brüder des Beschwerdeführers, obwohl der Vater und die in der Türkei lebenden Brüder angeblich festgenommen, misshandelt und traktiert worden seien, weiterhin in der Türkei verbleiben, anstatt ebenfalls das Land zu verlassen. Gerade wenn der Vater und die Brüder des Beschwerdeführers über einen Sohn/Bruder in Österreich oder einen Sohn/Bruder in der Bundesrepublik Deutschland verfügen, wäre es naheliegend, sich der Situation zumindest vorübergehend mittels eine Verwandtschaftsbesuchs (wofür in der Regel ein Visum erteilt wird) zu entziehen. Dass die Familienangehörigen des Beschwerdeführers jedoch weiterhin den Angaben des Beschwerdeführers zufolge in der Türkei verharren, ist nicht nachvollziehbar und aus den erörtern Gründen nicht glaubhaft.

Hinzu kommt, dass die Vorgangs- bzw. Verhaltensweise des Beschwerdeführers vor seiner dritten Antragstellung zur Erlangung internationalen Schutzes in Österreich am 18.11.2016 gegen die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers spricht. So ist der Umstand, dass der Beschwerdeführer den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz nicht bereits unmittelbar nach Kenntnis der angeblich neuen Verfolgungsgründe, sondern erst einige Monate später stellte, ein wesentliches Indiz für eine mangelnde Furcht vor Verfolgung und liegt der Verdacht nahe, dass dadurch eine Legalisierung des Aufenthalts erzwungen werden sollte. Insoweit der Beschwerdeführer diesbezüglich rechtfertigend behauptet, dass sein Zweitverfahren zum damaligen Zeitpunkt – etwa Mitte August 2016 – noch nicht abgeschlossen gewesen sei (AS 225), so ist bereits dies nicht zutreffend und zeigt, dass der Beschwerdeführer dies zur Erklärung seiner späten Antragstellung argumentativ vorschiebt, zumal das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts im Zweitverfahren dem Beschwerdeführer nachweislich schon am 09.08.2016 zugestellt wurde. Ergänzend behauptete der Beschwerdeführer, dass ihm eine Beschwerdeergänzung im Zweitverfahren bzw. eine sofortige Asylantragstellung auf Grund seiner damaligen Inhaftierung nicht möglich gewesen sei, zumal er laut dem dortigen Sozialarbeiter warten habe müssen, „bis die Polizei kommt“ (AS 225). Mit dieser Argumentation ließe sich jedoch allenfalls eine um einige Tage verzögerte Antragstellung erklären. Dieser Umstand hätte aber ebenso wenig ein Hindernis für eine erneute zeitnahe Antragstellung dargestellt, weshalb diese Argumentation nicht haltbar ist.

Ein weiteres Indiz für die persönliche Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers ist der Umstand, dass der Beschwerdeführer im Zweitverfahren im Rahmen der Einvernahme vor der belangten Behörde am 24.03.2016 noch schilderte, dass Soldaten das Haus der Familie zerstört hätten und diesbezüglich eine Fotografie auf seinem Mobiltelefon vorwies, die ein Haus mit Einschusslöchern zeige, bei dem es sich um sein Elternhaus handeln würde (AS 37, 43 des zweiten Verwaltungsverfahrensakts). Ähnlich gestalteten sich zunächst auch die Angaben des Beschwerdeführers im gegenständlichen Verfahren vor der belangten Behörde am 12.12.2016 (vgl. AS 225). In den Einvernahmen vor der belangten Behörde am 12.03.2018 und 28.10.2019 gab er hingegen an, dass er mehrere Fotografien in Vorlage gebracht habe und das türkische Militär das Haus seiner Eltern abgerissen habe (AS 246, 518). Im Zuge der mündlichen Verhandlung äußerte sich der Beschwerdeführer schließlich diesbezüglich wiederum abweichend und führte aus, dass das Haus seiner Eltern bzw. alle Häuser in der Kreisstadt während des Ausnahmezustandes beschossen worden sei(en) und die vorgelegten Fotografien Häuser zeigen würden, die bei Demonstrationen beschossen worden seien (Seite 10f des Verhandlungsprotokolls). Auch dieses widersprüchliche Aussageverhalten indiziert insoweit, dass der Beschwerdeführer und seine Familie hiervon nicht betroffen waren und/oder dies für den Beschwerdeführer von untergeordneter Bedeutung ist.

Des Weiteren ist anzumerken, dass es ebenfalls gegen die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers bzw. die Glaubhaftigkeit seines Vorbringens spricht, dass der Beschwerdeführer – entgegen seinen mehrfachen Ankündigungen (AS 217, 221, 245; Seite 10 des Verhandlungsprotokolls) und obwohl sich dieser u. a. seiner Mitwirkungspflicht bereits im Erstverfahren bewusst war (vgl. insbesondere die in der Erstbefragung erfolgte Aushändigung des Merkblatts über Pflichten und Rechte von Asylwerbern, AS 3 des ersten Verwaltungsverfahrensakts) – in seinen Verfahren keine Bescheinigungsmittel bezüglich seines Vorbringens übermittelte. Gerade bei den vom Beschwerdeführer geschilderten Vorkommnissen (etwa der Inhaftierung des Vaters und der Brüder) handelt es sich wohl auch um in der Türkei verifizierbare Ereignisse. Angesichts der vorliegenden Fakten (Handlungsabläufe, Name der Inhaftierten etc.) erscheint eine Beischaffung von Unterlagen (etwa von medizinischen Unterlagen, Polizeiberichten, Unterlagen zur Inhaftierung etc.) jedenfalls möglich. Bei tatsächlichem Zutreffen dieses Vorbringens könnte doch vorausgesetzt werden, dass der Beschwerdeführer entsprechende Unterlagen, welche dieses Vorbringen belegen können, bereits im Verfahren vor der belangten Behörde in Vorlage gebracht hätte, wie es auch von anderen Beschwerdeführern aus seinem Heimatland praktiziert wird und spricht dies somit ebenfalls gegen die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers.

Zur Vollständigkeit ist anzumerken, dass die der belangten Behörde, nicht aber dem Bundesverwaltungsgericht im Zweitverfahren zur Kenntnis gebrachte Fotografie eines beschädigten/zerstörten Gebäudes an dieser Wertung nichts ändert, zumal sich aus diesem Lichtbild offenbar nicht ergeben hat, dass die sichtbaren Zerstörungen das Haus der Familie des Beschwerdeführers betreffen. Ebenso wenig konnte aus diesem Lichtbild abgeleitet werden, durch wen und aufgrund welcher Ursache es zu dieser Zerstörung kam.

Im gegebenen Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass sich die Lage in der Türkei nach der Ausreise des Beschwerdeführers im Jahr 2010 und dem versuchten Militärputsch im Jahr 2016 fortentwickelt hat. Im gegenständlichen Verfahren wurde jedoch nicht aufgezeigt, inwieweit der Beschwerdeführer von diesen Ereignissen überhaupt betroffen war bzw. im Rückfall betroffen wäre. Der Beschwerdeführer war zunächst nicht in den versuchten Militärputsch verwickelt, da er zu diesem Zeitpunkt im Bundesgebiet weilte. Der versuchte Militärputsch selbst ging nicht von kurdischstämmigen Personen aus, dass die daran folgenden Massenentlassungen bzw. Suspendierungen von öffentlich Bediensteten in irgendeiner Weise für die Situation des Beschwerdeführers von Bedeutung wären, kann das Bundesverwaltungsgericht nicht einmal im Ansatz erkennen. Der Beschwerdeführer ist auch kein Medienschaffender und gehört auch keiner NGO an, sodass auch die Lage von Medienschaffenden oder Aktivisten von NGO im Herkunftsstaat in Ansehung des Beschwerdeführers nicht die geringste Relevanz entfaltet. Hinsichtlich seiner angeblichen Sympathie für die bzw. Deklarierung zur PKK ist wesentlich, dass – in Anbetracht des widersprüchlichen Vorbringens zur Sympathie für die bzw. Deklarierung zur PKK – überhaupt nicht erkannt werden kann, dass sich der Beschwerdeführer in irgendeiner Weise politisch exponierte.

Vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer bereits im Oktober 2007 in der Tschechischen Republik einen ersten Antrag auf internationalen Schutz stellte, dies aber offensichtlich nicht glückte, und insbesondere eine Einreise oder ein Erhalt eines Aufenthaltstitels für den Beschwerdeführer für Österreich auch auf Grund der damaligen Eheschließung des Beschwerdeführers mit einer in Österreich legal niedergelassenen türkischen Staatsangehörigen nach den fremdenrechtlichen oder niederlassungsrechtlichen Bestimmungen offenbar nicht möglich war (vgl. AS 77 des ersten Verwaltungsverfahrensakts), erhärtet sich die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, dass der Beschwerdeführer die Türkei rein aus wirtschaftlichen oder privaten Interessen verlassen hat und auch der gegenständliche, dritte Antrag auf internationalen Schutz lediglich zum Zwecke des Erhalts eines Aufenthaltstitels für Österreich nach den letztlich erfolglosen Antragstellungen in der Tschechischen Republik und in Österreich erfolgte. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass gegenständlicher Antrag auf internationalen Schutz unter Umgehung der fremdenrechtlichen Bestimmungen einzig zur Erreichung eines Aufenthaltstitels für Österreich nach dem Asylgesetz unter Umgehung der strengeren Vorschriften des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes eingebracht wurde.

