OGH 12Os68/24b

OGH12Os68/24b5.9.2024

Der Oberste Gerichtshof hat am 5. September 2024 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Oshidari, Dr. Brenner, Dr. Haslwanter LL.M. und Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Wachter in der Strafsache gegen * S* und andere Angeklagte wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 4 Z 3 SMG und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten S* sowie die Berufungen des Angeklagten * P* und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 4. März 2024, GZ 28 Hv 133/23m‑113, sowie über die Beschwerde des S* gegen den zugleich ergangenen Beschluss auf Widerruf einer bedingten Entlassung nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0120OS00068.24B.0905.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Suchtgiftdelikte

 

Spruch:

 

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde werden das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, in der S* betreffenden rechtlichen Unterstellung der zu Schuldspruch I dargestellten Tat unter § 28a Abs 4 Z 3 SMG und im Schuldspruch II, demzufolge auch im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechnung) des Genannten, und der Beschluss auf Widerruf einer bedingten Entlassung aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Innsbruck verwiesen.

Der Angeklagte S* wird mit seiner Berufung und seiner Beschwerde ebenso auf diese Entscheidung verwiesen wie die Staatsanwaltschaft mit ihrer Berufung.

Zur Entscheidung über die Berufung des Angeklagten P* werden die Akten vorerst dem Oberlandesgericht Innsbruck zugeleitet.

Dem Angeklagten S* fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen (hinsichtlich des Überlassens von 5.000 Gramm Kokain aufgrund tatbestandlicher Handlungseinheit [vgl 11 Os 93/21t] einen rechtlich verfehlten, aber unbeachtlichen Freispruch enthaltenden [US 9; vgl RIS‑Justiz RS0120128, RS0115553 {T6, T9}]) Urteil wurde – soweit hier relevant – * S* (jeweils) des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 4 Z 3 SMG (I) und der Vorbereitung von Suchtgifthandel nach § 28 Abs 1 erster und zweiter Fall und Abs 2 SMG (II) schuldig erkannt.

[2] Danach hat er

(I) im Zeitraum Juli 2022 bis zum 13. September 2023 in I* vorschriftswidrig Suchtgift „in einer die Grenzmenge (§ 28b SMG) um das 25‑Fache übersteigenden Menge“, nämlich insgesamt 2.045 Gramm Kokain mit einem Reinheitsgehalt von 64,43 % Cokain (zu a und c) sowie insgesamt 171,8 Gramm Kokain mit unterschiedlichem im Urteil angeführtem Reinheitsgehalt (zu b), anderen überlassen, und zwar

a) 2.000 Gramm einem Unbekannten und 30 Gramm * K*;

b) 4 Gramm * W* und 167,8 Gramm einem verdeckten Ermittler;

c) 15 Gramm mehreren Unbekannten;

(II) im genannten Zeitraum in I* vorschriftswidrig Suchtgift „in einer die Grenzmenge (§ 28b SMG) um das 15‑Fache übersteigenden Menge“, nämlich insgesamt 4.630,8 Gramm Kokain unterschiedlichen im Urteil angeführten Reinheitsgehalts, mit dem Vorsatz erworben und besessen, dass es in Verkehr gesetzt werde.

Rechtliche Beurteilung

[3] Gegen den Schuldspruch I/a richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 5, 5a und 9 lit a StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten S*, der Berechtigung zukommt.

[4] Der Erledigung der Subsumtionsrüge (Z 10, nominell Z 9 lit a) wird vorausgeschickt, dass dem Beschwerdeführer nach dem Urteilssachverhalt mehrere (sukzessive) Tathandlungen angelastet werden, die über einen von Anfang bestehenden Additionsvorsatz zu einer tatbestandlichen Handlungseinheit verknüpft sind (US 26; vgl RIS‑Justiz RS0112225 [T1, T3], RS0088096 [T12, T14]). Eine tatbestandliche Handlungseinheit stellt eine (einzige) Tat im materiellen Sinn dar (vgl RIS‑Justiz RS0127374).

[5] Indem die Rüge zu Schuldspruch I/a einen (gemeint:) Rechtsfehler mangels Feststellungen zum Überlassen von 2.000 Gramm Kokain an einen unbekannten Lieferanten geltend macht, bekämpft sie der Sache nach die Subsumtion der zu Schuldspruch I dargestellten Tat nach § 28a Abs 4 Z 3 SMG.

[6] Überlassen ist die Übertragung des Gewahrsams an dem Suchtgift von einer Person auf eine andere (RIS‑Justiz RS0088390, RS0088335), sei es durch einen rein faktischen (zB Übergabe) oder rechtlichen (zB Verkauf) Vorgang (Hinterhofer/Tomasits in Hinterhofer, SMG² § 27 Rz 55). Hat der Übernehmer von Anfang an (Mit-)Gewahrsam am Suchtgift, kann ihm kein Gewahrsam übertragen werden (RIS‑Justiz RS0115882, RS0088330, RS0088010; Hinterhofer/Tomasits in Hinterhofer, SMG² § 27 Rz 56; Schwaighofer in WK² SMG § 27 Rz 41; Matzka/Zeder/Rüdisser, SMG³ § 27 Rz 18).

[7] Der Begriff Gewahrsam ist in gleicher Weise auszulegen wie jener bei Vermögensdelikten (vgl RIS‑Justiz RS0122857), sodass er bei bloß „gelockertem Gewahrsam“ auch erfüllt ist (vgl dazu im Detail RIS‑Justiz RS0093841 [T2, T6], RS0093788 [T2], RS0099100 [T5, T6]).

