OGH 9ObA64/24p

OGH9ObA64/24p23.10.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Hargassner und die Hofrätin Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Werner Stepanowsky (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Engelbrecht Rechtsanwalts GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei B*, vertreten durch Fellner Wratzfeld & Partner, Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Zahlung, Leistung und Feststellung (Gesamtstreitwert: 3.001.242,69 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Juni 2024, GZ 7 Ra 1/24d‑22, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:009OBA00064.24P.1023.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision der beklagten Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der beim beklagten Kreditinstitut seit 1. 9. 2008 in der zweiten Hierarchieebene als „Head of Strategy“ beschäftigt gewesene Kläger wurde am 30. 3. 2020 entlassen.

[2] Mit Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 10. 9. 2021 wurde das wegen eines verpönten Motivs erhobene Entlassungsanfechtungsbegehren des Klägers abgewiesen. Das bestätigende Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 26. 4. 2022 (8 Ra 18/22h) wurde der Klagevertretung am 11. 5. 2022 mittels elektronischer Übermittlung bereit gestellt. Dieses vertrat die Rechtsauffassung, dass der Kläger zwar keinen Entlassungsgrund gesetzt habe, aber ein verpöntes Beendigungsmotiv nicht nachweisen habe können.

[3] Am 7. 10. 2022 brachte der Kläger die gegenständliche Klage mit mehreren Zahlungs-, Leistungs- und Feststellungsbegehren ein.

[4] Mit Teil-Zwischenurteil erkannte das Erstgericht die Beklagte schuldig, dem Kläger an Kündigungsentschädigung für die ersten drei Monate 180.000,16 EUR brutto (Spruchpunkt 1.) sowie an Urlaubsersatzleistung unter Berücksichtigung der fiktiven Kündigungszeit 152.427,40 EUR [gemeint erkennbar: brutto] (Spruchpunkt 3.), jeweils zuzüglich 8,58 % Zinsen zu zahlen. Weiters sprach es aus, dass das Begehren, die Beklagte sei schuldig, dem Kläger an Kündigungsentschädigung für den Zeitraum 30. 6. 2020 bis 31. 12. 2021 1.067.149,11 EUR zu zahlen, dem Grunde nach zu Recht bestehe (Spruchpunkt 2.). Die Entlassung des Klägers sei unberechtigt erfolgt, die entlassungsabhängigen Ansprüche auf Kündigungsentschädigung und Ersatzleistung bestünden daher zu Recht.

[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

[6] Die außerordentliche Revision der Beklagten zeigt keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

[7] 1.1. Gemäß § 34 Abs 1 AngG müssen Ersatzansprüche ua wegen vorzeitiger Entlassung im Sinne des § 29 AngG, bei sonstigem Ausschluss binnen sechs Monaten gerichtlich geltend gemacht werden. Nach Abs 2 leg cit beginnt die Frist mit dem Ablauf des Tages, an dem die Entlassung stattfand.

[8] 1.2. Nach ständiger Judikatur des Obersten Gerichtshofs ist § 1497 ABGB auf die Ausschlussfristen des Arbeitsrechts und damit auch auf § 34 AngG analog anzuwenden (9 ObA 53/19p Pkt 2.; RS0029716 [T7, T9]).

[9] 1.3. Es entspricht auch der herrschenden Rechtsprechung, dass eine Anfechtungsklage nach §§ 105 f ArbVG die Verjährungsfrist sowie die Ausschluss- bzw Verfallsfrist für die aus dem Arbeitsverhältnis abgeleiteten Ansprüche einschließlich der Beendigungsansprüche unterbricht. Diese Unterbrechungswirkung iSd § 1497 ABGB dauert bis zum Abschluss des Anfechtungsprozesses an und gilt auch für den Fall der Klagsabweisung und für eine Klagszurückziehung, zumal durch diese die Unterbrechungswirkung lediglich verkürzt wird (8 ObA 21/12i Pkt 3.2. = RS0127993; 8 ObA 21/15v Pkt 3.; 8 ObA 121/20g Rz 1; RS0029716 [T14]).

[10] 1.4. Die Unterbrechung der Verjährung nach § 1497 ABGB vernichtet die Wirkung des bisherigen Zeitablaufs zur Gänze; die Verjährung beginnt nach Wegfall des Unterbrechungstatbestands neu zu laufen (8 Ob 50/16k Pkt 3.; Dehn in KBB7, § 1497 ABGB Rz 1; Vollmaier in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang3 § 1497 ABGB Rz 1, 94). Nach Abschluss des Anfechtungsprozesses, also nach rechtskräftiger Abweisung der Entlassungsanfechtungsklage beginnt daher die sechsmonatige Verfallsfrist infolge der Unterbrechungswirkung neu zu laufen (Haider in Reissner, Angestelltengesetz4 § 34 Rz 17; Pfalz in Kozak, ABGB und Arbeitsrecht, § 1497 Rz 2).

[11] 1.5. Auch aus der in der außerordentlichen Revision zitierten Lehrmeinung von R. Madl (in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.07 § 1497 Rz 39), die im Übrigen von der Revisionswerberin verkürzt und außerhalb des notwendigen Kontextes wiedergegeben wird, ergibt sich nichts Gegenteiliges. R. Madl befasst sich in dieser Rz 39 mit der Frage, zu welchem Zeitpunkt die Unterbrechungswirkung des § 1497 ABGB im Fall der Klagsführung eintritt. Er spricht sich dafür aus, dass die Unterbrechungswirkung erst durch das rechtskräftige Urteil ausgelöst werde. Während des laufenden Prozesses – bevor also ein rechtskräftiges Urteil ergangen sei – werde hingegen nur der Ablauf der Verjährungsfrist gehemmt, solange die Klage gehörig fortgesetzt werde, sodass die Unterbrechung durch Klagsführung wie eine Ablaufshemmung wirke. Auch R. Madl unterstellt der Unterbrechung nach § 1497 ABGB demnach nicht die Rechtswirkung einer Hemmung (vgl dazu R. Madl in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.07 § 1497 Rz 5). Die „Ablaufhemmung“, auf die sich die Revisionswerberin beruft, wird von ihm in Rz 39 lediglich zur dogmatischen Begründung der Wirkung des § 1497 ABGB während des noch laufenden (die letztliche Unterbrechung bewirkenden) Verfahrens herangezogen.

[12] 1.6. Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, die mit Klage vom 7. 10. 2022 geltend gemachten Ansprüche auf Kündigungsentschädigung und Urlaubsersatzleistung sind nicht verfallen, ist daher im Ergebnis zutreffend. Auf die Frage, inwieweit das fünfmonatige Zuwarten des Klägers zur Einbringung der Leistungsklage nach rechtskräftiger Beendigung des Anfechtungsverfahrens als „gehörige Fortsetzung“ zu sehen ist, kommt es im vorliegenden Fall nicht an. Darauf, dass der Kläger das Anfechtungsverfahren nicht gehörig fortgesetzt hätte (vgl dazu 8 ObA 121/20g Rz 2), beruft sich die Revisionswerberin nicht.

[13] 2.1. Die Beurteilung, ob im Einzelfall ein Entlassungsgrund verwirklicht wurde, stellt regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0106298; zu § 27 Z 1 AngG: RS0103201; vgl auch RS0029420 [T3]). Dass eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einem vergleichbaren Sachverhalt fehlt, bedeutet keineswegs, dass die Entscheidung von der Lösung einer iSd § 502 Abs 1 ZPO erheblichen Rechtsfrage des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts abhängt (RS0102181).

[14] 2.2. Zutreffend ist das Berufungsgericht hier von der Auslegungsregel des § 914 ABGB ausgegangen, weil diese Bestimmung nicht nur für Verträge, sondern auch für einseitige Erklärungen gilt (7 Ob 41/87; 9 ObA 131/05p mwH; 8 Ob 28/18b mH auf Rummel in Rummel/Lukas ABGB4 § 914 ABGB Rz 2 mwN).Nach ständiger Rechtsprechung ist die Auslegung einer Willenserklärung am Empfängerhorizont zu messen, wobei die aus der Erklärung abzuleitenden Rechtsfolgen nicht danach zu beurteilen sind, was der Erklärende sagen wollte oder was der Erklärungsempfänger darunter verstanden hat, sondern wie die Erklärung bei objektiver Beurteilung der Sachlage durch einen redlichen und verständigen Menschen zu verstehen war (RS0113932). Wie dabei eine Erklärung im Einzelfall aufzufassen ist, ist jeweils nur nach dessen besonderen Umständen zu beurteilen und stellt – von groben Auslegungsfehlern und sonstigen krassen Fehlbeurteilungen abgesehen – im Allgemeinen keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0042555 [T28]). Davon ist auch im vorliegenden Fall auszugehen.

[15] 2.3. Die angefochtene Entscheidung, wonach das an die Beklagte gerichtete Aufforderungsschreiben des Klägers mit dem Hinweis „Sollten Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, behalten wir uns weitere Schritte in enger Abstimmung mit der Finanzmarktaufsicht zur Vorbereitung einer gerichtlichen Durchsetzung vor.“ aus Sicht eines redlichen und objektiven Erklärungsempfängers nicht als Drohung mit dem Involvieren der Aufsichtsbehörde und schon gar nicht als versuchte Erpressung zu verstehen gewesen sei, bewegt sich im Rahmen der Grundsätze der Rechtsprechung zur Auslegung von Willenserklärungen. Die Tatbestandsvoraussetzungen für das Vorliegen der Entlassungsgründe der Vertrauensunwürdigkeit nach § 27 Z 1 letzter Fall AngG oder der beharrlichen Verletzung der dienstvertraglichen Pflichten nach § 27 Z 4 zweiter Fall AngG liegen daher nicht vor.

[16] 3.1. Die Mitverschuldensregel des § 32 AngG kommt „ausnahmsweise“ auch dann zur Anwendung, wenn sich die von einem Teil erklärte vorzeitige Auflösung des Arbeitsverhältnisses zwar als ungerechtfertigt erweist, der Erklärungsempfänger aber ein schuldhaftes Verhalten an den Tag gelegt hat, das im Zusammenwirken mit einem ebenfalls schuldhaften Verhalten des Erklärenden für die Auflösung ursächlich war. Nach ständiger Rechtsprechung kann die Mitverschuldensregel bei ungerechtfertigter vorzeitiger Auflösung demnach aber nur dort greifen, wo der Erklärungsempfänger ein Verhalten gesetzt hat, das zusätzlich bzw unabhängig von dem für die vorzeitige Auflösung nicht ausreichenden Verhalten für die Auflösung kausal im Sinne der Verursachung eines Informationsmangels des die Auflösung unberechtigt Erklärenden war; Tatbestände, die sich nicht als taugliche Auflösungsgründe erwiesen haben, müssen daher für die Beurteilung eines allfälligen Mitverschuldens außer Betracht bleiben (RS0124568; 8 ObA 13/24f Rz 1 mwN). § 32 AngG dient nicht dazu, im Falle einer ungerechtfertigten Entlassung, für die die geltend gemachten Gründe nicht ausreichen, die den Arbeitgeber wegen der ungerechtfertigten Entlassung treffenden Rechtsfolgen zu mildern (RS0028230 [T4, T5]).

[17] 3.2. Das Vorliegen eines Mitverschuldens kann typischerweise nur aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden, sodass regelmäßig keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO vorliegt, es sei denn, den Vorinstanzen wäre eine aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlaufen (8 ObA 13/24f Rz 2; RS0028217 [T5]). Eine solche zeigt die Revisionswerberin nicht auf, legt sie doch weder mit dem Vorwurf, der Kläger habe eine „unklare“ Formulierung verwendet, noch mit dem weiteren Vorwurf, er hebe eine „mehrdeutige“ Formulierung auf einen vom unzureichenden Entlassungsgrund unabhängigen Aspekt des Verhaltens des Klägers dar.

[18] 4. Die behauptete Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens wurde vom Senat geprüft; sie liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).

[19] Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision der Beklagten zurückzuweisen.

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