Eine individuelle Bedrohung des Beschwerdeführers vor seiner Ausreise oder im Fall seiner Rückkehr in die Türkei kann das Bundesverwaltungsgericht somit auf Grund dieser Ausführungen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht erkennen. Dieses Ergebnis entspricht auch dem im Rahmen der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck. Der Beschwerdeführer wirkte in seinem Vorbringen unsicher und konfus, was gegen die Wiedergabe eines tatsächlich erlebten Sachverhalts spricht, jedoch keineswegs gesundheitlich beeinträchtigt oder desorientiert (vgl. etwa die Schilderungen des Beschwerdeführers zu seiner Aufenthaltsdauer in Istanbul oder zur Dauer der Haft seines Vaters oder zu den Fotografien, die zunächst den Beschwerdeführer bei Demonstrationen bzw. später bei Demonstrationen beschossene Häuser zeigen sollen, Seite 6 ff, 10 f des Verhandlungsprotokolls). Es wiegt schwer, dass der Beschwerdeführer nach seiner Rückkehr im Jahr 2008 noch mehrere Jahre in der Türkei verblieben ist und er in Istanbul einer beruflichen Tätigkeit nachging, er sein Vorbringen in wesentlichen Punkten steigerte und sich sein Vorbringen mehrfach widersprüchlich und unplausibel erwies. Derartige gravierende Widersprüchlichkeiten und Unplausibilitäten lassen nur den Schluss zu, dass ein konstruiertes Vorbringen hinsichtlich einer individuellen Bedrohung wiedergegeben wird.

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass eine aus unterstellten politischen Motiven oder wegen der Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe herrührende Verfolgung des Beschwerdeführers in der Türkei auf Grund von Ereignissen vor der Ausreise im Jahr 2010 bereits mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.11.2015, L502 2105371-1/14E, und vom 24.06.2016, L502 2105371-2/8E, rechtskräftig verneint wurde. Dem Beschwerdeführer gelang es im gegenständlichen Verfahren letztlich auch nicht, nach der Erlassung dieser Erkenntnisse hervorgekommene Asylgründe glaubhaft darzulegen.

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes ist es dem Beschwerdeführer aus den vorstehend im Detail erörterten Aspekten somit nicht gelungen, eine ihn betreffende Bedrohungs- oder Verfolgungssituation in der Türkei glaubhaft darzulegen. Demgemäß ist ausgehend vom Vorbringen des Beschwerdeführers auch nicht glaubhaft, dass dieser im Falle einer Rückkehr in die Türkei einer individuellen Gefährdung oder Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Insoweit der Beschwerdeführer die Unstimmigkeiten des Weiteren mit der angeblichen Unterdrückung durch die Polizei und Gendarmerie bzw. einer daraus resultierenden Nervosität vor dem Bundesverwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung zu erklären versucht (Seite 9 des Verhandlungsprotokolls), so ist dieser Erklärungsversuch nicht plausibel, denn der Beschwerdeführer gibt vor, dass er gerade mit dem Ziel und zu dem Zweck nach Österreich gekommen ist, um hier Asyl zu beantragen. Daraus ist zu schließen, dass es sich bereits nach seiner anfänglichen Vorstellung bei Österreich um einen Staat handelt, der zur Schutzgewährung bereit und dazu auch in der Lage ist und in dem für ihn gerade keine Bedrohung besteht. Es konnte also auch nach der subjektiven Vorstellung des Beschwerdeführers keinen nachvollziehbaren Grund dafür geben, gerade bei der Asylantragstellung am Zufluchtsort aus Angst etwas zu verschweigen oder nervös zu sein, zumal es sich gegenständlich ohnehin bereits um das dritte Asylverfahren des Beschwerdeführers in Österreich handelt. Der Beschwerdeführer wurde zudem bereits in den vorangegangen Verfahren und zu Beginn des gegenständlichen Verfahrens ausdrücklich belehrt bzw. aufgefordert alle Fluchtgründe wahrheitsgemäß anzugeben.

Für den Fall, dass der Beschwerdeführer darüber hinaus zur Rechtfertigung seiner widersprüchlichen und unpräzisen Angaben anzuführen vermag, dass auch der psychische und physische Zustand des Asylwerbers bei den Einvernahmen berücksichtigt werden müsse, so wird vom Bundesverwaltungsgericht nicht in Abrede gestellt, dass derartige Ereignisse emotional aufwühlend sein können und, dass das entscheidende Gericht zudem bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers zur umfassenden Auseinandersetzung mit allen relevanten Gesichtspunkten verpflichtet ist. Dazu gehört beispielsweise auch seine psychische Gesundheit, bei deren Beeinträchtigung ein großzügigerer Maßstab an die Detailliertheit seines Vorbringens zu legen ist (VfSlg. 18.701/2009). Auch das Alter und der Entwicklungsstand des Beschwerdeführers sind zu berücksichtigen. Insoweit bleibt jedoch festzuhalten, dass der Beschwerdeführer keine psychischen oder physischen gesundheitlichen Einschränkungen von entscheidungswesentlicher Bedeutung zum Zeitpunkt seiner Einvernahmen geltend gemacht hat und reichen die obigen Entgegnungen auf seine widersprüchlichen und unpräzisen Angaben nicht aus, um diese bezüglich des Kerns seines Vorbringens widersprüchlichen und fehlenden Angaben zu erklären. Zumal es von einem im Zeitpunkt der Einvernahmen vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung volljährigen und psychisch gesunden Antragsteller grundsätzlich zu erwarten ist, dass er seine Ausreisegründe zumindest in den Eckpunkten und bei der ersten Möglichkeit sich hierzu zu äußern wahrheitsgemäß und möglichst genau angibt.

Insoweit in der Beschwerde im Übrigen moniert wird, dass im angefochtenen Bescheid des BFA anstelle der dritten strafgerichtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers – abgesehen vom Urteil des Landesgerichts XXXX vom 30.10.2013, XXXX – zweimal das Urteil des Landesgerichts XXXX vom 25.04.2017, XXXX angeführt wird (AS 653, 657; vgl. AS 550 f, 622 f), so handelt es sich hierbei um einen bloßen Schlampigkeitsfehler bzw. ein Versehen der belangten Behörde, welcher nunmehr – wie den obigen Feststellungen entnommen werden kann – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung seitens des Bundesverwaltungsgerichts korrigiert wurde. Sämtliche Urteile bezüglich der strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers sind nunmehr auch im Gerichtsakt aufliegend und fanden bei der Entscheidungsfindung durch das Bundesverwaltungsgericht Berücksichtigung.

Die getroffenen Feststellungen zur Türkei beruhen auf der Länderinformation der Staatendokumentation für die Türkei (Version 2). Diese Berichte wurden dem Beschwerdeführer mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung übermittelt. Es handelt sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Personen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in der Türkei ergeben. Angesichts der Seriosität der darin angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Der Beschwerdeführer und dessen rechtsfreundliche Vertretung traten diesen Feststellungen nicht substantiiert entgegen. Der Beschwerdeführer bzw. dessen rechtsfreundliche Vertretung hatten die Möglichkeit, zu den Länderinformationen Stellung zu nehmen. Wenn in der Stellungnahme des rechtsfreundlichen Vertretung in der mündlichen Verhandlung, der sich der Beschwerdeführer anschließt, auf einzelne Passagen aus den dem Beschwerdeführer zur Kenntnis gebrachten und vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationen zur Situation in der Türkei zur Untermauerung des eigenen Verfahrensstandpunkts verwiesen wird (Seite 11 f des Verhandlungsprotokolls), zeigt die Stellungnahme somit diesbezüglich weder eine Unrichtigkeit, noch eine Unvollständigkeit der dem Beschwerdeführer vorgehaltenen Quellen zur gegenwärtigen Lage auf und kann im Hinblick auf die thematisierten Bereiche jedenfalls auf die vorangehenden und nachstehenden Ausführungen verwiesen werden, zumal es eine Frage der Beweiswürdigung und insbesondere der rechtlichen Beurteilung ist, inwieweit dem Beschwerdeführer unter Berücksichtigung der aktuellen Länderinformationen eine Rückkehr möglich und zumutbar ist. Selbiges gilt im Übrigen insoweit der Beschwerdeführer im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung im Rahmen der Beschwerde ebenfalls auf einzelne Passagen aus den dem angefochtenen Bescheid zugrunde gelegten Länderinformationsquellen, die den dem Beschwerdeführer seitens des Bundesverwaltungsgerichts mit Note vom 16.04.2021 (OZ 8) zur Kenntnis gebrachten und vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationen zur Situation in der Türkei entsprechen, zur Untermauerung des eigenen Verfahrensstandpunkts verweist (AS 647 ff, 651).

Insoweit in der Stellungnahme der rechtsfreundlichen Vertretung vom 26.03.2018 auf das Länderinformationsblatt vom 07.02.2017 (AS 251 ff) und in der Stellungnahme vom 25.11.2019 auf das Länderinformationsblatt vom 18.10.2019 (AS 530 ff) etwa hinsichtlich der allgemeinen Situation in der Türkei, der Situation der Kurden in der Türkei, des Justizsystems und zur Menschenrechtssituation verwiesen wird, bleibt festzuhalten, dass diese Berichte als veraltet zu qualifizieren sind und auch vom Beschwerdeführer in den Stellungnahmen als veraltet bzw. unvollständig bezeichnet werden. Diese Berichte sind mangels Aktualität für die Lageeinschätzung nicht (mehr) maßgeblich. Weiters wird in der Stellungnahme vom 26.03.2018 auf einen Bericht der türkischen Menschenrechtsvereinigung und einen Standard-Zeitungsartikel vom 15.11.2016 hingewiesen, denen jedoch ebenso wenig eine hinreichende Aktualität zukommt, da sie aus den Jahren 2016/17 (AS 252, 254 f) stammen. Insoweit der Beschwerdeführer im Übrigen unter Verweis auf diesen Zeitungsartikel vom 15.11.2016 anmerkt, dass seine Heimatstadt XXXX nach dem Ende der Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans zu 80 % zerstört bzw. große Teile der Stadt dem Erdboden gleichgemacht worden seien (AS 254 f), so zeigt sich auch hier, dass der Beschwerdeführer sein Vorbringen übersteigert oder falsch darstellt, zumal der Beschwerdeführer nicht im Landkreis XXXX , sondern im Landkreis XXXX in der südostanatolischen Provinz XXXX geboren wurde und dort aufwuchs. Gleichfalls als veraltet sind die in den Stellungnahmen zitierten Medienberichte zur türkischen Militäroffensive auf Afrin im Jahr 2018 und die türkische Militäroffensive in Nordsyrien im Jahr 2019 (AS 253, 530) anzusehen. Diese sind durch die in der Beschwerdeverhandlung angeführten, aktuellen Erkenntnisquellen als überholt zu qualifizieren.

IV. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Abweisung der Beschwerde:

1. Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht. Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, "aus Gründen" (Englisch: "for reasons of"; Französisch: "du fait de") der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0047 unter Hinweis auf VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031).

Die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK kann nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. VwGH 23.02.2017, Ra 2016/20/0089 unter Hinweis auf VwGH 29.04.2015, Ra 2014/20/0151, mwN).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden Verfolgung nur dann Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite aus den in der Flüchtlingskonvention genannten Gründen Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er aufgrund staatlicher Verfolgung mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm dieser Nachteil aufgrund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es ihm nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohl begründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 24.03.2011, 2008/23/1101 unter Hinweis auf VwGH 22.03.2000, 99/01/0256; mwN).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119 unter Hinweis auf VwGH 28.10.2009, 2006/01/0793, mwN).

Was die als dreijähriges Kind im Zuge der im Zeitraum zwischen 1990 und 1993 erfolgten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Freiheitskämpfern in seinem Heimatdorf im äußersten Osten der Türkei – ausgehend von der Misshandlung seiner Mutter durch türkische Militärs – durch einen Sturz auf den Boden erlittene schwere Verletzung des linken Arms und die aufgrund dieser Ereignisse sowie allfälligen weiteren Erfahrungen in ähnlicher Form in der engeren Heimat im oben angesprochenen Zeitraum durch die türkischen Behörden gefühlte Schikanierung seiner Person sowie die damals entstandene Abneigung gegenüber türkischen Behördenvertretern bzw. insbesondere Sicherheitskräften betrifft, so mangelt es diesem Vorbringen am erforderlichen zeitlichen Zusammenhang mit der späteren Ausreise im Jahr 2010, weswegen diesen Ereignissen allein schon aus diesem Grund keine Asylrelevanz zukommen kann. Die Voraussetzung der wohlbegründeten Furcht wird in der Regel nur erfüllt, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden, und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht (vgl. zur notwendigen Berücksichtigung der Umstände im Einzelfall aus der jüngeren Rechtsprechung etwa das Erkenntnis des VwGH vom 07.11.1995, 94/20/0793; ferner VwGH 19.10.2000, 98/20/0430, siehe auch VwGH 30.08.2007, 2006/19/0400.) Die rein subjektive Befürchtung des Beschwerdeführers, ihm könne womöglich im Fall einer Rückkehr etwas zustoßen, vermag eine asylrelevante Gefährdung nicht aufzuzeigen. Es ergibt sich somit aus diesem Grund in Zusammenschau mit den getroffenen Feststellungen zum Herkunftsstaat keine glaubhaft aktuelle und konkrete Gefährdung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, zumal der Beschwerdeführer in den Folgejahren in der Türkei verblieb und dort seine Schulausbildung absolvierte sowie zeitweise einer beruflichen Tätigkeit nachging.

Da der Beschwerdeführer den darüber hinaus behaupteten Fluchtgrund, dass er unmittelbar nach der Ankunft am Flughafen im April 2008 Opfer sicherheitsbehördlicher Maßnahmen in Form einer mehrtägigen Anhaltung, verbunden mit gewaltsamen Übergriffen in Form von Schlägen sowie mit verbalen Erniedrigungen geworden und er in der Folge auch einem Staatsanwalt/Gericht vorgeführt worden sei, das Haus der Familie vor einigen Jahren durch türkische Militärangehörige zerstört worden sei, er bzw. seine Familie Sympathisanten der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê [PKK]) gewesen seien, er an Demonstrationen für die kurdischen Belange teilgenommen habe, sein Vater und mehrere Brüder im Jahr 2017 aufgrund seiner bzw. deren politischen Gesinnung und Volksgruppenzugehörigkeit inhaftiert und insbesondere sein Vater während der Haft erniedrigt und gefoltert worden seien und auch er bei einer Rückkehr von türkischen Sicherheitskräften festgenommen, inhaftiert, gefoltert oder gar getötet werden würde, nicht hat glaubhaft machen können, liegt die Voraussetzung für die Gewährung von Asyl, die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe, diesbezüglich nicht vor.

Der Beschwerdeführer gehört außerdem dem Islam sunnitischer Prägung an. Er gehört damit der in der Türkei mehrheitlich überwiegend vertretenen Religionsgemeinschaft an und ist in dieser Hinsicht nicht exponiert. Schwierigkeiten aufgrund der religiösen Zugehörigkeit vor der Ausreise oder im Fall einer Rückkehr kamen im Verfahren nicht glaubhaft hervor.

Hinsichtlich des bloßen Umstands der kurdischen Abstammung ist darauf hinzuweisen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte die Situation für Kurden – abgesehen von den Berichten betreffend das Vorgehen des türkischen Staates gegen Anhänger und Mitglieder der als Terrororganisation eingestuften PKK und deren Nebenorganisationen, wobei eine solche Anhängerschaft hinsichtlich des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden konnte – nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an der Person des Beschwerdeführers haben sollten, wurden nicht glaubhaft vorgebracht. Darüber hinaus leben Familienangehörige des Beschwerdeführers nach wie vor in der Türkei, insbesondere auch in der Provinz Şırnak, und kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen, weshalb dem Beschwerdeführer aufgrund seiner kurdischen Abstammung ein weiterer Aufenthalt in seinem Herkunftsstaat unzumutbar sein soll, wohingegen seine Eltern, mehrere Geschwister und zahlreiche Verwandte nach wie vor dort ansässig sind. Von den Länderberichten entnehmbaren Repressalien, wie den Massenentlassungen im öffentlichen Dienst oder dem Vorgehen gegen kritische Journalisten oder Anhänger der Gülen-Begegnung in der Türkei, ist der Beschwerdeführer darüber hinaus nicht betroffen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069).

Sofern darauf hingewiesen wird, dass Kurden diskriminiert und erniedrigt würden, ist festzuhalten, dass nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person als "Verfolgung" iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen ist, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. VwGH 02.08.2018, Ra 2018/19/0396 unter Hinweis auf Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie)). Was nun seine Alltagsprobleme betrifft, so sind Benachteiligungen auf sozialem, wirtschaftlichem oder religiösem Gebiet für die Bejahung der Flüchtlingseigenschaft eben nur dann ausreichend, wenn sie eine solche Intensität erreichen, die einen weiteren Verbleib des Asylwerbers in seinem Heimatland unerträglich machen, wobei bei der Beurteilung dieser Frage ein objektiver Maßstab anzulegen ist (vgl. VwGH 22.06.1994, 93/01/0443). Die vom Beschwerdeführer erwähnten allgemeinen Schwierigkeiten der Angehörigen der kurdischen Volksgruppe erfüllen dieses Kriterium nicht.

Aus dem vom Beschwerdeführer vorgebrachten Sachverhalt ergeben sich keinerlei konkrete, stichhaltige Hinweise darauf, dass eine asylrelevante Gefährdung des Beschwerdeführers maßgeblich wahrscheinlich zu erwarten wäre.

Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer keine Verfolgung aus in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen droht. Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen ebenso wie allfällige persönliche und wirtschaftliche Gründe keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention dar. Es besteht im Übrigen keine Verpflichtung, Asylgründe zu ermitteln, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat (vgl. VwGH 21.11.1995, 95/20/0329 mwN).

Es gibt bei Zugrundelegung des Gesamtvorbringens des Beschwerdeführers keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Türkei maßgeblich wahrscheinlich Gefahr laufen würde, einer asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).

2. Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):

Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 offen steht.

Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz setzt somit voraus, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in seine Heimat entweder eine reale Gefahr einer Verletzung insbesondere von Art. 2 oder 3 EMRK bedeuten würde oder für ihn eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes in der Türkei mit sich bringen würde.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095, mit weiteren Nachweisen). Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet (vgl. VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236 mwN).

Um von der realen Gefahr ("real risk") einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüber hinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (vgl. etwa VwGH 13.12.2017, Ra 2017/01/0187, mwN).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein "real risk" (reales Risiko) vorliegt, wenn stichhaltige Gründe ("substantial grounds") dafür sprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in die Heimat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der EGMR in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Risiko iSd Art. 3 EMRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen ("in the most extreme cases") diese Voraussetzung erfüllt (vgl. etwa EGMR vom 28. November 2011, Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi gg. Vereinigtes Königreich, RNr. 218 mit Hinweis auf EGMR vom 17. Juli 2008, Nr. 25904/07, NA gg. Vereinigtes Königreich). In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen ("special distinguishing features"), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (vgl. etwa EGMR Sufi und Elmi, RNr. 217).

Der Tatbestand einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes in § 8 Abs. 1 Z 2 Asyl 2005 orientiert sich an Art. 15 lit. c der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU ) und umfasst – wie der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) erkannt hat – eine Schadensgefahr allgemeiner Art, die sich als "willkürlich" erweist, also sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann. Entscheidend für die Annahme einer solchen Gefährdung ist nach den Ausführungen des EuGH, dass der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson liefe bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr, einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Dabei ist zu beachten, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH vom 17. Februar 2009, C- 465/07, Elgafaji, und vom 30. Jänner 2014, C-285/12 , Diakite).

Nach der dargestellten Rechtsprechung sowohl des EGMR als auch des EuGH ist von einem realen Risiko einer Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte einerseits oder von einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts andererseits auszugehen, wenn stichhaltige Gründe für eine derartige Gefährdung sprechen.

Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (vgl. VwGH 25.04.2017, Ra 2017/01/0016, mwN).

Nach der ständigen Judikatur des EGMR, wonach es – abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde – obliegt es grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (vgl. VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134 unter Hinweis auf das Urteil des EGMR vom 5. September 2013, I. gg. Schweden, Nr. 61204/09). Die Mitwirkungspflicht des Beschwerdeführers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich das erkennende Gericht nicht von Amts wegen verschaffen kann (vgl. VwGH 30.09.1993, 93/18/0214). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (etwa die familiäre, gesundheitliche oder finanzielle Situation), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht (vgl. VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279). Der Antragsteller muss die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darstellen (vgl. VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus, wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (EGMR U 17.10.1986, Kilic gegen Schweiz, Nr. 12364/86). So führt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller, Beweise zu beschaffen, dennoch ihm obliegt so weit als möglich Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (EGMR U 05.07.2005, Said gegen Niederlande).

Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich, Zl. 30240/96; 06.02.2001, Bensaid, Zl. 44599/98; vgl. auch VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443). Unter "außergewöhnlichen Umständen" können auch lebensbedrohende Ereignisse (zB Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK iVm § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich; vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 09.07.2002, 2001/01/0164; 16.07.2003, 2003/01/0059). Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Art. 3 EMRK für die Beantwortung der Frage, ob die Abschiebung eines Fremden eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt, unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr ("real risk") – die bloße Möglichkeit genügt nicht – damit verbunden ist (vgl. VwGH 23.09.2004, 2001/21/0137). Unter Darstellung der maßgebenden persönlichen Verhältnisse des Fremden (insbesondere zu seinen finanziellen Möglichkeiten und zum familiären und sonstigen sozialen Umfeld) ist allenfalls weiter zu prüfen, ob ihm der Zugang zur notwendigen medizinischen Behandlung nicht nur grundsätzlich, sondern auch tatsächlich angesichts deren konkreter Kosten und der Erreichbarkeit ärztlicher Hilfsorganisationen möglich wäre (vgl. VwGH 23.09.2004, 2001/21/0137 unter Hinweis auf VwGH 17.12.2003, 2000/20/0208).

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies:

Im gegenständlichen Fall konnte der Beschwerdeführer eine individuelle Bedrohung bzw. Verfolgungsgefahr nicht glaubhaft machen und er gehört auch keiner Personengruppe mit speziellem Risikoprofil an, weshalb sich daraus auch kein zu berücksichtigender Sachverhalt ergibt, der gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zur Unzulässigkeit der Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung in den Herkunftsstaat führen könnte.

Dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden.

Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.

Es kann auch nicht erkannt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059), hat doch der Beschwerdeführer selbst nicht ausreichend konkret vorgebracht, dass ihm im Falle einer Rückführung in die Türkei jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und er in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre. Wie der Beschwerdeführer selbst vorbrachte, leben seine Eltern, Schwestern und zahlreiche weitere Familienangehörige in seiner Herkunftsregion Şırnak. Die Herkunftsfamilie betreibt dort im Heimatdorf zur Sicherung des Lebensunterhalts der Familie eine kleine Landwirtschaft. Ein Onkel mütterlicherseits wohnt in Istanbul und betreibt dort ein Bekleidungsunternehmen. Zumindest mit Letzterem steht der Beschwerdeführer regelmäßig in Kontakt. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer von seinen Verwandten mit Lebensmitteln versorgt werden wird, er von diesen eine Unterkunft erhalten wird und er auch im landwirtschaftlichen Bereich oder als Buchhalter im Bekleidungsunternehmen arbeiten oder zumindest sonstigen Gelegenheitsarbeiten nachgehen kann.

Nach dem festgestellten Sachverhalt besteht auch kein Hinweis auf „außergewöhnliche Umstände“, welche eine Rückkehr des Beschwerdeführers in die Türkei unzulässig machen könnten.

Die Sicherheitslage hat sich zwar seit Juli 2015 verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstandes zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. Vom Sommer 2015 bis Ende 2017 kam es zu einer der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge in der Geschichte der Türkei aufgrund von Terroranschlägen der Partiya Karkerên Kurdistanê, ihrer Ableger, des sog. Islamischen Staates und im geringen Ausmaß der DHKP-C. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen, was durch die statistischen Angaben zu sicherheitsrelevanten Vorfällen und damit verbundenen Opfern erwiesen ist.

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben den Feststellungen zufolge Auswirkungen auf die Sicherheitslage. Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbakır, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, Şırnak und Hakkâri bestehen einerseits Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. Andererseits wurde ab August 2015 der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten Todesopfer unter der Zivilbevölkerung. Die International Crisis Group verzeichnete mit Stand 25.03.2021 3.265 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015, schätzt jedoch selbst die Dunkelziffer als höher ein. Besonders stark betroffen waren hierbei wiederum die südöstlichen Provinzen: Hakkari, Şırnak, Sur, Diyarbakır sowie die zentral-östliche Provinz Tunceli (Dersim). Indes ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer nicht vorbrachte, nach dem Wiederaufflammen des Konflikts zwischen dem türkischen Militär und den Guerilla-Einheiten der PKK im Sommer 2015 von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren direkt betroffen gewesen zu sein, noch, dass er durch Ausgangssperren beeinträchtigt war, wobei eine individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren schon deshalb unmöglich ist, zumal sich der Beschwerdeführer bereits seit dem Jahr 2010 im österreichischen Bundesgebiet aufhält. Eine individuelle Betroffenheit von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren im Rückkehrfall ist ebenso wenig zu befürchten, zumal der Großteil seiner Familie auch weiterhin problemlos in der Region Şırnak lebt, was insgesamt belegt, dass die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets seit Spätsommer 2016 doch deutlich nachgelassen hat. Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer selbst auch kein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, dass er schon aufgrund seiner bloßen Präsenz in seiner Heimatprovinz Şırnak oder alternativ – in Anbetracht seines dortigen längeren Aufenthaltes weit weg von den unsicheren Provinzen in der Osttürkei vor seiner Ausreise im Jahr 2010 – in der Millionenmetropole Istanbul mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge, organisierte Kriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wäre.

Die allgemeine Sicherheitslage ist daher nicht dergestalt, dass jeder dorthin Zurückkehrende der realen Gefahr unterläge, mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung seiner durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte ausgesetzt zu sein oder für ihn die ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt anzunehmen wäre. Besondere Gefährdungsmomente, die es wahrscheinlich erscheinen lassen, dass der Beschwerdeführer in besonderem Maße von etwaigen dort stattfindenden Gewaltakten bedroht wäre, wurden weder in den Einvernahmen noch in der Beschwerde glaubhaft vorgebracht (vgl. dazu VwGH vom 21.02.2017, Ra 2016/18/0137).

Im Hinblick auf den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass der Beschwerdeführer weder in diesen verwickelt ist, noch einer seither besonders gefährdeten Berufsgruppe angehört und auch nicht der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung bezichtigt wird.

Es erscheint daher eine Rückkehr des Beschwerdeführers in die Türkei (Provinz Şırnak oder alternativ Millionenmetropole Istanbul) nicht grundsätzlich ausgeschlossen und auf Grund der individuellen Situation des Beschwerdeführers insgesamt auch zumutbar. Für die hier zu erstellende Gefahrenprognose wird zwar nicht in Abrede gestellt, dass es im Sommer 2015 im Osten der Türkei zum Wiederaufflammen des Konflikts zwischen dem türkischen Militär und den Guerilla-Einheiten der PKK gekommen ist, wobei eine damalige individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren jedoch schon deshalb auszuschließen ist, da sich der Beschwerdeführer bereits seit dem Jahr 2010 im österreichischen Bundesgebiet aufhält. Es ist ferner zu berücksichtigen, dass es der Großteil seiner Familie nicht für erforderlich erachtete nach diesen Ereignissen dieses Gebiet zu verlassen. Sie leben dort nach wie vor problemlos in der Provinz Şırnak. Istanbul wiederum war im Zuge des Konflikts seit dem Sommer 2015 ohnehin nie von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren betroffen. Dem Vorbringen des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht ist schließlich keine gravierende Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit aus Sicherheitsgründen zu entnehmen.

Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen jungen auf Grund der festgestellten Behinderung eingeschränkt arbeitsfähigen Mann, bei welchem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben jedoch vorausgesetzt werden kann, zumal er auch vor seiner Ausreise aus der Türkei einer beruflichen Tätigkeit bei seinem in Istanbul wohnhaften Onkel als Buchhalter und während seiner zuletzt in Österreich verbüßten Strafhaft einer Arbeit als Gärtner nachging. Der Beschwerdeführer verfügt darüber hinaus über eine mehrjährige Schulausbildung. Er spricht Türkisch, Kurmandschi (Nordkurdisch), in alltagstauglicher Weise Deutsch und in geringem Ausmaß Englisch. Die Eltern und mehrere Geschwister sowie weitere Familienangehörige leben in seiner Herkunftsregion Şırnak. Ein Onkel wohnt zudem in Istanbul. Aus welchen Gründen der Beschwerdeführer als junger und abgesehen von der festgestellten Behinderung sowie einer medikamentösen Therapie nach einer operativen Schilddrüsenentfernung gesunder Mann mit umfassender Schulausbildung bei einer Rückkehr in die Türkei nicht in der Lage sein sollte, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, ist nicht ersichtlich bzw. wurde auch nicht vorgebracht, zumal der Beschwerdeführer auch über den kulturellen Hintergrund und die erforderlichen Sprachkenntnisse für die Türkei verfügt. In Anbetracht der festgestellten wirtschaftlichen Lage geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass der Beschwerdeführer ungeachtet der wirtschaftlichen Schwierigkeiten rasch eine adäquate leichte oder gelegentliche Tätigkeit erlangen wird. Zudem findet der Beschwerdeführer dort einen Verwandtenkreis vor. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass er zumindest vorübergehend von seinen Familienangehörigen unterstützt wird. Es kann sohin – entgegen den unsubstantiierten Behauptungen in der Beschwerde (AS 651) – nicht erkannt werden, dass dem eingeschränkt erwerbsfähigen Beschwerdeführer, der in der Türkei über ein familiäres bzw. soziales Netz verfügt, im Falle einer Rückkehr in den Landkreis XXXX bzw. die Provinz Şırnak dort die notwendigste Lebensgrundlage entzogen und dadurch die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat grundsätzlich in der Lage sein wird, ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), liegt nicht vor.

Im Allgemeinen hat kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind (vgl. VwGH 10.08.2017, Ra 2016/20/0105 unter Hinweis auf das Urteil des EGMR vom 13.12.2016, Nr. 41738/10, Paposhvili gegen Belgien, Rz 189 ff).

Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung in Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (vgl. VfSlg. 18.407/2008 und 19.086/2010).