[8] Demzufolge behält der Lieferant den Gewahrsam am Suchtgift, wenn er es zur Überprüfung der Qualität in seiner Anwesenheit einem anderen übergibt (vgl zur Rückgabe nach Verpackung des Suchtgifts RIS‑Justiz RS0115882 [T7]; vgl auch RIS‑Justiz RS0093841 [T7] und 12 Os 47/24i zur bloßen Lockerung des Gewahrsams an der zum „unmittelbaren Gebrauch in Gegenwart des Eigentümers“ überlassenen Sache). Dass im Zuge der Anbahnung eines Suchtgiftgeschäfts der potentielle Käufer im Einverständnis mit dem Lieferanten einen Kokainstein zum Zwecke der Qualitätsprüfung teilweise zerbröselt und in eine Tupperware gibt (vgl US 17 f), beendet den Gewahrsam des Lieferanten am Suchtgift daher (noch) nicht. Verlässt der Lieferant aber den Übergabeort mit der Vereinbarung, es nur über Verlangen des Übernehmers „ohne zeitliche Beschränkung“ (vgl US 17 f) zurücknehmen zu können, verliert er den Gewahrsam am Suchtgift, sodass dessen Rückgabe an ihn in rechtlicher Hinsicht als Überlassen zu beurteilen ist (vgl 15 Os 126/14i).

[9] Davon ausgehend zeigt die Rüge zutreffend das Fehlen von Feststellungen zum Nichtvorliegen von (Mit-)Gewahrsam des (hier) unbekannten Lieferanten am Suchtgift im Zeitpunkt dessen Rückgabe an ihn auf, weil den Entscheidungsgründen lediglich zu entnehmen ist, dass der Angeklagte bei jeweils einem Treffen mit dem Lieferanten im Juli und September 2022 die Qualität (jeweils) eines von mehreren Kokainsteinen einverständlich auf die im Urteil beschriebene Art und Weise überprüfte, aber jedes Mal sämtliche Kokainsteine wegen minderer Qualität zurückgab (US 17 f). Wann die Ausfolgung an den Lieferanten erfolgte und ob die Überprüfungen in An- oder Abwesenheit des Lieferanten stattfanden, ergibt sich aus den Entscheidungsgründen nicht (vgl US 30 f, wonach das Erstgericht die Verantwortung des Angeklagten, er habe die Überprüfungen im Beisein des Lieferanten durchgeführt, als Schutzbehauptung verwarf; vgl demgegenüber US 33, wo eine tatsächliche Sachherrschaft über die nicht überprüften Kokainsteine verneint wird, sowie US 17 ff und US 28, wonach der Angeklagte bei jeweils einem Treffen im Juli und September 2022 Suchtgift zurückgab). Den Entscheidungsgründen mangelt es daher an der für die rechtliche Beurteilung der Gewahrsamsverhältnisse notwendigen Sachverhaltsgrundlage (vgl RIS‑Justiz RS0133376).

[10] Dieser Rechtsfehler mangels Feststellungen erfordert hinsichtlich des Angeklagten S* zu Schuldspruch I – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – die Aufhebung der Subsumtion nach § 28a Abs 4 Z 3 SMG, demzufolge des den Angeklagten S* betreffenden Strafausspruchs (einschließlich der Vorhaftanrechnung) und des nach § 494a Abs 1 Z 4 StPO gefassten Beschlusses bei der nichtöffentlichen Beratung (§ 285e StPO). Ein Eingehen auf das weitere Beschwerdevorbringen erübrigt sich daher.

[11] Die Aufhebung des Schuldspruchs II des Angeklagten S* erfolgte in Wahrnehmung der dem Obersten Gerichtshof durch § 289 StPO eingeräumten Befugnis. Denn nach dem Urteilssachverhalt handelt es sich bei der zu Schuldspruch II tatverfangenen Menge Kokain um den verbliebenen Teil des zu Schuldspruch I überlassenen Suchtgifts (US 21 bis 24), sodass die Kassation des Schuldspruchs II zur umfassenden Beurteilung des Vorliegens stillschweigender Subsidiarität des Verbrechens der Vorbereitung von Suchtgifthandel nach § 28 Abs 1 und Abs 2 SMG notwendig war (vgl zum Verhältnis von § 28 Abs 1 [und 2] SMG zu § 28a Abs 1 fünfter Fall [Abs 2 Z 3] SMG RIS‑Justiz RS0113820 [T7]). Im zweiten Rechtsgang wird zu beachten sein, dass ein Schuldspruch (bloß) wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall SMG nicht den gesamten Unrechtsgehalt des Erwerbs und Besitzes einer das 15‑Fache der Grenzmenge übersteigenden Menge Kokains mit Inverkehrsetzungsvorsatz (§ 28 Abs 1 und Abs 2 SMG) erschöpft. Insoweit scheidet stillschweigende Subsidiarität des (qualifizierten) Vorbereitungsdelikts aus (zum Ganzen 13 Os 12/20v). Gleiches gilt für den Fall, dass das im Oktober 2022 mit Inverkehrsetzungsvorsatz erworbene und (in der Folge) besessene Kokain, auf dessen (die Grenzmenge um das 15‑Fache übersteigenden) Restmenge sich der Schuldspruch II bezog (US 21 bis 24), nicht (zumindest teilweise) Tatobjekt eines (allenfalls in Form einer tatbestandlichen Handlungseinheit) begangenen Verbrechens des Suchgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall und (hier) Abs 4 Z 3 SMG war.

[12] Mit seiner Berufung und (implizierten) Beschwerde war der Angeklagte S* ebenso auf diese Entscheidung zu verweisen wie die Staatsanwaltschaft mit ihrer allein den Angeklagten S* betreffenden Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe.

[13] Die Entscheidung über die Berufung des Angeklagten P* kommt dem Oberlandesgericht zu (§ 285i zweiter Satz StPO).

[14] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte