OGH 1Ob39/24b

OGH1Ob39/24b27.5.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S*, vertreten durch Aziz Breitenecker Kolbitsch, Rechtsanwältinnen in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 95.000 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 20. Dezember 2023, GZ 14 R 110/23h‑45, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 23. Mai 2023, GZ 68 Cg 29/22t‑33, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0010OB00039.24B.0527.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Amtshaftung inkl. StEG

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Die damals 16‑jährige Klägerin wurde am 27. 2. 2020 in ihrer Wohnung Opfer eines Mordversuchs durch ihren ehemaligen Freund (in der Folge: Täter). Dieser versetzte ihr rund 50 Messerstiche sowie massive Schläge vor allem ins Gesicht, wodurch die Klägerin schwerst verletzt wurde. Der Täter wurde noch am selben Tag festgenommen und in der Folge wegen des Verbrechens des versuchten Mordes nach §§ 15, 75 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt, in ein forensisch‑therapeutisches Zentrum eingewiesen und schuldig erkannt, der Klägerin 166.500 EUR Schadenersatz zu zahlen.

[2] Zur Vorgeschichte der Tat steht folgender Sachverhalt fest:

[3] Die Klägerin und der Täter hatten zunächst rund ein Jahr eine Beziehung, die von der Eifersucht, dem Kontrollwahn, den Drohungen und der körperlicher Gewalt des Täters der Klägerin gegenüber geprägt war. So schlug er ihr mit der Faust ins Gesicht oder in den Bauch und drohte ihr damit, ihr oder ihrer Familie etwas anzutun. Die Klägerin vertraute sich weder ihrer Mutter an, noch zeigte sie den Täter bei der Polizei an. Im August 2019 beendete sie die Beziehung und brach für mehrere Monate den Kontakt zum Täter ab. Im September 2019 übersiedelte sie mit ihrer Familie in eine neue Wohnung.

[4] Am 16. 11. 2019 nahm der Täter wieder Kontakt zur Klägerin auf und entschuldigte sich für sein Verhalten, woraufhin sie sich dazu überreden ließ, sich wieder mit ihm zu treffen; ihrer Familie erzählte sie nichts davon. Es folgten einige persönliche Treffen zwischen der Klägerin und dem Täter an öffentlichen Orten. Schon Anfang Jänner 2020 begann der Täter erneut, über WhatsApp Drohungen gegenüber der Klägerin auszusprechen, wie beispielsweise „messer rein messer raus blut rot s* [= Klägerin] tod))“,„oder willst du abgestochen werden“, „kann sein dass ich dich beim umarmen vlt absteche mit absicht“, „ich schwöre dir ich wird dich morgen vergewaltigen“, „Messer verdienst du“, „egal du wirst heute eh zahlen für deine taten“.

[5] Anfang Februar 2020 brachte er sie einmal in ihre neue Wohnung nach Hause. Am 12. 2. 2020 kam es zu einem neuerlichen gewaltsamen Übergriff durch den Täter: Über sein Drängen traf sich die Klägerin an diesem Tag nach der Schule mit ihm im Park bei einer U-Bahn-Station. Gegen 19:00 Uhr entstand ein Streit zwischen ihnen, im Zuge dessen der Täter die Klägerin an den Haaren zog, sie nach unten drückte und ihr mit dem Fuß ins Gesicht trat, sodass sie kurz das Bewusstsein verlor und eine deutlich sichtbare Schwellung und Rötung im Bereich des rechten Auges erlitt. Danach entschuldigte er sich und bestand darauf, sie nach Hause zu begleiten, wobei er auf sie einredete, dass sie eine Erklärung für ihre Verletzungen erfinden und nicht die Polizei verständigen solle. Sie fuhren daraufhin gemeinsam mit dem Bus fast bis zum Wohnhaus der Klägerin, das sich in Sichtweite zur Busstation befindet. Erst dort entfernte sich der Täter, und die Klägerin begab sich allein in ihre Wohnung, wo sie ihrer Mutter von dem Vorfall und der Wiederaufnahme ihrer Beziehung zum Täter erzählte. Die Mutter verständigte die Polizei.

[6] Um etwa 20:30 Uhr trafen zwei Polizeibeamte an der Adresse der Klägerin ein und führten zunächst getrennte Gespräche mit der Klägerin und ihrer Mutter. Die Klägerin schilderte den Polizeibeamten, was geschehen war, und gab ihnen die Daten des Täters bekannt. Sie gab an, dass er sie bereits davor während ihrer rund einjährigen Beziehung immer wieder, und zwar mindestens zehnmal, geschlagen und getreten und ihr dadurch Beulen sowie blaue Flecken im Gesicht und an den Armen und Beinen zugefügt habe; auch die Mutter bestätigte gegenüber den Polizeibeamten die blauen Flecken. Die Klägerin gab an, dass der Täter ihr in der Vergangenheit ständig gedroht habe, etwa damit, ihr das Kiefer zu brechen. Ob sie auch die aktuellen Todesdrohungen erwähnte, steht nicht fest. Sie teilte den Polizeibeamten mit, dass der Täter noch nie in ihrer neuen Wohnung gewesen sei, sie aber nach dem aktuellen Vorfall bis zur Busstation vor ihrem Wohnhaus begleitet habe. Sie versicherte im Zuge ihrer Befragung, dass sie sich künftig nicht mehr mit dem Täter treffen würde. Es steht nicht fest, dass die Polizeibeamten gezielt nachfragten, ob der Täter ihre genaue neue Adresse kenne.

[7] Die Polizeibeamten fragten weder nach Beweismitteln für die behaupteten Drohungen noch danach, ob der Täter eine Waffe besitze. Die Klägerin hätte über Chatverläufe auf ihrem Handy verfügt, aus denen auch die aktuellen Drohungen des Täters ersichtlich gewesen wären. Sie wusste auch, dass er sich Ende 2019 ein Messer zugelegt hatte; von sich aus erwähnte sie dies jedoch nicht.

[8] Die Polizeibeamten nahmen eine Anzeige wegen fortgesetzter Gewaltausübung gemäß § 107b StGB sowie – bezüglich des aktuellen Vorfalls – wegen Körperverletzung gemäß § 83 StGB auf. Über die Möglichkeit eines Betretungs- und Annäherungsverbots oder einer einstweiligen Verfügung informierten sie die Klägerin und ihre Mutter nicht; ebenso wenig händigten sie ihnen Informationsmaterial zum Thema Opfer- und Gewaltschutz aus.

[9] Noch während des Einsatzes in der Wohnung der Klägerin wurde die Adresse des Täters ausgeforscht. In der Nacht von 12. auf den 13. 2. 2020 verfasste einer der Polizeibeamten einen Aktenvermerk über den Einsatz und setzte die Wiener Kinder- und Jugendhilfe per E-Mail davon in Kenntnis. Aus einer eingeholten Strafregisterauskunft ging hervor, dass der Täter zum Tatzeitpunkt gerichtlich unbescholten war.

[10] Am 21. 2. 2020 wurde der Akt an die – aufgrund des Tatorts – zuständige Polizeiinspektion weitergeleitet. Diese übermittelte dem Täter eine vom 21. 2. 2020 datierte, an ihn persönlich adressierte Ladung zur Beschuldigtenvernehmung für den 5. 3. 2020 wegen des Verdachts der Körperverletzung und der fortgesetzten Gewaltausübung; auch die Klägerin und ihre Mutter erhielten jeweils vom 21. 2. 2020 datierte Ladungen für ihre Zeugenvernehmung am 5. 3. 2020.

[11] Als Reaktion auf die Anzeige und den Kontaktabbruch der Klägerin fasste der Täter am 27. 2. 2020 den Entschluss, sie zu töten.

[12] Das Erstgericht ging weiters davon aus, es könne nicht festgestellt werden, dass der Täter die Tat am 27. 2. 2020 nicht begangen hätte, wenn die Polizeibeamten wegen des Vorfalls vom 12. 2. 2020 ein Betretungs- und Annäherungsverbot über ihn verhängt, umgehend Kontakt mit ihm und seinen Eltern aufgenommen oder die Ladung zur Beschuldigtenvernehmung an seine Eltern zugestellt hätten.