In der Kindheit erlitt der Beschwerdeführer eine Verletzung des linken Oberarms, weshalb der Beschwerdeführer in diesem Bereich in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist. Ein aktueller Behandlungsbedarf besteht nicht. Der Beschwerdeführer ist ansonsten – abgesehen von einer medikamentösen Behandlung nach der Entfernung der Schilddrüse – gesund. Der Beschwerdeführer gehört auch keiner Risikogruppe für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung an. Laut der World Health Organization beläuft sich in der Türkei, die ca. 83 Millionen Einwohner hat, die Zahl der bestätigten COVID-19-Erkrankungen auf 6.118.508 und die Zahl der Todesfälle auf 53.507. Im Vergleich dazu weist die Bundesrepublik Deutschland mit ebenfalls ca. 83 Millionen Einwohnern 3.835.375 bestätigte COVID-19-Erkrankungen und 91.921 Todesfälle auf (vgl. das im Internet abrufbare World Health Organization (WHO) Dashboard zu COVID-19, Einsichtnahme am 18.08.2021). Was die Finanzierung der Maßnahmen zur COVID-19-Bekämpfung bzw. des türkischen Gesundheitssystems betrifft, ist festzuhalten, dass die Türkei eine Industrienation ist, die der OECD angehört und vom IWF unter die zwanzig Staaten mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt weltweit gereiht wird. Vor diesem Hintergrund ergeben sich somit keine Hinweise auf das Vorliegen von akut existenzbedrohenden Krankheitszuständen oder Hinweise auf eine unzumutbare Verschlechterung der Krankheitszustände im Falle einer Rückverbringung des Beschwerdeführers in die Türkei.

Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder den relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 und Nr. 13 verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Dasselbe gilt für die reale Gefahr, der Todesstrafe unterworfen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.

Insoweit war auch Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG mit der Maßgabe zu bestätigen, dass gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Türkei abgewiesen werde, da im gegenständlichen Verfahren hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten der Herkunftsstaat des Beschwerdeführers zweifelsfrei festgestellt werden konnte. Die belangte Behörde ist hinsichtlich der Frage der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Spruchpunkt II. eindeutig von der Türkei als Herkunftsstaat ausgegangen (siehe Seite 73 ff des bekämpften Bescheides). Insoweit handelte es sich bei der unterbliebenen Bezugnahme auf den Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides um ein bloßes Versehen der belangten Behörde, welches nunmehr korrigiert wurde.

3. Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides):

Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG liegen nicht vor, weil der Aufenthalt des Beschwerdeführers weder seit mindestens einem Jahr gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG geduldet, noch zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig ist, noch der Beschwerdeführer Opfer von Gewalt wurde.

Die Entscheidung ist daher gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden.

4. Rückkehrentscheidung und Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkte IV. und V. des angefochtenen Bescheides):

Gemäß § 52 Abs. 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

Der Beschwerdeführer ist als türkischer Staatsangehöriger kein begünstigter Drittstaatsangehöriger und ihm kommt kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Daher ist gemäß § 52 Abs. 2 FPG eine Rückkehrentscheidung vorgesehen.

Gemäß § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG darf eine Rückkehrentscheidung jedoch nicht verfügt werden, wenn es dadurch zu einer Verletzung des Privat- und Familienlebens käme.

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

Vom Prüfungsumfang des Begriffes des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 25.06.2019, Ra 2019/14/0260 unter Hinweis auf VwGH 02.08.2016, Ra 2016/18/0049).

Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang kommt dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.

Die sozialen Kontakte, die der Beschwerdeführer in Österreich unterhält, sind nicht als Familienleben iSd Art. 8 EMRK zu qualifizieren, weshalb insofern ein Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts zu verneinen ist.

Insoweit ein Bruder und ein Cousin des Beschwerdeführers in der Bundesrepublik Deutschland, ein Onkel väterlicherseits in Frankreich und eine Tante mütterlicherseits in der Schweizerischen Eidgenossenschaft leben, ist schon deshalb mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme keine Trennung von einer im Bundesgebiet zurückbleibenden Person verbunden, was nach VwGH 26.03.2015, 2013/22/0284, eine Berücksichtigung der Beziehungen in der Interessenabwägung freilich nicht obsolet macht. Zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit, wie etwa gegenseitige Unterhaltsgewährung oder eine anderweitige wechselseitige immaterielle Unterstützung, auf die ein Teil zwingend angewiesen wäre, sind im Verfahren bezüglich dieser Personen nicht hervorgekommen und wurden auch nicht behauptet. Ein schützenswertes Familienleben im Sinn der zitieren Rechtsprechung liegt daher nicht vor, zumal der Beschwerdeführer nicht einmal darlegte, dass es mit diesen Personen beispielsweise zu Begegnungen bei gelegentlichen Besuchen kommt.

Die aufenthaltsbeendende Maßnahme bewirkt somit lediglich einen Eingriff in das Privatleben des Beschwerdeführers.

Es ist somit zu prüfen, ob ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens des Beschwerdeführers im gegenständlichen Fall durch den Eingriffsvorbehalt des Art. 8 EMRK gedeckt ist und ein in einer demokratischen Gesellschaft legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK, in verhältnismäßiger Weise verfolgt.

Die Aufenthaltsdauer nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG stellt nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien dar, weshalb auch nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist (vgl. etwa VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055 bis 0058). Einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu (vgl. VwGH 10.04.2019, Ra 2019/18/0058; VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0070 unter Hinweis auf VwGH 21.01.2016, Ra 2015/22/0119; 10.05.2016, Ra 2015/22/0158; 15.03.2016, Ra 2016/19/0031). Erst bei einem (knapp unter) zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden kann regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich ausgegangen werden (vgl. VwGH 14.04.2016; Ra 2016/21/0029), wobei die "Zehn-Jahres-Grenze" in der bisherigen Judikatur nur dann eine Rolle spielt, wenn einem Fremden kein – massives – strafrechtliches Fehlverhalten vorzuwerfen war (vgl. VwGH 03.09.2015, Ra 2015/21/0121, mwN).

Der Beschwerdeführer hält sich seit September 2010 in Österreich auf. Sein erster Antrag auf internationalen Schutz wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.11.2015 rechtskräftig abgewiesen. Bis dahin beruhte der Aufenthalt des Beschwerdeführers auf einem Antrag auf internationalen Schutz, der sich als nicht berechtigt erwies. Der Beschwerdeführer kam seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach und hielt sich unrechtmäßig in Österreich auf. Mit der Stellung des zweiten Antrags auf internationalen Schutz am 08.02.2016 wurde sein Aufenthalt erneut vorübergehend legalisiert. Sein zweiter Antrag auf internationalen Schutz wurde vom BFA mit Bescheid vom 19.04.2016 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte diese Entscheidung mit Erkenntnis vom 24.06.2016. Der Beschwerdeführer kam seiner Ausreiseverpflichtung weiterhin nicht nach und hielt sich abermals unrechtmäßig in Österreich auf. Anschließend stellte er am 18.11.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz, wodurch ihm – nach Zulassung des Verfahrens am 14.09.2018 – erneut ein (nur) vorübergehendes Aufenthaltsrecht zukam. Eine Aufenthaltsdauer wie im vorliegenden Fall stellt nun zwar keine geringe Dauer dar, aber führt nicht per se dazu, dass seine Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären wäre. Nach der bisherigen Rechtsprechung ist auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (vgl. VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216 mwN).

In der Zeit von September 2010 bis November 2015, von Februar 2016 bis Juni 2016 und seit der gegenständlichen Antragstellung im November 2016, also in einem Zeitraum von etwa zehneinhalb Jahren, stützt(e) sich sein Aufenthalt im Ergebnis lediglich auf das Asylrecht, wobei sich der erste Antrag und der gegenständliche Antrag (wie oben dargestellt) letztlich als unbegründet erwiesen und der zweite Antrag als unzulässig zurückgewiesen wurde. Ein großer Teil seines Privatlebens, insbesondere der jüngere, in Österreich wurde sohin zu einem Zeitpunkt und unter Umständen begründet, als ihm bekannt war und bewusst sein musste, dass die Fortsetzung desselben angesichts seines fehlenden Aufenthaltstitels nach Abweisung seines Schutzbegehrens nicht möglich sein würde.

Es sind zudem keine besonderen zu Gunsten des Beschwerdeführers sprechenden integrativen Schritte erkennbar, zumal der Beschwerdeführer ca. fünfeinhalb Jahre seines Aufenthalts im Bundesgebiet in Untersuchungs- bzw. Strafhaft zurückgelegt und auf Grund seiner Anhaltung in Strafhaft von Mai 2016 bis Februar 2021 zuletzt auch keine Möglichkeit hatte, soziale Kontakte außerhalb der Justizanstalten zu pflegen.

Der Beschwerdeführer führt seit etwa Mitte März 2021 in Österreich eine Beziehung zu einer Frau. Als Teil des Privatlebens ist diese Beziehung, die der Beschwerdeführer führt, zu berücksichtigen. Bei der Gewichtung dieses grundsätzlich berücksichtigungswürdigen Elements des Privatlebens ist jedoch zu bedenken, dass die Beziehung erst seit kurzer Zeit, nämlich seit ca. Mitte März 2021, besteht. Ferner trat eine ausgeprägte emotionale Nähe zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Freundin nicht zutage. Schließlich haben die beiden keine gemeinsamen Kinder und sind bislang nicht verheiratet. Auf eine geringe Intensität der Beziehung weist neben diesen Kriterien auch hin, dass der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung nicht bereit war, Details über diese Beziehung preiszugeben. Im Hinblick darauf und weil der Beschwerdeführer die Beziehung zu einem Zeitpunkt begründet hat, zu dem sich die Zulässigkeit des Aufenthalts des Beschwerdeführers allein auf seinen unbegründeten Antrag auf internationalen Schutz stützen konnte, ist die Schutzwürdigkeit des Privatlebens eher gering. Ob es der Freundin möglich und zumutbar wäre, den Beschwerdeführer in die Türkei zu begleiten und allenfalls für längere Zeit oder dauerhaft dort zu leben, kann dahingestellt bleiben. Es wäre nämlich in jedem Fall möglich und zumutbar, den Kontakt mithilfe moderner Kommunikationsmittel und durch Besuche (in Drittstaaten) aufrechtzuerhalten (vgl. VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0235).

Soweit der Beschwerdeführer über weitere private Bindungen in Österreich verfügt, ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Rückkehr in die Türkei gelockert werden, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass der Beschwerdeführer hierdurch gezwungen wird, den Kontakt zu jenen Personen, die ihm in Österreich nahestehen, gänzlich abzubrechen. Auch den Kontakt zu seinen Freunden und Bekannten könnte der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat durch Telekommunikation und etwaige Besuche/Kurzurlaube (in Drittstaaten) weiterhin pflegen. Ebenso wäre dem Beschwerdeführer im Falle der Aufenthaltsbeendigung auf diese Weise die Aufrechterhaltung des Kontakts zu seinen in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Familienangehörigen, seinen in Frankreich lebenden Onkel väterlicherseits und seiner in der Schweizerischen Eidgenossenschaft lebenden Tante mütterlicherseits möglich.

Ein darüber hinausgehendes Engagement bei Organisationen im Wohnort, gemeinnützigen Vereinen oder anderweitige und über die Bindung zu seinen in verschiedenen Staaten Europas lebenden Verwandten hinausgehende intensive soziale Kontakte hat der Beschwerdeführer nicht substantiiert vorgebracht. Von einer gesellschaftlichen Integration im beachtlichen Ausmaß ist aber auch nicht auszugehen, zumal der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren bislang keinerlei entsprechende Unterstützungserklärungen seines Freundes- und Bekanntenkreises in Vorlage brachte.

Der Beschwerdeführer hat auch keine Anknüpfungspunkte in Form einer legalen Erwerbstätigkeit oder anderweitiger maßgeblicher wirtschaftlicher Interessen. Es ist zwar anzuerkennen, dass der Beschwerdeführer im Zuge der zuletzt verbüßten Strafhaft eine berufliche Ausbildung zum Gärtner absolvierte und daher im Zeitraum von 04.07.2017 bis 11.02.2021 Versicherungszeiten gemäß § 66a AlVG erworben hat, allerdings kann nunmehr von einer regelmäßigen Beschäftigung durch die er im Stande ist, seinen Lebensunterhalt aus eigenem zu bestreiten und somit nachhaltigen Integration des Beschwerdeführers in den Arbeitsmarkt, welche auch künftig auf seine Selbsterhaltungsfähigkeit schließen ließe, hieraus aktuell nicht geschlossen werden, zumal der Beschwerdeführer seit 16.06.2021 (voraussichtlich bis 11.01.2022) Arbeitslosengeld in der Höhe von täglich € 26,62 bezieht. Ferner bezog er von 05.10.2010 bis 04.03.2011, von 31.03.2011 bis 02.05.2012 und von 27.09.2015 bis 28.09.2015 Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und ist nunmehr seit 02.06.2021 erneut bei der staatlichen Grundversorgung gemeldet. Schließlich wurde der Beschwerdeführer bzw. wird er auch von seinen Verwandten in der Türkei finanziell unterstützt. Er ist daher nicht selbsterhaltungsfähig. Der Beschwerdeführer ist am Arbeitsmarkt nicht dauerhaft integriert und war bzw. ist er während seines derzeitigen Aufenthalts in Österreich auf fremde bzw. staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen. Insofern fällt diese Tätigkeit im Rahmen der Strafhaft bei der gegenständlichen Abwägungsentscheidung nicht besonders stark ins Gewicht.

Insoweit davon auszugehen ist, dass der Beschwerdeführer auf Grund seines mehrjährigen Aufenthalts und durch den Besuch der Deutschkurse in Österreich die deutsche Sprache in alltagstauglicher Weise beherrscht und diesbezüglich über gewisse Kenntnisse verfügt, ist zunächst anzumerken, dass der Beschwerdeführer eine Deutschprüfung noch nicht abgelegt hat. In diesem Zusammenhang sei aber vor allem auf die höchstgerichtliche Judikatur verwiesen, wonach selbst die – hier bei weitem nicht vorhandenen – Umstände, dass selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt und diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (vgl. VwGH 06.11.2009, 2008/18/0720; 25.02.2010, 2010/18/0029).

Im Verfahren kam nicht hervor, dass er tiefergehend in die österreichische Gesellschaft integriert ist. Es liegen daher keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale vor. Von einer verfestigten und gelungenen Eingliederung des Beschwerdeführers in die österreichische Gesellschaft kann nicht ausgegangen werden.

Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.02.2019, Ro 2019/01/0003, mwN).

Unter der Schwelle des § 50 FPG kommt den Verhältnissen im Herkunftsstaat unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens Bedeutung zu, sodass etwa "Schwierigkeiten beim Beschäftigungszugang oder bei Sozialleistungen" in die bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorzunehmende Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG miteinzubeziehen sind (vgl. VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119 unter Hinweis auf VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101). Ein diesbezügliches konkretes Vorbringen wurde vom Beschwerdeführer nicht glaubhaft erstattet, zumal die Familie des Beschwerdeführers, die ebenfalls der kurdischen Volksgruppe angehört, in der Türkei lebt und die Eltern, mehrere Geschwister und weitere Familienangehörige dort problemlos Mittel zur Bestreitung ihres Unterhalts erlangen und hiermit auch den Beschwerdeführer in Österreich unterstützen können, was ebenfalls gegen das Vorliegen derartiger „Schwierigkeiten“ spricht.

Die Bindungen zum Heimatstaat des Beschwerdeführers sind deutlich stärker ausgeprägt. Der Beschwerdeführer verbrachte etwa die ersten zwanzig Jahre seines Lebens, und damit sehr prägende Jahre, in seinem Heimatland (vgl. VwGH 10.04.2019, Ra 2019/18/0058). Er hat dort seine schulische Ausbildung absolviert und seine Sozialisation erfahren. Er spricht Türkisch und Kurmandschi (Nordkurdisch). In der Türkei leben außerdem noch seine Eltern, mehrere Geschwister, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins. Der Beschwerdeführer hat auch zumindest mit einem Onkel regelmäßig in der Türkei Kontakt. Es ist daher nicht erkennbar, inwiefern sich der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr bei der Wiedereingliederung in die dortige Gesellschaft unüberwindbaren Hürden gegenübersehen könnte. Daher ist im Vergleich von einer deutlich stärkeren Bindung des Beschwerdeführers zur Türkei auszugehen.

Es ist auch davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer Möglichkeiten zur Schaffung einer Existenzgrundlage im Falle einer Rückkehr hat. Der Beschwerdeführer verfügt über eine mehrjährige Schulausbildung. Er spricht Türkisch und Kurmandschi (Nordkurdisch). Seine Eltern, mehrere Geschwister, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins leben – mit einer Ausnahme – in der Provinz Şırnak. Aus welchen Gründen der Beschwerdeführer als junger und und – abgesehen von den festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen – gesunder Mann mit Schulbildung und Berufserfahrung bei einer Rückkehr in die Türkei nicht in der Lage sein sollte, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, ist nicht ersichtlich bzw. wurde auch nicht vorgebracht, zumal der Beschwerdeführer über den kulturellen Hintergrund und die erforderlichen Sprachkenntnisse für die Türkei verfügt. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer in der Lage sein wird, sich in seinem Heimatland, dessen National- und Amtssprache er, neben Kurmandschi (Nordkurdisch), spricht und in dem seine Verwandten leben, zu denen er Kontakt aufnehmen kann, eine Existenzgrundlage aufzubauen.

Im gegenständlichen Fall kommt für den Beschwerdeführer erschwerend hinzu, dass er im Bundesgebiet bereits mehrfach strafgerichtlich verurteilt wurde, was sein Integrationsbemühen, das wie ausgeführt auch kein Besonderes ist, maßgeblich relativiert. Der Beschwerdeführer hat damit eine Missachtung der österreichischen Rechtsordnung an den Tag gelegt und es wird gemäß der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die für die Integration eines Fremden wesentliche soziale Komponente durch von diesem begangene Straftaten erheblich beeinträchtigt (vgl. etwa VwGH 19.11.2003, 2002/21/0181 mwN).

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 30.10.2013 wegen des Verbrechens der Schlepperei zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt. Ein Teil der Freiheitsstrafe von 16 Monaten wurde bedingt nachgesehen, wobei die Probezeit mit drei Jahren bestimmt wurde und die bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe schließlich widerrufen wurde. Wenig später wurde der Beschwerdeführer nach Erhebung einer Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts XXXX vom 14.11.2016 mit Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 04.07.2017 wegen des Vergehens der Verleumdung und des Verbrechens der Schlepperei zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Schließlich wurde der Beschwerdeführer nach Erhebung einer Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts XXXX vom 25.04.2017 mit Urteil des Oberlandesgerichts XXXX vom 30.08.2017 wegen des Verbrechens des versuchten Missbrauchs der Amtsgewalt zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Der Bekämpfung der Schlepperei, noch dazu in der hier mehrfach qualifizierten Form, kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu (vgl. VwGH 26.06.2019, Ra 2019/21/0118 unter Hinweis auf VwGH 24.01.2013, 2010/21/0523, mwN).

Was die Verfahrensdauer im gegenständlichen Verfahren betrifft, liegen zwischen der Antragstellung durch den Beschwerdeführer und der Erlassung des angefochtenen Bescheids durch die belangte Behörde etwa vier Jahre und zwei Monate. Die erste behördliche Entscheidung über den Antrag des Beschwerdeführers aus dem Jahr 2018 hatte das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2018 behoben. Von der Vorlage der gegenständlichen Beschwerde bis zur Entscheidung durch das Verwaltungsgericht vergingen ca. sechs Monate. In dieser Zeit führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die Angaben des Beschwerdeführers basieren allerdings auf einem tatsachenwidrigen Vorbringen, welches vom Beschwerdeführer auf Grund von Opportunitätserwägungen im Hinblick auf den Ausgang oder zumindest auf die Dauer des Verfahrens vorgetragen wurde. Des Weiteren beharrte der Beschwerdeführer auf der Richtigkeit dieses Vorbringens und setzte in diesem Zeitraum ebenso wenig Schritte, welche zur Beschleunigung des Verfahrens beitragen hätten können, etwa indem er sein Vorbringen richtigstellte. Hierzu ist auch anzuführen, dass es einem Asylwerber mit dem Wissen, Ausbildungsstand, bisherigen Lebensweg und den Kenntnissen des Beschwerdeführers aus seiner Laiensphäre erkennbar war oder erkennbar sein musste, dass die Erstattung eines wahrheitswidrigen Vorbringens nicht zur Beschleunigung des Verfahrens, sondern zu dessen Gegenteil beiträgt. Es ist im Rahmen einer Gesamtschau insoweit festzuhalten, dass eine raschere Erledigung des Asylverfahrens denkbar gewesen wäre. Dennoch ist im gegenständlichen Fall auf Grund des Vorbringens des Beschwerdeführers sowie seines Verhaltens im Verfahren davon auszugehen, dass kein Sachverhalt vorliegt, welcher die zeitliche Komponente im Lichte der Erkenntnisse des VfGH 07.10.2010, B950/10 ua bzw. VfGH 10.03.2011, B1565/10 ua in den Vordergrund treten ließe, womit aufgrund der Verfahrensdauer im Rahmen der Interessensabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK von einem Überwiegen der privaten Interessen des Beschwerdeführers auszugehen wäre. In Bezug auf ein gewisses Behördenverschulden in Bezug auf die Verfahrensdauer vgl. auch bei Vorliegen weitaus engerer Bindungen im Sinne des Art. 8 EMRK und einem etwa zehnjährigen Aufenthalt im Staat der Antragstellung das Urteil des EGMR vom 08.04.2008, NNYANZI gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 21878/06. Hierbei darf nicht übersehen werden, dass der Beschwerdeführer, wie dargelegt, während seines Aufenthalts im Bundesgebiet weder ein ausgeprägtes Privatleben begründet noch sich vielfältig integriert hat. Vor allem hebt das Bundesverwaltungsgericht auch noch einmal die drei strafgerichtlichen Verurteilungen hervor, auf Grund derer der Beschwerdeführer mehr als fünfeinhalb Jahre seines Aufenthalts in Österreich in Haft verbrachte.

Der Beschwerdeführer vermochte zum Entscheidungszeitpunkt daher keine entscheidungserheblichen integrativen Anknüpfungspunkte im österreichischen Bundesgebiet darzutun, welche zu einem Überwiegen der privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im österreichischen Bundesgebiet gegenüber den öffentlichen Interessen an einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat führen könnten.

Auf Grund der genannten Umstände überwiegen in einer Gesamtabwägung die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung die privaten Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet. Auch wenn das Bundesverwaltungsgericht die bisherige erhebliche Aufenthaltsdauer und das daraus entstandene Interesse des Beschwerdeführers an der Fortsetzung seines Privatlebens im Bundesgebiet nicht verkennt, wiegt im gegenständlichen Fall das Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Sinne eines geordneten Fremdenwesens und das Interesse an der Hintanhaltung von Straftaten, wie sie vom Beschwerdeführer in zahlreichen Fällen begangen wurden, schwerer als die privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem Weiterverbleib im Bundesgebiet, zumal der Beschwerdeführer erst im Februar 2021 bedingt aus der Strafhaft entlassen wurde. Dazu tritt, dass der Beschwerdeführer sein Privatleben im Wesentlichen in einem Zeitraum, als sein Aufenthalt unsicher war und er sowohl vom negativen Ausgang des ersten Asylverfahrens als auch über die gegen ihn bestehende Rückkehrentscheidung Bescheid wusste, begründete. Er kam seiner Pflicht zum Verlassen des österreichischen Bundesgebiets nicht nach. Ferner ist auch der Grad der Integration nicht als ausgeprägt einzuordnen. Durch die angeordnete Rückkehrentscheidung liegt eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vor. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.

Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG stellt sohin keine Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iVm Art. 8 EMRK dar.

Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Abs. 1 AsylG ist, dass dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iSd Art. 8 EMRK geboten ist. Nur bei Vorliegen dieser Voraussetzung kommt ein Abspruch über einen Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG überhaupt in Betracht (vgl. VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101).

Mit der Rückkehrentscheidung ist gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG (vgl. VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0234).

Die Zulässigkeit der Abschiebung gemäß § 52 Abs. 9 iVm § 50 FPG folgt aus der Nichtgewährung von Asyl und subsidiärem Schutz (vgl. VwGH 07.03.2019, Ra 2019/21/0044 bis 0046 mwN). Insoweit war auch Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG mit der Maßgabe zu bestätigen, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist, da im gegenständlichen Verfahren der Zielstaat der Abschiebung des Beschwerdeführers zweifelsfrei festgestellt werden konnte. Die belangte Behörde ist bei der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in Spruchpunkt V. eindeutig von der Türkei als Zielstaat ausgegangen (siehe Seite 85 des bekämpften Bescheides). Insoweit handelte es sich bei der unterbliebenen Bezugnahme auf den Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides um ein bloßes Versehen der belangten Behörde, welches nunmehr korrigiert wurde.

5. Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides):

Da im gegenständlichen Verfahren weder ein Fall einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG vorliegt noch die Entscheidung aufgrund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar ist, war es erforderlich, eine Frist für die freiwillige Ausreise vorzusehen, was die belangte Behörde jedoch unterließ.

Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt daher gemäß § 55 Abs. 2 FPG vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

Gemäß § 55 Abs. 3 FPG kann bei Überwiegen besonderer Umstände die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. Der Beschwerdeführer hat zwar auch Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides bekämpft und hilfsweise die Gewährung einer vierwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise beantragt, diesbezüglich jedoch weder die besonderen Umstände nachgewiesen noch einen Termin für seine Ausreise bekanntgegeben.

6. Einreiseverbot (Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides):

§ 53 FPG lautet auszugsweise:

„Einreiseverbot

§ 53. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.

(Anm.: Abs. 1a aufgehoben durch BGBl. I Nr. 68/2013)

(2) …

(3) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 9 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;2. - 9. …

(4) Die Frist des Einreiseverbotes beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen.

(5) Eine gemäß Abs. 3 maßgebliche Verurteilung liegt nicht vor, wenn sie bereits getilgt ist. § 73 StGB gilt.

(6) Einer Verurteilung nach Abs. 3 Z 1, 2 und 5 ist eine von einem Gericht veranlasste Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gleichzuhalten, wenn die Tat unter Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes begangen wurde, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht.“

Bei der im Verfahren betreffend Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot zu treffenden Gefährdungsprognose gemäß § 52 Abs. 5 FPG ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0109 unter Hinweis auf VwGH 24.03.2015, Ra 2014/21/0049, und 20.10.2016, Ra 2016/21/0289).

Bei der Prüfung, ob die Annahme einer hinreichend schweren Gefährdung iSd § 53 Abs. 3 FPG gerechtfertigt ist, ist eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung vorzunehmen (vgl. VwGH 23.05.2018, Ra 2018/22/0003 unter Hinweis auf VwGH 27.4.2017, Ra 2016/22/0094).

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 30.10.2013, XXXX , wegen des Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs. 1, Abs. 3 und Abs. 4 erster Fall FPG zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt. Ein Teil der Freiheitsstrafe von 16 Monaten wurde bedingt nachgesehen, wobei die Probezeit mit drei Jahren bestimmt wurde und die bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe schließlich widerrufen wurde.

Der Beschwerdeführer wurde nach Erhebung einer Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts XXXX vom 14.11.2016, XXXX , mit Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 04.07.2017, XXXX , wegen des Vergehens der Verleumdung nach § 297 Abs. 1 erster Fall StGB und des Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs. 1, Abs. 3 Ziffer 1 und 2, Abs. 4 erster Fall FPG zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.

Der Beschwerdeführer wurde nach Erhebung einer Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts XXXX vom 25.04.2017, XXXX , mit Urteil des Oberlandesgerichts XXXX vom 30.08.2017, XXXX , wegen des Verbrechens des versuchten Missbrauchs der Amtsgewalt nach §§ 15, 12 zweiter Fall, 302 Absatz 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt.

Alle drei Verurteilungen erfüllen die Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG.

Ist der Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG erfüllt, so ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit indiziert (vgl. VwGH 27.01.2015, 2013/22/0298 unter Hinweis auf VwGH 30.07.2014, 2013/22/0281).

Betrachtet man die Straftaten des Beschwerdeführers, so fällt deren besondere Schwere auf.

Der Beschwerdeführer hat zwischen März und Juni 2013 als Mitglied einer kriminellen Vereinigung im Auftrag unterschiedlicher Schlepperorganisatoren in 29 Fällen jeweils zwischen ein und zwölf türkische, syrische bzw. albanische Staatsangehörige nach Wien, Italien, Deutschland, Norwegen, Dänemark, Frankreich bzw. zum Flughafen Wien bringen lassen bzw. zu bringen versucht sowie in Hotels untergebracht, um sie danach an andere Orte zu bringen. Außerdem haben die Mittäter des Beschwerdeführers im Auftrag des Beschwerdeführers fremde Staatsangehörige nach Deutschland oder Italien gebracht bzw. zu bringen versucht. Die Mittäter haben dem Beschwerdeführer Fahrer für die Schlepperfahrten angeboten, ein Konto für die Überweisung des Schlepperentgelts dem Beschwerdeführer zur Verfügung gestellt und wurden vom Beschwerdeführer für Schlepperfahrten bezahlt. Bei der Strafzumessung (dieser ersten Verurteilung) wurden als mildernd das Geständnis, der darüberhinausgehende Beitrag zur Wahrheitsfindung und der bisherige ordentliche Lebenswandel, als erschwerend die über die Gewerbsmäßigkeit hinausgehende Vielzahl der Angriffe berücksichtigt.

Der Beschwerdeführer hat sich Anfang 2015 einer kriminellen Vereinigung von zumindest zehn Personen angeschlossen. Dieser Zusammenschluss war auf eine Dauer von mehreren Jahren angelegt. Der Beschwerdeführer hat Schlepperaufträge von zwei führenden Mitglieder der Vereinigung und von zwei weiteren Personen erhalten. Der Beschwerdeführer erhielt pro geschleppte Person zumindest € 100, (bei einer Schlepperfahrt) bzw. zumindest € 350, (bei einem Schlepperflug). Die Schleppungen wurden teilweise zwischen Wien und Deutschland, teilweise zwischen Budapest und Deutschland sowie im Falle von Flugschleppungen von Wien nach Berlin und von Wien nach Barcelona durchgeführt. Die Schlepperfahrten und Schlepperflüge organisierte und führte der Beschwerdeführer teilweise auch selbst durch, hinsichtlich einer Anzahl von zumindest 100 Fremden. Weiters tätigte der Beschwerdeführer in der Hauptverhandlung zu AZ XXXX die Aussage, ein Polizeibeamter, der ihn im Ermittlungsverfahren vernommen habe, habe ihn geschlagen und eingeschüchtert, um von ihm eine belastende Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um ihn für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihm oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen. Der Beschwerdeführer hat diesen Polizeibeamten damit der Gefahr einer behördlichen Verfolgung ausgesetzt. Insgesamt berücksichtigte der Oberste Gerichtshof bei der Strafneubemessung (der zweiten Verurteilung des Beschwerdeführers) als erschwerend das Zusammentreffen mehrerer Verbrechen mit einem Vergehen, die auf gleicher schädlicher Neigung beruhende Vorstrafe, die Tatbegehung während offener Probezeiten, den langen Tatzeitraum und die zusätzliche Erfüllung der nicht den Strafrahmen bestimmenden Qualifikationen nach § 114 Abs. 2 Z 1 und 2 FPG, als mildernd hingegen keinen Umstand.

Der Beschwerdeführer hat schließlich am 21.12.2016 in der Justizanstalt XXXX einen Justizwachebeamten gebeten, ihm ein Mobiltelefon zu besorgen, weshalb der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des versuchten Missbrauchs der Amtsgewalt verurteilt wurde. Bei der Strafzumessung wurde die Tatbegehung während Verbüßung einer Haftstrafe, der äußerst rasche Rückfall nur rund einen Monat nach der zuletzt erfolgten Verurteilung, die neuerliche Delinquenz während offener Probezeit zur bedingten Entlassung gewertet sowie die Unbeeindrucktheit des Beschwerdeführers gegenüber bereits erfahrener, zeitnah gelegener staatlicher Reaktion auf strafbares Handeln. Als mildernd wurde gewertet, dass es beim Versuch geblieben ist.

Der Beschwerdeführer reiste im September 2010 in Österreich ein und begann bereits nach zweieinhalb Jahren mit massiven kriminellen Handlungen. Es kann nicht prognostiziert werden, dass sich der Beschwerdeführer in Zukunft wohlverhalten bzw. nicht wieder straffällig werden wird. Dem Beschwerdeführer ist vielmehr entgegenzuhalten, dass weder die Vorverurteilungen oder die bereits zuvor vollzogene Haftstrafe den Beschwerdeführer langfristig von der Begehung neuerlicher Straftaten abgehalten haben.

Der Wohlverhaltenszeitraum des Fremden in Freiheit ist üblicherweise umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich die Gefährlichkeit des Fremden manifestiert hat (vgl. VwGH 26.04.2018, Ra 2018/21/0027 unter Hinweis auf VwGH 22.01.2015, Ra 2014/21/0009).

Der Beschwerdeführer wurde erst am 12.02.2021 aus der Haft entlassen. Der Wohlverhaltenszeitraum des Beschwerdeführers in Freiheit beträgt erst ca. sieben Monate und ist damit noch zu kurz. Auch wenn der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung seine Schlepperhandlungen teilweise eingestand und – wie bereits im Zuge der Beschwerde (AS 653, 657) – erklärte, er würde seine Taten bereuen, vermag dies nicht zu überzeugen, da der Beschwerdeführer nämlich in der mündlichen Verhandlung andererseits vermeint, er sei an „falsche Freunde“ geraten, womit er im Ergebnis die Verantwortung für sein eigenes Handeln nicht übernehmen will. In dieses Bild passt es im Übrigen auch, dass der Beschwerdeführer bezüglich seiner „letzten Schlepperei“ in der mündlichen Verhandlung behauptete, nichts verdient zu haben, einer Verwandtschaft geholfen zu haben und auf Grund der Aussage eines Mittäters verurteilt worden zu sein, was ebenfalls indiziert, dass er versucht, seine persönliche Verantwortung für diese Straftaten möglichst gering erscheinen zu lassen bzw. zumindest abschnittsweise den Versuch unternimmt, seine Taten zu relativieren, weshalb auch von einer mangelnden Einsicht auszugehen ist. Insoweit der Beschwerdeführer im Übrigen – ohne dies noch näher auszuführen – schilderte, nach seiner Inhaftierung von illegalen Tätigkeiten ferngeblieben zu sein, so erlaubt sich das Bundesverwaltungsgericht auf die vom Beschwerdeführer in Haft begangene Straftat zu verweisen, die zu seiner dritten strafgerichtlichen Verurteilung führte. Zudem ist der Wohlverhaltenszeitraum üblicherweise umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich die Gefährlichkeit des Fremden manifestiert hat. Der Beschwerdeführer hat zweimal eine gewerbsmäßige Schlepperei über einen Zeitraum von mehreren Monaten in der ersten Jahreshälfte 2013 und dann seit Anfang 2015 als Mitglied einer kriminellen Vereinigung und in Bezug auf zahlreiche Fremde begangen, was eine große Wiederholungsgefahr (vgl. VwGH 10.04.2014, 2013/22/0314) indiziert. Bereits auf Grund dieser Umstände muss von einer nachdrücklichen Manifestierung der Gefährlichkeit ausgegangen werden und es kann daher nach einem Wohlverhaltenszeitraum von erst ca. sieben Monaten noch von keinem Gesinnungswandel ausgegangen werden.

Sofern der Beschwerdeführer im Februar 2021 unter Anordnung der Bewährungshilfe bedingt aus der Strafhaft entlassen wurde, ist diesbezüglich auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach das Fehlverhalten eines Fremden und die daraus abzuleitende Gefährlichkeit ausschließlich aus dem Blickwinkel des Fremdenrechts, also unabhängig von gerichtlichen Erwägungen über bedingte Strafnachsichten oder eine bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug, zu beurteilen ist (vgl. VwGH 26.06.2019, Ra 2019/21/0118 unter Hinweis auf VwGH 08.09.2009, 2008/21/0600, mwN, und daran anschließend beispielsweise auch VwGH 29.04.2010, 2010/21/0096).

Bei der Schlepperei handelt es sich um ein die öffentliche Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens besonders schwer beeinträchtigendes Fehlverhalten. Bei der Schlepperkriminalität besteht – insbesondere bei der gewerbsmäßigen Vorgangsweise über einen Zeitraum von mehreren Monaten – Wiederholungsgefahr (vgl. VwGH 07.02.2008, 2006/21/0343).

Angesichts des vom Beschwerdeführer gesetzten Verhaltens stellt der weitere Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit dar, weshalb die Erlassung eines Einreiseverbots gerechtfertigt ist.

Bei der Festsetzung der Dauer eines Einreiseverbotes ist immer eine Einzelfallprüfung vorzunehmen. Dabei ist das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen zu beurteilen, aber auch darauf abzustellen, wie lange die von ihm ausgehende Gefährdung zu prognostizieren ist. Außerdem ist auf seine privaten und familiären Interessen Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237, VwSlg. 18295 A/2011, zur Rechtslage nach dem FrÄG 2011). Diese Rechtsprechung ist auch für die Rechtslage nach dem FrÄG 2018 aufrechtzuerhalten (vgl. VwGH 04.04.2019, Ra 2019/21/0009).

Bei der Entscheidung über die Länge des Einreiseverbots ist die Dauer der vom Fremden ausgehenden Gefährdung zu prognostizieren; außerdem ist auf seine privaten und familiären Interessen Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0109 unter Hinweis auf VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237).

Im Falle des Beschwerdeführers ist die Verhängung eines Einreiseverbots in der Dauer von zehn Jahren möglich. Eine Herabsetzung der Dauer des Einreiseverbots auf ein oder zwei Jahr(e) – wie in der Beschwerde thematisiert (AS 655, 659) – kommt nicht in Betracht. Vielmehr stellt sich die von der belangten Behörde verhängte Dauer des Einreiseverbots im Ausmaß von fünf Jahren als zu gering dar. Das BFA hat in seinem Bescheid nicht dargelegt, weshalb es fünf Jahre als angemessen hält. Es wird bloß der Strafregisterauszug dargestellt und ansonsten allgemein gehaltene Textbausteine (As 621ff) angeführt, die jeglichen Bezug zum konkreten Fall vermissen lassen.

Angesichts der drei strafrechtlichen Verurteilungen, der verhängten Freiheitsstrafen in der Dauer von 24 Monaten, drei Jahren und zuletzt zehn Monaten, der vom Beschwerdeführer gewerbsmäßig und als Mitglied einer kriminellen Vereinigung zahlreichen begangenen Schlepperhandlungen über längere Zeiträume, der großen Zahl an geschleppten Fremden, des Umstands, dass der Beschwerdeführer einen Polizeibeamten der Gefahr einer behördlichen Verfolgung aussetzte, der Tatsache, dass er einen Justizwachebeamten während der Zeit in Haft bat, ihm ein Mobiltelefon zu besorgen, erweist sich, auch unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände im Bundesgebiet, auf Grund der im Vorabsatz angeführten Umstände und der daraus abzuleitenden Zukunftsprognose eine Dauer des gegen den Beschwerdeführer zu verhängenden Einreiseverbots von acht Jahren als angemessen und erforderlich.

Der vom Beschwerdeführer ausgehenden schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit kann nur durch die Verhängung eines Einreiseverbots in dieser Dauer effektiv begegnet werden.

Die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt VII. war daher mit der entsprechenden Maßgabe als unbegründet abzuweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung mit der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes übereinstimmt.

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