[13] Die Dienstanweisung der Landespolizeidirektion Wien vom 25. 2. 2015, AZ P4/436620/1/2014, mit dem Betreff „§ 38a SPG; Betretungsverbote bei Gewalt in der Privatsphäre“ (GiP) richtet sich an alle (Polizei-)Bediensteten, die Aufgaben in diesem Zusammenhang wahrzunehmen haben, und lautet auszugsweise wie folgt:

VII. 1. Beschleunigte Bearbeitung von GiP-Fällen

 

Fälle von Gewalt in der Privatsphäre (Körperverletzungen, gefährliche Drohungen oder Straftaten nach dem 10. Abschnitt des StGB) sind vorrangig zu bearbeiten. Höchste Priorität hat dabei der Schutz der Opfer.

 

In Fällen, in denen eine Ausführung von Straftaten (insbesondere nach Drohungen) gegen das Opfer zu befürchten ist, oder die Anlasstat schwerwiegend ist, hat unverzüglich eine Kontaktaufnahme mit dem JStA [Journalstaatsanwalt] zur Prüfung der Anordnung der Festnahme zu erfolgen, sofern der Beschuldigte sich auf freiem Fuß befindet.

 

Wird in solchen Fällen vom JStA keine Festnahme angeordnet, ist der Akt umgehend schriftlich mit Anlassbericht im Wege des ERV der Staatsanwaltschaft zu übermitteln, wobei – nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalls – eine Übermittlung als Abschlussbericht anzustreben ist. Wurde ein Anlassbericht übermittelt, hat die Finalisierung des Akts (Abschlussbericht) vorrangig zu erfolgen. […]

 

VIII. Verständigungspflichten

 

Der Ersteinschreiter hat über eine Maßnahme gemäß § 38a zu verständigen: [...]

 

2. die Interventionsstelle

 

3. den zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger (sofern Kinder oder Jugendliche betroffen sind).

[14] Die Klägerin begehrt von der Beklagten (zur ungeteilten Hand mit dem Täter) aus dem Titel der Amtshaftung Schadenersatz von insgesamt 95.000 EUR (85.000 EUR Schmerzengeld, 10.000 EUR Verunstaltungsentschädigung) sowie die Feststellung der Haftung für künftige Schäden aus der Tat.

[15] Die Polizeibeamten hätten es schuldhaft unterlassen, bereits aufgrund der Tat vom 12. 2. 2020 unverzüglich die folgenden Maßnahmen zu ergreifen, zu denen sie verpflichtet gewesen wären:

- Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots für bzw an die (Wohnung der) Klägerin gegenüber dem Täter (§ 38a SPG);

- Information der Klägerin über die Möglichkeit einer einstweiligen Verfügung nach §§ 382b und 382c EO und über geeignete Opferschutzeinrichtungen (§ 38a Abs 4 SPG);

- Erstattung einer „Mitteilung bei Verdacht der Kindeswohlgefährdung“ an den örtlich zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger (§ 37 B-KJHG);

- Kontaktaufnahme mit der StA, um ihr die Anordnung der Festnahme des Täters zu ermöglichen (§ 100 Abs 2 Z 2 StPO iVm der Dienstanweisung), zumal akute Tatbegehungs- bzw Tatausführungsgefahr bestanden habe;

- falls keine Festnahme angeordnet worden wäre: Anlassbericht an die StA (§ 100 Abs 2 Z 2 StPO iVm der Dienstanweisung);

- Aufklärung der Klägerin über ihre wesentlichen Opferrechte (§§ 6670 StPO);

- förmliche Zeugenvernehmung der Klägerin und ihrer Mutter (§§ 99 Abs 1, 151 Z 2, 153 ff StPO);

- Kontaktaufnahme mit dem Täter und seinen Eltern;

- Beschuldigtenvernehmung des Täters (§§ 99 Abs 1, 15 Z 2, 164 StPO).

[16] Die Polizeibeamten hätten es weiters schuldhaft unterlassen, die mit 21. 2. 2020 datierte Ladung des Täters zur Beschuldigtenvernehmung an seine gesetzlichen Vertreter zuzustellen (§ 38 Abs 2 JGG).

[17] Bei pflichtgemäßem Verhalten der Polizeibeamten wäre der Mordversuch an der Klägerin unterblieben. Die Klägerin sei durch die schuldhaften Unterlassungen der Polizeibeamten in ihren durch Art 2 und Art 8 EMRK geschützten Rechten verletzt worden.

[18] DieBeklagte bestritt und wandte insbesondere ein, die von der Klägerin vorgebrachten Unterlassungen seien für die Tat vom 27. 2. 2020 nicht kausal gewesen. Die Tat hätte nur dadurch verhindert werden können, dass wegen der Tat vom 12. 2. 2020 die Untersuchungshaft über den Täter verhängt worden wäre; die Voraussetzungen dafür seien aber nicht vorgelegen. Die Polizeibeamten hätten rechtmäßig, jedenfalls aber vertretbar gehandelt.

[19] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

[20] Ausgehend von den Feststellungen wäre der versuchte Mord an der Klägerin nur dadurch „mit Sicherheit“ zu verhindern gewesen, wenn sich der Täter zum Tatzeitpunkt in Untersuchungshaft befunden hätte. Andernfalls hätte er dennoch die faktische Möglichkeit gehabt, die Tat zu begehen. Die Voraussetzungen für die Verhängung der Untersuchungshaft seien vor der Tat nicht vorgelegen. Die von der Klägerin geltend gemachten Unterlassungen seien daher nicht kausal für ihren Schaden gewesen. Damit erübrige sich die Prüfung, ob das Verhalten der Polizeibeamten rechtswidrig und schuldhaft gewesen sei.

[21] Das Berufungsgerichtbestätigte diese Entscheidung und ließ die ordentliche Revision zu.

[22] Die Klägerin treffe die Beweislast dafür, dass die Tat vom 27. 2. 2020 – und damit der geltend gemachte Schaden – unterblieben wäre, wären die Polizeibeamten wie von ihr gefordert tätig geworden. Auf die Beweiserleichterung des Anscheinsbeweises könne sie sich nicht berufen, weil es an der typischen formelhaften Verknüpfung zwischen den vorgebrachten Unterlassungen und der Tat fehle. Der Kausalablauf sei vielmehr durch den individuellen Willensentschluss des Täters bestimmt worden. Dagegen komme die Beweiserleichterung des auf überwiegende Wahrscheinlichkeit herabgesetzten Beweismaßes für die Kausalität zur Anwendung.

[23] Zum Teil sei der Klägerin der Beweis des Kausalzusammenhangs zwischen den behaupteten Unterlassungen der Polizeibeamten und der Tat nicht gelungen. Dies gelte für die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots (§ 38a SPG), die Kontaktaufnahme mit dem Täter und seinen Eltern und die Zustellung der mit 21. 2. 2020 datierten Ladung des Täters zur Beschuldigtenvernehmung an seine gesetzlichen Vertreter (§ 38 Abs 2 JGG).

[24] Zur Kausalität der weiteren von der Klägerin vorgebrachten Unterlassungen habe das Erstgericht zwar keine Feststellungen getroffen. Dies sei aber in rechtlicher Hinsicht irrelevant. Die Polizeibeamten hätten weder § 38a Abs 4 SPG noch § 37 B-KJHG übertreten: Die Informationspflichten nach § 38a Abs 4 SPG setzten die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots nach Abs 1 leg cit voraus. Ein solches sei im Fall der Klägerin aber nicht angeordnet worden. Die Berufung auf § 37 B‑KJHG gehe von vornherein ins Leere, weil die Ziele und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe ausschließlich den (hier nicht zur Debatte stehenden) Bereich der Pflege und Erziehung von Kindern und Jugendlichen durch die Eltern oder die sonst mit der Pflege und Erziehung betrauten Personen beträfen. Im Übrigen hätten die Polizeibeamten die Kinder- und Jugendhilfe vom Einsatz am 12. 2. 2020 ohnehin verständigt.

[25] In Ansehung der übrigen Unterlassungsvorwürfe fehle es am Rechtswidrigkeitszusammenhang:

[26] Die Berichtspflichten nach § 100 StPO gehörten zur Einleitung und Durchführung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens und dienten ausschließlich der Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs. Der Schutz allfälliger künftiger Opfer allfälliger künftiger Straftaten des Beschuldigten sei nicht einmal mitbezweckt. Dies gelte auch für die Dienstanweisung, die die Berichtspflichten konkretisiere.

[27] Auch Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen gehörten zur Durchführung eines Strafverfahrens in Bezug auf eine dem Beschuldigten konkret vorgeworfene Tat. Ihr Zweck bestehe ebenfalls in der Verwirklichung des materiellen Strafrechts im Einzelfall mit der richtigen Bewertung von Tat und Täter zum Zweck der gerechten Bestimmung einer Sanktion oder einer anderen gesetzlich vorgesehenen Konsequenz. Sie dienten nicht dazu, künftige Straftaten des Beschuldigten zu verhindern und potenzielle (weitere) Opfer zu schützen.

[28] Die Aufklärung des Opfers über seine wesentlichen Rechte (§§ 6670 StPO) habe ausschließlich den Zweck, dem Opfer die effektive Durchsetzung seiner Rechte im anhängigen Ermittlungsverfahren zu ermöglichen. Es gebe keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Aufklärungspflicht gegenüber dem Opfer auch die Verhütung künftiger Straftaten des Beschuldigten mitbezwecke.

[29] Die ordentliche Revision sei zulässig, weil – soweit ersichtlich – keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu § 38a Abs 4 SPG und zu § 37 B-KJHG sowie zum Schutzzweck der hier relevanten Bestimmungen der StPO (Berichtspflicht nach § 100 StPO; Informationspflicht nach § 70 StPO; Unterbleiben bzw verzögerte Vornahme von nach Ansicht der Klägerin zweckmäßigen Ermittlungsmaßnahmen)vorliege.

Rechtliche Beurteilung

[30] Die gegen diese Entscheidung von der Klägerin erhobene – von der Beklagten beantwortete – Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grundzulässig. Sie ist im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

I. Vorbemerkung:

[31] Die Klägerin wendet sich in ihrem Rechtsmittel einerseits gegen das Ergebnis der von den Vorinstanzen angestellten Kausalitätsprüfung, und zwar rügt sie das angelegte Beweismaß. Andererseits bekämpft sie die Annahme, ihr Schaden sei nicht vom Schutzzweck insbesondere der § 70 StPO iVm §§ 66 ff StPO und § 100 StPO erfasst. Dabei erklärt sie, aus der EMRK (Art 2 und 8 EMRK) keinen subjektiven direkt im Amtshaftungsverfahren durchsetzbaren Anspruch abzuleiten, fordert aber eine verfassungs- und EU-rechtskonforme Auslegung der auf die Verhinderung von Gewalt in der Privatsphäre gerichteten Bestimmungen bei Beurteilung des Rechtswidrigkeitszusammenhangs und des Kausalitätsnachweises. Inhaltlich kommt sie auf den Vorwurf nicht mehr zurück, die Organe der Beklagten hätten keine Mitteilung an den KJHT nach § 37 B‑KJHG erstattet. Dass keine förmliche Zeugenvernehmung der Klägerin und ihrer Mutter sowie keine Beschuldigtenvernehmung des Täters durchgeführt, kein Kontakt mit dem Täter bzw dessen Eltern aufgenommen und letzteren auch die Ladung zur Beschuldigtenvernehmung nicht zugestellt wurde, wird in der Revision zumindest nicht mehr als eigenständige Pflichtverletzung geltend gemacht.

[32] Im Folgenden wird die Rechtsprechung zum Erfordernis des Rechtswidrigkeitszusammenhangs und der Kausalität im Amtshaftungsrecht dargestellt (Punkt II.). Daraufhin werden die Bestimmungen analysiert, deren Verletzung die Klägerin den Organen der Beklagten (in dritter Instanz noch) anlastet (Punkt III.), bevor die für den konkreten Fall daraus zu ziehenden Konsequenzen erörtert werden (Punkt IV.).

II.   Zur Rechtsprechung zum Rechtswidrigkeitszusammenhang und zur Kausalität im Amtshaftungsrecht:

[33] 1. Ein rechtswidriges und schuldhaftes Organhandeln in Vollziehung der Gesetze, das den Rechtsträger gemäß § 1 AHG zum Schadenersatz verpflichtet, kann auch in einer Unterlassung liegen, wenn eine Pflicht des Organs zum Tätigwerden bestand und pflichtgemäßes Handeln den Schadenseintritt verhindert hätte (RS0081378).

[34] 1.1. Auch bei Geltendmachung von Amtshaftungsansprüchen haftet der Rechtsträger für rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten seiner Organe nur dann, wenn die übertretene Verhaltensnorm nach ihrem Schutzzweck gerade auch den eingetretenen Schaden verhindern sollte (RS0031143). Für die Annahme des erforderlichen Rechtswidrigkeitszusammenhangs genügt angesichts der in der Regel primär öffentliche Interessen wahrenden öffentlich‑rechtlichen Vorschriften zwar, dass die Verhinderung eines Schadens beim Dritten bloß mitbezweckt ist, die Norm muss aber die Verhinderung eines Schadens wie des später eingetretenen intendiert haben (RS0031143 [T5]). Es wird für solche Schäden gehaftet, die sich als Verwirklichung derjenigen Gefahr darstellen, derentwegen der Gesetzgeber ein bestimmtes Verhalten gefordert oder untersagt hat (RS0031143 [T14]).

[35] 1.2. Im Rahmen der Amtshaftung wird die Frage, ob eine Norm (auch) den Schutz des Geschädigten (mit-)bezweckt, im Allgemeinen dann bejaht, wenn bereits eine rechtliche Sonderverbindung zwischen dem Rechtsträger und dem Betroffenen bestand (RS0049993). Das Bestehen eines subjektiven öffentlichen Rechts oder einer rechtlichen Sonderbeziehung ist aber nicht unbedingt Voraussetzung für die Bejahung des Rechtswidrigkeitszusammenhangs. Maßgebend ist vielmehr der im Einzelfall durch Auslegung zu ermittelnde Zweck der übertretenen Norm, der sich aus historischer oder objektiv‑teleologischer Interpretation ergeben kann (1 Ob 199/22d mwN).

[36] Werden etwa Pflichten der Vollziehung zur Verhinderung von Schäden durch (konkret bezeichnete) gefährliche Sachen oder Menschen angeordnet, so ist anzunehmen, dass diese Pflichten jene Personen schützen sollen, die mit den jeweiligen Gefahrenquellen in Berührung kommen. Dieser Grundsatz betrifft so verschiedene Konstellationen wie die das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) treffenden Aufsichts-, Überwachungs- und Informationspflichten nach dem Medizinproduktegesetz (1 Ob 39/23a), die Überprüfung des Einhaltens von Auflagen nach Betriebsanlagenrecht (1 Ob 16/92), die Überprüfung von Kraftfahrzeugen nach § 57a KFG (RS0022886) oder die Unterbringung einer Person wegen Fremdgefährlichkeit (1 Ob 247/98z). Entscheidend ist in diesen Fällen, dass kein anderer Normzweck erkennbar ist als gerade der Schutz jener Personen oder Sachen, die mit den jeweiligen Gefahrenquellen in Berührung kommen; dass also gerade kein darüber hinausgehender, tatsächlich eine unbestimmte Zahl von Personen erfassender Gesetzeszweck vorliegt (1 Ob 199/22d). 

[37] 1.3. Nach der Rechtsprechung des Senats dienen nicht alle Bestimmungen der StPO bei der gebotenen teleologischen Betrachtungsweise auch dem Schutz des durch eine Straftat Geschädigten (RS0050078). Vielmehr liegt der primäre Zweck der Vorschriften über das Strafverfahren nach der Rechtsprechung des Fachsenats in der Verwirklichung des materiellen Strafrechts im Einzelfall mit der richtigen Bewertung von Tat und Täter zum Zweck der gerechten Bestimmung einer Sanktion oder einer anderen gesetzlich vorgesehenen Konsequenz (1 Ob 91/22x mwN).

[38] Ob eine (konkrete) Bestimmung der StPO (auch) dem Schutz des durch eine Straftat Geschädigten dient, ist nach dem Zweck der Amtspflicht wertend zu beurteilen. Soweit er sich nur auf Interessen der Allgemeinheit erstreckt, können Einflüsse des Verfahrensausgangs auf individuelle Interessenslagen nur als – die Amtshaftung des belangten Rechtsträgers nicht begründende – Reflexwirkung pflichtgemäßen Verhaltens beurteilt werden. Auf eine Rechtspflicht gerade einem solchen Dritten gegenüber kann daraus noch nicht geschlossen werden (1 Ob 73/16s mwN). Jedenfalls die Bestimmungen über die Untersuchungshaft wegen Tatbegehungs- oder Wiederholungsgefahr dienen aber jedenfalls auch dem Schutz von (potentiellen) Opfern (1 Ob 7/89 = RS0027722; 1 Ob 193/23y mwN).

[39] 2. Im Amtshaftungsprozess muss der Geschädigte nicht bloß die Rechtsverletzung durch das Organ behaupten und beweisen, sondern auch, dass ihm der geltend gemachte Schaden ohne diese Rechtsverletzung nicht erwachsen wäre (RS0022469). Den Geschädigten trifft daher auch im Amtshaftungsverfahren grundsätzlich die Beweislast für den Kausalzusammenhang zwischen dem haftungsbegründenden Ereignis und dem eingetretenen Schaden (RS0022469 [T2]).

[40] 2.1. Eine Unterlassung ist dann für den Schadenserfolg kausal, wenn die Vornahme einer bestimmten aktiven Handlung das Eintreten des Erfolgs verhindert hätte. Die Kausalität fehlt, wenn derselbe Nachteil auch bei pflichtgemäßem Tun entstanden wäre (RS0022913). Die Beweislast, dass der Schaden bei pflichtgemäßem Verhalten nicht eingetreten wäre, trifft den Geschädigten (RS0022700; RS0022900 [T5, T11]). Lediglich die Anforderungen an den Beweis des bloß hypothetischen Kausalverlaufs sind geringer als die Anforderungen an den Nachweis der Verursachung bei einer Schadenszufügung durch positives Tun. Für die Kausalität einer Unterlassung gilt das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (RS0022900). Dieses Kriterium liegt unter dem Regelbeweismaß der ZPO, wonach für eine Feststellung eine „hohe“ Wahrscheinlichkeit erforderlich ist (RS0110701). Verschiedentlich hat der Oberste Gerichtshofs im Zusammenhang mit sogenannten Anlegerschäden ausgesprochen, dass der Anleger den Schaden also nur „plausibel“ zu machen hat (RS0110701 [T11]; 7 Ob 221/13w mwN). Dem kann der Gegner den Beweis der höheren Wahrscheinlichkeit eines anderen Verlaufs entgegenhalten (RS0022900 [T42]).

[41] 2.2. Bei typischen Geschehensabläufen bietet der Anscheinsbeweis eine Beweiserleichterung, und zwar insbesondere auch im Hinblick auf die Kausalität (RS0040266). Der Anscheinsbeweis wird in Fällen als sachgerecht empfunden, in denen konkrete Beweise vom Beweispflichtigen billigerweise nicht erwartet werden können. Vorausgesetzt ist, dass ein Geschehensablauf vorliegt, der nach der Lebenserfahrung für einen bestimmten Kausalzusammenhang typisch ist und deshalb auf die Kausalität der zu beweisenden Tatsache hinweist (RS0040287).

[42] Da der Anscheinsbeweis nichts an der Beweislastverteilung ändert, braucht der Schädiger zur Widerlegung nicht den Beweis des Gegenteils, sondern nur den Gegenbeweis zu führen. Dieser ist erbracht, wenn der typische Geschehensablauf im konkreten Fall nicht zwingend ist und die ernsthafte Möglichkeit eines anderen, atypischen Geschehensablaufs besteht (RS0040196).

[43] Der Anscheinsbeweis ist grundsätzlich dort ausgeschlossen, wo der Kausalablauf durch den individuellen, freien Willensentschluss eines Menschen bestimmt werden kann (RS0040288). Insoweit fehlt es zB an einer typischen Verknüpfung zwischen mangelhaften Prospektangaben und dem Anlageentschluss eines Anlegers (vgl etwa 6 Ob 2100/96h).

[44] 2.3. Bei Verletzung eines Schutzgesetzes ist nach ständiger Rechtsprechung kein strenger Beweis des Kausalzusammenhangs erforderlich, spricht doch in diesen Fällen der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der von der Norm zu verhindernde Schaden durch das verbotene Verhalten verursacht wurde. Es obliegt dann dem Beklagten, die Kausalität der Pflichtwidrigkeit – durch Außerkraftsetzung des ihn belastenden Anscheinsbeweises – ernstlich zweifelhaft zu machen (RS0022474 [T5]; RS0027640; RS0027517).

[45] Schutzgesetze würden nach Koziol, (Haftpflichtrecht I4 D/7 Rz 28 [Stand 1. 4. 2020, rdb.at]) ein abstrakt gefährliches Verhalten eben regelmäßig deshalb verbieten, weil es geeignet sei, derartige Schäden herbeizuführen.

[46] Welser (Schutzgesetzverletzung, Verschulden, Beweislast, ZVR 1976, 7) führt aus, dass die Existenz eines Schutzgesetzes und seine Übertretung eine natürliche Gefahrengeneigtheit der Handlung „indizieren“ würden. Es bestehe der Verdacht, dass das verbotene Verhalten in bestimmten Richtungen gefährlich sei, weil es sonst vom Gesetzgeber kaum typisiert und verboten worden wäre.

[47] F. Bydlinski (Zur Haftung der Dienstleistungsberufe in Österreich und nach dem EG‑Richtlinienvorschlag, JBl 1992, 351) meint, dass in Zubilligung des Anscheinsbeweises bei einer Schutzgesetzverletzung ein betonter Rückgriff auf jene Erfahrungssätze liege, die bereits, gleichsam autoritativ, der gesetzlichen Verbotsvorschrift zugrundegelegt wurden.

[48] Nach Baumgärtel (Beweislastpraxis im Privatrecht Rz 249 [1996] mwN zur dt Rsp) seien „Unfallverhütungs- und Schutzvorschriften“ „Ausdruck einer Erfahrung über die Gefährlichkeit bestimmter Handlungsweisen und den Nutzen vorgeschriebener Sicherheitsmaßnahmen zur Abwehr dieser Gefahren“, sodass die Typizität des Geschehensablaufs für das Eingreifen des Anscheinsbeweises in diesen Fällen nicht [gemeint wohl: zusätzlich oder darüber hinaus] vorausgesetzt werde.

[49] In diesem Sinn bejahte die Entscheidung 7 Ob 215/68, dass die rechtswidrige Entfernung von Bäumen, die den Schutz gegen Lawinen bilden sollten, prima facie die Gefahr eines Lawinenabgangs erhöht habe. Man könne nicht davon ausgehen, dass eine gesetzliche oder behördliche Regelung zur Vermeidung von Schäden überflüssig sei.

III. Zu den gesetzlichen Grundlagen für die den Organen der Beklagten angelasteten Versäumnisse:

1. § 38a SPG („Betretungs- und Annäherungsverbot zum Schutz vor Gewalt“)

[50] 1.1. Nach § 38a Abs 1 SPG sind die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes ermächtigt, einem Menschen, von dem aufgrund bestimmter Tatsachen, insbesondere wegen eines vorangegangenen gefährlichen Angriffs, anzunehmen ist, dass er einen gefährlichen Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit begehen werde (Gefährder), das Betreten einer Wohnung, in der ein Gefährdeter wohnt, samt einem Bereich im Umkreis von hundert Metern zu untersagen (Betretungsverbot). Mit dem Betretungsverbot verbunden ist das Verbot der Annäherung an den Gefährdeten im Umkreis von hundert Metern (Annäherungsverbot).

[51] Nach § 38a Abs 4 SPG sind die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes verpflichtet, den Gefährdeten über die Möglichkeit einer einstweiligen Verfügung nach §§ 382b und 382c EO und geeignete Opferschutzeinrichtungen (§ 25 Abs 3 SPG) zu informieren. Darüber hinaus sind sie nach dieser Bestimmung verpflichtet,

1. sofern der Gefährdete minderjährig ist und es im Einzelfall erforderlich erscheint, jene Menschen, in deren Obhut er sich regelmäßig befindet, sowie

2. sofern ein Minderjähriger in der vom Betretungsverbot erfassten Wohnung wohnt, unverzüglich den örtlich zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger

über die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots zu informieren.

[52] Nach § 38a Abs 10 SPG endet ein Betretungs- und Annäherungsverbot zwei Wochen nach seiner Anordnung oder, wenn die Sicherheitsbehörde binnen dieser Frist vom ordentlichen Gericht über die Einbringung eines Antrags auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung nach §§ 382b und 382c EO informiert wird, mit dem Zeitpunkt der Zustellung der Entscheidung des ordentlichen Gerichts an den Antragsgegner, längstens jedoch vier Wochen nach seiner Anordnung.

[53] 1.2. § 38a SPG wurde mit dem Gewaltschutzgesetz BGBl 1996/759 eingeführt und inzwischen mehrfach mit dem Ziel novelliert, den Schutz gefährdeter Personen zu erweitern (vgl VfGHG 590–591/2023). Die Gesetzesmaterialien (RV 252 BlgNR 20. GP  11) führen unter anderem aus:

„Nach dem Sicherheitspolizeigesetz obliegt den Sicherheitsbehörden der vorbeugende Schutz von Rechtsgütern insbesondere dann, wenn nach den Umständen mit gefährlichen Angriffen gegen die körperliche Unversehrtheit von Menschen zu rechnen ist (§ 22 Abs 2 und 4 SPG). Dieser Aufgabenstellung wird von § 28 Abs 1 SPG zudem ausdrücklich Priorität gegenüber der Erfüllung anderer Aufgaben eingeräumt. Die Realisierung dieses Zieles stößt jedoch bei Gewaltakten, die sich in der Abgeschlossenheit der häuslichen Sphäre ereignen, auf Schwierigkeiten. [...] Dies kann jedoch nicht bedeuten, dass der Anspruch des einzelnen auf staatlichen Schutz vor Straftaten schlechterdings an der Wohnungstür endet, sondern nur, dass präventiv-polizeiliche Maßnahmen in diesem Bereich mit besonderem Bedacht zu setzen sind. Dennoch ist es den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes aufgegeben, deutlich zu machen, dass Angriffe auf die körperliche Integrität anderer vom Staat auch dann nicht hingenommen werden, wenn sie sich in der häuslichen Sphäre ereignen.“

 

[54] § 38a SPG dient somit dem vorbeugenden Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, wie er in § 22 Abs 2 und 4 SPG als Aufgabe der Sicherheitsbehörden konzipiert ist, bei Gewaltakten, die sich in der häuslichen Sphäre ereignen (vgl dazu VfGH G 590–591/2023, Rz 40 ff), kann jedoch auch außerhalb dieses Bereichs zur Anwendung gelangen (Alessandri, Häusliche Gewalt – Eingriffe der Sicherheitsbehörden in den Privatbereich, ÖJZ 2021/85).

[55] Bei der „Ermächtigung“ in § 38a SPG zur Verhängung eines Betretungs- und Annäherungsverbots handelt es sich nicht um die Einräumung eines freien Ermessensspielraums. Vielmehr muss von der Befugnis Gebrauch gemacht werden, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind (Kepplinger/Pühringer, SPG20 [2021] § 38a SPG Anm 4; VfGH G 590–591/2023, Rz 43).

[56] 1.3. Die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots nach § 38a Abs 1 SPG setzt die Annahme voraus, dass ein gefährlicher Angriff (§ 16 Abs 2 und Abs 3 SPG) gegen Leben, Gesundheit oder Freiheit, insbesondere in der Wohnung, in der eine gefährdete Person wohnt, bevorstehe. Von denOrganen des öffentlichen Sicherheitsdienstes ist vor Ort ad hoc eine Gefahrenprognose (Gefährdungsprognose) zu erstellen (Kepplinger/Pühringer, SPG20 § 38a SPG Anm 8; Alessandri, Häusliche Gewalt – Eingriffe der Sicherheitsbehörden in den Privatbereich, ÖJZ 2021/85). Dabei sind die einschreitenden Beamten zu einer eigenständigen, proaktiven und umfassenden Risikobewertung verpflichtet (VfGH G 590–591/2023, Rz 44; vgl auch EGMR 15. 6. 2021 [gK], Bsw 62903/15, Kurt gegen Österreich). Keine Voraussetzung für das Betretungs- und Annäherungsverbot ist, dass zwischen Gefährder und gefährdeter Person eine Beziehung ieS besteht oder dass der Gefährder selbst in der Wohnung wohnhaft ist.

[57] Nach Verhängung sind sowohl der Gefährder als auch die gefährdete Person über das Betretungs- und Annäherungsverbot aufzuklären und ist ihnen der Schutzbereich zu erläutern. Auch die rechtlichen Folgen der Missachtung (Verwaltungsübertretung gemäß § 84 Abs 1b Z 1 und Z 2 SPG; als ultima ratio auch verwaltungsstrafrechtliche Festnahme gemäß § 35 Z 3 VStG) sind für einen Rechtslaien verständlich darzulegen. Die gefährdete Person ist über die Interventionsstelle, das Frauenhaus und weitere Opferschutzeinrichtungen zu informieren. Dadurch soll das Opfer professionelle Unterstützung, insbesondere bei Erwirkung einer gerichtlichen Entscheidung, erhalten (Löff in Thanner/Vogl, SPG² [2013] § 38a SPG Anm 1). Die Einhaltung des Betretungsverbots ist binnen der ersten drei Tage seiner Geltung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zumindest einmal zu überprüfen. Bei erhöhter Gefährlichkeit oder mehrfacher Missachtung des § 38a SPG kann die zuständige Behörde auch Aufträge zur Hintanhaltung weiterer Gefährdungen erteilen, wie zB tägliche Kontrollen bis zum Ende des Betretungs- und Annäherungsverbots (zu all dem: Alessandri, Häusliche Gewalt- Eingriffe der Sicherheitsbehörden in den Privatbereich, ÖJZ 2021/85).

2. § 70 StPO („Recht auf Information“) iVm §§ 66 ff StPO

[58] 2.1. Nach § 70 StPO sind Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft zur aktiven Information des Opfers über den Stand der Ermittlungen und seine wesentlichen Rechte im Verfahren, nämlich primär nach §§ 66 und 67 StPO, verpflichtet. Das Opfer soll damit in die Lage versetzt werden, über seine Beteiligung am Verfahren eigenverantwortlich zu entscheiden (Korn/Zöchbauer in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 70 Rz 2 [Stand 30. 10. 2021, rdb.at]). Außerdem sind alle Opfer darüber zu informieren, dass sie berechtigt sind, auf Antrag unverzüglich vom Eintritt einer der Fälle des § 70 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO verständigt zu werden, etwa von der Freilassung des Beschuldigten (Z 1). Gemäß § 70 Abs 2 StPO sind besonders schutzbedürftige Opfer spätestens vor ihrer ersten Vernehmung über ihre Rechte nach § 66a StPO zu informieren.

[59] 2.2. § 66a Abs 1 Z 1 bis 3 StPO stellt klar, welche Opfer jedenfalls besonders schutzbedürftig sind. Das sind unter anderem Personen, zu deren Schutz ein Betretungs- und Annäherungsverbot zum Schutz vor Gewalt nach § 38a Abs 1 SPG erteilt werden könnte (Z 2) oder die – wie damals die Klägerin – minderjährig (§ 74 Abs 1 Z 3 StGB) sind (Z 3). Mit der besonderen Schutzbedürftigkeit des Opfers sind die in Abs 2 leg cit genannten erweiterten Rechte verbunden, zB das Recht, im Ermittlungsverfahren nach Möglichkeit von einer Person des gleichen Geschlechts vernommen zu werden (Z 1) oder zu verlangen, die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung auszuschließen (Z 4). Mit der Bestimmung des § 66a StPO sollte den Art 22 bis 24 RL Opferschutz entsprochen werden, deren zentrales Anliegen es ist, Opfern mit besonderen Schutzbedürfnissen während des Strafverfahrens auch einen speziellen Schutzanspruch zu gewährleisten (Kier in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 66a Rz 1 [Stand 1. 5. 2022, rdb.at]).

3. § 100 StPO („Berichte“):

[60] 3.1. § 100 Abs 2 StPO nennt abschließend vier Konstellationen, in welchen die Kriminalpolizei verpflichtend der Staatsanwaltschaft zu berichten hat (Vogl in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 100 Rz 9 [Stand 1. 5. 2022, rdb.at]). Nach § 100 Abs 2 Z 2 StPO hat sie der Staatsanwaltschaft schriftlich oder im Wege automationsunterstützter Datenverarbeitung insbesondere zu berichten, wenn und sobald eine Anordnung oder Genehmigung der Staatsanwaltschaft oder eine Entscheidung des Gerichts erforderlich oder zweckmäßig ist oder die Staatsanwaltschaft einen Bericht verlangt (Anlassbericht). Ein solcher Anlassbericht dient der Kriminalpolizei auch zur Abklärung, ob ein Anfangsverdacht vorliegt (§ 100 Abs 3a StPO; Vogl in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 100 Rz 16 [Stand 1. 5. 2022, rdb.at]).

[61] In den Fällen des § 100 Abs 2 Z 1 StPO, das heißt, wenn die Kriminalpolizei vom (seit der Novelle BGBl I 2021/159: Anfangs‑)Verdacht eines schwerwiegenden Verbrechens oder einer sonstigen Straftat von besonderem öffentlichen Interesse (§ 101 Abs 2 Satz 2 StPO), Kenntnis erlangt, hat die Berichterstattung zu Beginn des Ermittlungsverfahrens zu erfolgen (Anfallsbericht). Damit soll der Staatsanwalt von Anfang an in die Lage versetzt werden, den Gang der Ermittlungen im Hinblick auf das Verfahrensziel zu beeinflussen und das Erforderliche zu veranlassen (Vogl in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 100 Rz 11 [Stand 1. 5. 2022, rdb.at]; RV 25 BlgNR 22. GP  133; JAB 406 BlgNR 22. GP  14). Ein Verbrechen wiegt schwer, wenn es objektiv besonders wichtige Rechtsgüter verletzt (Vogl in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 100 Rz 12 [Stand 1. 5. 2022, rdb.at]).

[62] § 100 StPO schafft ein institutionelles Informationssystem, das die Staatsanwaltschaft in die Lage versetzt, die Ermittlungen zu beeinflussen. Die Berichtspflicht der Kriminalpolizei ergänzt deren eigenständige Ermittlungsbefugnis und ermöglicht der Staatsanwaltschaft, ihre Leitungsbefugnis – welche die rechtzeitige und vollständige Kenntnis des Ermittlungsstands voraussetzt – überhaupt erst wahrnehmen zu können (Kirchbacher, StPO15 § 100 Rz 1 [Stand 15. 11. 2023, rdb.at] Rz 1; RV 25 BlgNR 22. GP  131 f).

[63] 3.2. In der (festgestellten) Dienstanweisung der Landespolizeidirektion Wien vom 25. 2. 2015 wird angeordnet, dass in sogenannten GiP‑Fällen, in denen eine Ausführung von Straftaten (insbesondere nach Drohungen) gegen das Opfer zu befürchten ist, unverzüglich eine Kontaktaufnahme mit der Journalstaatsanwaltschaft zur Prüfung der Anordnung der Festnahme des auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten zu erfolgen hat. Wird keine Festnahme angeordnet, ist der Akt umgehend schriftlich mit Anlassbericht im Weg des ERV der Staatsanwaltschaft zu übermitteln.

[64] Diese (interne; vgl SZ 25/14) Dienstanweisung konkretisiert und verstärkt die sich bereits aus § 100 Abs 2 Z 1 und Z 2 StPO ergebende Verpflichtung der Polizei, die Staatsanwaltschaft in GiP‑Fällen einzubinden und zu informieren.

IV.  Schlussfolgerungen für das vorliegende Verfahren:

1. Zu § 38a Abs 1 StPO

[65] 1.1. Es besteht kein Zweifel, dass die Verhängung eines Betretungs- und Annäherungsverbots nach § 38a Abs 1 SPG den (vorbeugenden) Schutz potentiellerGewaltopfer bezweckt. Gerade die Verletzung der Rechtsgüter Leben und Gesundheit einzelner Betroffener soll durch diese Bestimmung hintangehalten werden. Zu beachten ist, dass durch das Einschreiten der Beamten und gegebenenfalls – wie hier – Anzeigeerstattung durch das Opfer gegen den Täter regelmäßig auch eine rechtliche Sonderverbindung zur individuellen gefährdeten Person begründet wird. Der geltend gemachte Schaden wäre vom Schutzzweck des § 38a SPG erfasst.

[66] 1.2. Die Voraussetzungen für eine Anordnung nach § 38a SPG lagen im konkreten Fall auch vor: Nach den Feststellungen war den Beamten vor Ort erkennbar, dass der Täter bereits einen gefährlichen Angriff gegen die Klägerin verübt hatte („deutlich sichtbare Schwellung und Rötung im Bereich des rechten Auges“). Des Weiteren hätte ihnen, wenn sie ihrer Verpflichtung zu einer eigenständigen, proaktiven und umfassenden Risikobewertung ausreichend nachgekommen wären, auch erkennbar sein müssen, dass sich der Täter vor kurzem ein Messer angeschafft hatte, die Klägerin per WhatsApp beginnend schon seit Anfang Jänner 2020 mehrfach mit dem Tod bzw konkret mit dem Abstechen bedroht hatte, wobei aus den Chatverläufen auf ihrem Handy auch die aktuellen Drohungen des Täters ersichtlich gewesen wären, und der Täter die (neue) Adresse der Klägerin kannte, weil er sie im Februar einmal nach Hause gebracht hatte. Die Polizeibeamten wären daher zur Verhängung eines Betretungs- und Annäherungsverbots und demgemäß auch zur Information der Klägerin über die Möglichkeit einer einstweiligen Verfügung nach §§ 382b und 382e EO und geeignete Opferschutzeinrichtungen (§ 38a Abs 4 SPG) verpflichtet gewesen. Dass die einschreitenden Beamten an der Pflichtverletzung kein Verschulden träfe, ist nicht erkennbar.

[67] 1.3. Es stellt sich daher die Frage der Kausalität zwischen dem Unterlassen der Anordnung nach § 38a Abs 1 SPG (und der damit verbundenen weiteren Schritte etwa nach § 38 Abs 4 SPG) und dem Schaden der Klägerin. Zu Recht macht die Klägerin insofern geltend, dass ihr hierfür eine Beweiserleichterung in Form eines Anscheinsbeweises zu Hilfe kommt:

[68] 1.3.1. Der Klägerin ist gerade jener Schaden entstanden, dessen Eintritt durch die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots hätte hintangehalten werden sollen.

[69] Der Gesetzgeber betrachtet die Verhängung eines Betretungs- und Annäherungsverbots (und die Erlassung einer entsprechenden einstweiligen Verfügung durch das Gericht) grundsätzlich als effektive und angemessene Maßnahme, um den vorbeugenden Schutz gefährdeter Menschen vor Gewalt in der Privatsphäre zu gewährleisten, auch wenn dadurch eine künftige Rechtsgutbeeinträchtigung nicht in jedem Einzelfall verhindert werden kann. Denn es kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, dass er eine Regelung geschaffen hätte, die er in der überwiegenden Zahl der Fälle für wirkungslos hielte (vgl 7 Ob 215/68). Vielmehr ist in der gesetzlichen Ausgestaltung der behördlichen Schutzmaßnahme zur Gewaltprävention ihr Nutzen schon „typisiert“ (oben II.2.3.). Damit berechtigt aber schon die Existenz der Regelung zur Annahme, dass sich ein Normunterworfener im Regelfall an die auf dieser Grundlage erlassenen – und durch begleitende Kontrollen und Androhung von Konsequenzen bei Missachtung abgesicherten – behördlichen Anordnungen hält, diese also Gefahren typischerweise wirksam abzuwehren vermögen.

[70] Auf dieser Grundlage spricht der erste Anschein sehr wohl dafür, dass der Täter auch im konkreten Fall ein Betretungs- und Annäherungsverbot befolgt hätte und es damit zu einem für die Klägerin günstigeren Kausalverlauf gekommen wäre, wenn die Organe der Beklagten diese Schutzmaßnahme zu ihren Gunsten ergriffen hätten. Den Anscheinsbeweis hätte die Beklagte zu widerlegen, indem sie ernstlich zweifelhaft macht, dass sich der Täter an ein Betretungs- und Annäherungsverbot gehalten hätte, wodurch der Mordversuch unterblieben wäre. Dafür reicht nicht aus, dass er trotz Erlassung eines Betretungs- und Annäherungsverbots weiterhin – worauf das Erstgericht mehrfach verwiesen hat – die faktische Möglichkeit gehabt hätte, die Tat zu begehen (vgl RS0040196 [T7]). Vielmehr haben die Tatsacheninstanzen – also nicht der Oberste Gerichtshof – zu beurteilen, ob diese (nie auszuschließende) Möglichkeit, allenfalls im Zusammenhang mit anderen Sachverhaltselementen, tatsächlich zu ernsten Zweifeln daran führt, dass sich der Täter an ein Verbot gehalten hätte.

[71] 1.3.2. An der Zulässigkeit des Anscheinsbeweises im vorliegenden Fall ändert der – vom Berufungsgericht herangezogene – Rechtssatz nichts, dass der Anscheinsbeweis dort ausgeschlossen ist, wo der Kausalablauf durch den individuellen Willensentschluss eines Menschen bestimmt werden kann (RS0040288). Die einschlägigen Entscheidungen betreffen Konstellationen, in denen es gar keinen Tatbestand mit typischem Geschehensablauf gab, weil dieser ausschließlich von individuellen Entschlüssen bestimmt war (1 Ob 502/84: Grund für Abhandenkommen eines Schmuckstücks aus einem Hotelzimmer; 10 ObS 56/90: berufliche oder private Tätigkeiten als Grund für den zurückgelegten Weg, auf dem sich ein Unfall ereignet hat; 2 Ob 119/88: die Frage, wer von zwei möglichen Personen zum Unfallzeitpunkt ein Motorrad gelenkt hat; 5 Ob 133/92: die Frage, ob die idente Geschäftsadresse zweier Personen auch deren persönliche oder wirtschaftliche Verflechtung zur Folge hat; 1 Ob 2029/96f: mangelhafte Belehrung eines Klienten durch einen Rechtsanwalt und Nichtabschluss eines Kaufvertrags; 1 Ob 5/96: Inbesitznahme eines verlandeten Grundstreifens durch einen Anrainer; 6 Ob 2100/96h: mangelhafte Prospektangaben und Anlageentschluss eines Anlegers). Nicht Gegenstand dieser Entscheidungen war das hier zu beurteilende Einwirken einer – wie hier vom Gesetzgeber ganz konkret als effektive Schutzmaßnahme zugunsten einzelner gefährdeter Personen vor Gewalt in der Privatsphäre vorgesehenen – hoheitlichen Anordnung auf das Verhalten eines Normunterworfenen.

[72] 1.4. Die Vorinstanzen trafen die Negativfeststellung, wonach nicht festgestellt werden könne, dass der Täter die Tat am 27. 2. 2020 nicht begangen hätte, wenn die Polizeibeamten wegen des Vorfalls am 12. 2. 2020 ein Betretungs- und Annäherungsverbot über ihn verhängt hätten, ohne Berücksichtigung des der Klägerin bei Unterlassung der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots zum Schutz vor Gewalt zuzubilligenden Anscheinsbeweises.

[73] Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind aus diesem Grund zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzuheben. Das Erstgericht wird noch einmal zu beurteilen haben, ob der Mordversuch an der Klägerin unterblieben wäre, wäre ein Betretungs- und Annäherungsverbot nach § 38a Abs 1 SPG über den Täter verhängt worden und daraufhin die weiteren Maßnahmen im Sinn dieser Bestimmung (Betreuung durch geeignete Opferschutzeinrichtungen bis hin zur Beantragung einer einstweiligen Verfügung bei Gericht) in Gang gesetzt worden. Dabei wird es aber davon auszugehen haben, dass der erste Anschein dafür spricht, dass sich der Täter im Weiteren gesetzestreu verhalten hätte, solange dieser Anscheinsbeweis nicht von der Beklagten außer Kraft gesetzt wird. Dies wird mit den Parteien noch zu erörtern sein.

2. Zu § 70 StPO iVm §§ 66 ff StPO

[74] Eine Haftung der Beklagten wegen Verletzung dieser Bestimmungen durch ihre Organe scheidet bereits deshalb aus, weil die Einhaltung dieser Informationspflichten schon abstrakt nicht geeignet war, den Mordversuch an der Klägerin zu verhindern. Die Informationspflichten zielen – wie gezeigt wurde – darauf ab, das Opfer detailliert über seine Verfahrensrechte in Kenntnis zu setzen. Der Klägerin ist aber kein Schaden im Zusammenhang mit ihren Verfahrensrechten entstanden. Die Versäumnisse der Organe der Beklagten im Zusammenhang mit der Aufklärung der Klägerin über ihre wesentlichen Opferrechte stehen daher nicht im Rechtswidrigkeitszusammenhang mit ihren durch den Mordversuch entstandenen Schäden. Einer der Fälle des § 70 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO lag nicht vor.

3. Zu § 100 StPO

[75] Sollte sich die Haftung der Beklagten nicht schon aus den Erwägungen zu § 38a SPG ergeben, wäre noch das Unterbleiben eines Berichts nach § 100 StPO zu prüfen. Dazu ist Folgendes zu erwägen:

[76] 3.1. Der Oberste Gerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass die Bestimmung über die Anzeigepflicht nach § 84 Abs 1 StPO aF (nunmehr § 78 Abs 1 StPO) nicht den Zweck verfolgt, den Eintritt von nach dem Zeitpunkt der unterlassenen Strafanzeige eintretenden Vermögensschäden zu hindern, weshalb potentiell künftig am Vermögen Geschädigte vom Schutzzweck dieser Bestimmung nicht erfasst sind (RS0131321; 1 Ob 163/16a).

[77] Der Fachsenat hat auch bereits wiederholt die Ansicht vertreten, dass die Bestimmungen über die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens Gläubiger (in concreto einer Bank) nicht davor schützen sollen, dass ihnen aufgrund der unterbliebenen Einleitung eines solchen Verfahrens durch künftige Straftaten der Organe dieser Bank ein Vermögensschaden entsteht. Dass ein solcher Schaden durch die frühere Einleitung eines Ermittlungsverfahrens unter Umständen verhindert werden hätte können, kann als bloße Reflexwirkung pflichtgemäßen Verhaltens keine Amtshaftung begründen (RS0134027).

[78] Schließlich hat auch die Verständigung nach § 194 Abs 1 StPO nicht den Zweck, das Opfer davor zu schützen, dass ihm durch künftige Straftaten des Beschuldigten ein weiterer Vermögensschaden entsteht (RS0134435).

[79] 3.2.  Demgegenüber hat der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 1 Ob 282/00b den Amtshaftungsanspruch eines Angehörigen eines Gewaltopfers grundsätzlich bejaht, soweit die Sicherheitsbehörde zur Weiterleitung einer Anzeige des späteren Opfers an die Staatsanwaltschaft verpflichtet war und dieser Verpflichtung nicht entsprochen hatte, sodass der Staatsanwaltschaft insbesondere die Möglichkeit genommen wurde, einen Haftantrag wegen Ausführungsgefahr gegen den späteren Täter zu stellen. Auch zu 1 Ob 7/89 beurteilte der Senat es zugunsten des Opfers als amtshaftungsbegründend, dass die erhebenden Gendarmeriebeamten dem zuständigen Staatsanwalt gerade jene Tatsachen nicht mitteilten, die diesen verpflichtet hätten, den Antrag auf Verhängung der Verwahrungshaft nach § 175 Abs 1 Z 4 StPO aF über die spätere Gewalttäterin zu stellen. In diesem Sinn wurde klargestellt, dass der Haftgrund der Wiederholungsgefahr und Ausführungsgefahr auch den Schutz des Bedrohten bezweckt (RS0027722). Die Untersuchungshaft wegen Tatbegehungs- oder Tatausführungsgefahr ist ihrem Wesen nach eine vorbeugende Maßnahme zum Schutz der Allgemeinheit vor weiteren (erheblichen) Straftaten (besonders) gefährlicher Straftäter (Kirchbacher/Rami in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 173 Rz 38 [Stand 1. 4. 2020, rdb.at]; 11 Os 9/14d: keine „Maßnahme zur Sicherung des Verfahrens“). Bestimmungen des Strafverfahrens können daher sehr wohl auch der konkreten Gefahrenabwehr dienen.

[80] 3.3. Im konkreten Fall haben die Organe der Beklagten der Staatsanwaltschaft und in der Folge dem Gericht die Möglichkeit genommen, über die Verhängung der Untersuchungshaft oder die Anwendung gelinderer Mittel zu entscheiden, indem sie entgegen § 100 Abs 2 Z 2 StPO eine Berichterstattung an die Staatsanwaltschaft unterließen.

[81] Auch wenn das Hauptaugenmerk der Berichtspflicht nach § 100 StPO auf dem Ziel liegen mag, das Ermittlungsverfahren möglichst rasch und effizient zu führen, ist vor dem Hintergrund der Entscheidungen 1 Ob 282/00b und 1 Ob 7/89 die Bestimmung des § 100 Abs 2 Z 2 StPO so zu verstehen, dass damit auch die Verhinderung von Schäden an Individualrechtsgütern von potentiellen (hier sogar konkret bekannten) Opfern (mit-)bezweckt ist. Staatsanwaltschaft und Gericht können die Verhängung der Untersuchungshaft über den Täter wegen Tatbegehungs- oder Tatausführungsgefahr nur bei entsprechender Information durch die Sicherheitsbehörden beantragen bzw beschließen, sodass die Berichtspflicht der Kriminalpolizei unter Umständen auch dem Schutz eines späteren Opfersdient (1 Ob 193/23g).

[82] Der Ansicht des Berufungsgerichts, es mangle schon am Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen den Schäden der Klägerin und den von ihr gegenüber den Organen der Beklagten wegen Verletzung des § 100 Abs 2 Z 2 StPO und Nichteinbindung der Staatsanwaltschaft erhobenen Vorwürfen ist daher nicht beizutreten.

[83] Die einschreitenden Polizeibeamten wären – wie die festgestellte Dienstanweisung verdeutlicht – im vorliegenden GiP‑Fall zu einer unverzüglichen Kontaktaufnahme mit der Journalstaatsanwaltschaft wegen einer allfälligen Festnahme des Täters, also der Erstattung eines Anlassberichts nach § 100 Abs 2 StPO verpflichtet gewesen, zumal der Täter die Klägerin nicht nur mit dem Umbringen, ganz konkret mit dem Abstechen, bedroht hatte („Messer verdienst du“ etc), sondern schon mehrfach ihr gegenüber gewalttätig geworden war. Die Unterlassung der gebotenen Berichterstattung war rechtswidrig. Dass die Organe der Beklagten kein Verschulden träfe, ist vor allem vor dem Hintergrund der klaren Dienstanweisung nicht erkennbar.

[84] 3.4. Bereits das Berufungsgericht hat allerdings festgehalten, dass es an Feststellungen zum hypothetischen Kausalverlauf fehlt, soweit die Polizei eine Berichterstattung an die Staatsanwaltschaft unterlassen hat.

[85] Das Erstgericht hat in diesem Zusammenhang in der rechtlichen Beurteilung lediglich ausgeführt, warum es die Haftgründe der Tatbegehungs- und Tatausführungsgefahr als nicht erfüllt ansieht, zumindest aber der Meinung ist, „dass der Haftgrund der Tatbegehungsgefahr – gegebenenfalls unter Berücksichtigung gelinderer Mittel (etwa Betretungs- und Annäherungsverbot, vorläufige Bewährungshilfe) – jedenfalls unverhältnismäßig gewesen“ wäre. Überlegungen zu einer Festnahmeanordnung nach §§ 170 Abs 1, 171 Abs 1 StPO iVm § 35 JGG hat es nicht angestellt. Feststellungen dazu, wie sich eine allfällig gebotene Festnahme und – sollten die Voraussetzungen für eine Untersuchungshaft tatsächlich nicht vorgelegen sein – möglicherweise zu ergreifende gelindere Mittel nach § 173 Abs 5 StPO auf den hypothetischen Kausalverlauf ausgewirkt hätten, fehlen.

[86] Diese wird das Erstgericht nachzutragen haben. Dabei wird es zu beachten haben, dass mit der Feststellung, dass sich der Täter auch bei pflichtgemäßem Handeln der Polizeibeamten am 27. 2. 2020 auf freiem Fuß befunden hätte, sodass die Bluttat dadurch „nicht mit Sicherheit“ hätte verhindert werden können, nicht das Auslangen gefunden werden kann. Auch außerhalb des Anscheinsbeweises, der der Klägerin wiederum im Fall der (hypothetischen) Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots nach § 173 Abs 5 Z 3 StPO zuzubilligen wäre, kommt der Klägerin für den Beweis der Kausalität einer Unterlassung eine Beweiserleichterung zugute, nämlich das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Das Erstgericht scheint mit der von ihm angesprochenen Sicherheit auf ein falsches Beweismaß abzustellen. Jedenfalls bedarf es konkreter Feststellungen, um die Auswirkungen des gebotenen Verhaltens der Organe der Beklagten, das den Täter theoretisch von seiner Tat hätte abschrecken können, auch wenn er am 27. 2. 2020 nicht in Haft gewesen wäre („Schuss vor den Bug“), auf den hypothetischen Kausalverlauf im Einzelnen beurteilen zu können.

V.  Ergebnis:

[87] 1. Aus den genannten Gründen sind die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben, und die Rechtssache ist zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückzuverweisen. Rechtswidrigkeit, Schutzzweck der Norm und Verschulden sind in Bezug auf das Unterlassen einer Anordnung nach § 38a SPG und eines Berichts nach § 100 StPO abschließend geklärt, Feststellungen zur Kausalität sind zu treffen. Davor ist die Frage des Beweismaßes mit den Parteien zu erörtern (Anscheinsbeweis, überwiegende Wahrscheinlichkeit). Ob diese Erörterung zur Notwendigkeit einer weiteren Beweisaufnahme führt, haben die Tatsacheninstanzen zu beurteilen.

[88] 2. Die diese Entscheidung tragenden Erwägungen können wie folgt zusammengefasst werden:

Betretungs- und Annäherungsverbote nach § 38a SPG dienen dem Schutz des Gefährdeten. Das schuldhafte Unterlassen solcher Anordnungen kann daher Amtshaftungsansprüche begründen.

Wird ein Betretungs- oder Annäherungsverbot nach § 38a SPG erlassen, spricht der erste Anschein dafür, dass sich der Gefährder an diese Anordnung hält.

[89] 3. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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