OGH 1Ob193/23y

OGH1Ob193/23y27.5.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S*, vertreten durch die Wess Kux Kispert & Eckert Rechtsanwalts GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 103.490,25 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 4. September 2023, GZ 14 R 107/23t‑48, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 26. September 2022, GZ 31 Cg 3/21w‑42, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0010OB00193.23Y.0527.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Amtshaftung inkl. StEG

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Am 2. 11. 2020 verübte ein Attentäter in der Wiener Innenstadt einen Terroranschlag, bei dem er vier Personen – darunter die Tochter der Klägerin – ermordete und mehrere Personen teils schwer verletzte.

[2] Die Klägerin begehrt aus dem Titel der Amtshaftung Schadenersatz von insgesamt 103.490,25 EUR (80.000 EUR Schmerzengeld, 10.000 EUR Schmerzengeld als Erbin nach ihrer Tochter, 14.809,86 EUR Bestattungskosten und 4.488,59 EUR diverse Kosten abzüglich 5.808,20 EUR an Zahlungen nach dem Verbrechensopfergesetz) sowie die Feststellung der Haftung für sämtliche ihr aus dem Attentat zukünftig entstehende Ansprüche.

[3] Den polizeilichen Staatsschutzbehörden BVT (Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung) und LVT (Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung), deren Rechtsträger die Beklagte sei, seien schuldhafte Versäumnisse anzulasten, die kausal für das Terrorattentat und damit ihre Schäden geworden seien, und zwar vor allem

- eine verspätete Risikoeinschätzung nach RADAR-iTE erst am 7.10.2020, obwohl der spätere Attentäter bereits kurz nach seiner bedingten Entlassung aus einer wegen §§ 278a und 278b StGB verhängten Freiheitsstrafe im Dezember 2019 für eine solche vorgesehen gewesen sei, wobei deren Ergebnis mit der Einstufung als „hohes Risiko“ erst kurz vor dem 21.10.2020 vollständig an den zuständigen Beamten des LVT weitergeleitet worden sei;

- das Unterlassen einer geeigneten unmittelbaren Reaktion (insbesondere nach dem einschlägigen Handbuch und nach dem PStSG oder SPG) auf die schließlich übermittelte Einschätzung des hohen Risikos, obwohl eine solche im Hinblick auf die vorhandenen Gefährdungsmomente dringend geboten gewesen wäre;

- das Unterlassen der nach § 100 StPO ab 24.08.2020, spätestens ab 16.10.2020 gebotenen Berichterstattung an die zuständige Staatsanwaltschaft durch das LVT bzw BVT, obwohl diese Kenntnis über die gesamte Fallhistorie des späteren Attentäters (etwa auch Treffen mit bekannten Mitgliedern der radikal islamistischen Szene, versuchter Ankauf von Munition für ein Sturmgewehr in Bratislava einen Tag nach diesem Treffen) gehabt hätten. Aufgrund einer rechtzeitigen und richtigen Risikoeinschätzung und des gebotenen Berichts des LVT bzw BVT nach § 100 StPO hätte die Staatsanwaltschaft die Festnahme und Verhängung der Untersuchungshaft über den späteren Attentäter beantragt oder andere Anordnungen getroffen, sodass das Terrorattentat am 2.11.2020 nicht begangen worden wäre.

[4] Das rechtswidrige Verhalten liege darin, dass BVT und LVT ihre Aufgaben insgesamt nicht ordnungsgemäß wahrgenommen hätten und daher die angesichts der massiven Gefährdungsmomente betreffend des späteren Attentäters gebotenen Vorkehrungen unterblieben seien. Ein Anfangsverdacht hätte insbesondere auch hinsichtlich der Delikte §§ 278a und 278b StGB und § 50 Abs 1 Z 4 WaffG geprüft werden müssen. Es sei auch gegen Bestimmungen des § 22 Abs 2 SPG sowie gegen § 6 PStSG verstoßen worden, zudem liege eine Verletzung von Art 2 EMRK vor. All diese Bestimmungen dienten dem Schutz der Allgemeinheit und damit auch der Tochter der Klägerin vor Straftaten besonders gefährlicher Straftäter.

[5] DieBeklagte bestritt und wandte insbesondere ein, der Terroranschlag sei nicht zu verhindern gewesen und auch nicht auf ein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten ihrer Organe zurückzuführen. Außerdem seien die geltend gemachten Schadenersatzansprüche nicht vom Schutzzweck der einschlägigen Bundesgesetze erfasst.

[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

[7] Auch im Rahmen der Amtshaftung seien nur jene Schäden zu ersetzen, deren Eintritt die (angeblich) übertretene Vorschrift gerade habe verhindern wollen oder deren Verhinderung zumindest mitbezweckt gewesen sei. Die im PStSG und im SPG enthaltenen Vorschriften seien eindeutig nur im Interesse der Allgemeinheit, nicht aber (auch) im Interesse einzelner betroffener Personen normiert. Eine rechtliche Sonderverbindung zwischen der Tochter der Klägerin und der Beklagten habe nicht bestanden, weil (aus der Sicht ex ante) keine konkrete, den Behörden bekannte Gefährdung der Tochter der Klägerin als Einzelperson gegeben gewesen sei. Eine Amtshaftung für Vollzugsorgane unmittelbar aufgrund der Grundrechte der EMRK habe keine rechtliche Grundlage. Die in § 100 StPO geregelte Berichtspflicht der Polizei gegenüber der Staatsanwaltschaft verfolge ebenso wie die Anzeigepflicht des § 78 Abs 1 StPO nicht den (Schutz‑)Zweck, nach dem Zeitpunkt des unterlassenen Berichts eintretende Schäden künftig potenziell Geschädigter (Opfer) zu verhindern. Da der geltend gemachte Amtshaftungsanspruch schon am Fehlen des Rechtswidrigkeitszusammenhangs scheitere, sei weder auf die Verschuldensfrage noch auf Kausalitätserwägungen einzugehen.

[8] Das Berufungsgerichtbestätigte diese Entscheidung und ließ die ordentliche Revision zu.

[9] Adressat der unter anderem aus Art 2 EMRK abgeleiteten Pflicht des Staats zum Schutz seiner Bürger vor Gefährdungen (ihres Lebens oder ihrer Gesundheit) sei – auf der Grundlage des Legalitätsprinzips des Art 18 Abs 1B‑VG – der Gesetzgeber. Mangels unmittelbarer Wirkung für die Verwaltung und damit für das konkrete behördliche Handeln könnten aus einem (behaupteten) Verstoß gegen Art 2 EMRK keine Amtshaftungsansprüche abgeleitet werden.

[10] Die Ermittlungspflicht der Behörde(n) nach dem PStSG bezwecke nicht den Individualschutz von möglichen zukünftigen Opfern. Schutzobjekt des PStSG sei nur die Allgemeinheit als Kollektiv. Gleiches gelte grundsätzlich für die Regelungen des SPG. Ein Fall des § 22 Abs 4 SPG, in welchem die Sicherheitsbehörde ex ante Grund zur Annahme habe, dass gegen eine ihr bekannte – konkrete – Person ein gefährlicher Angriff bevorstehe, sei nicht vorgelegen. Im Übrigen sei Schutzobjekt des SPG gemäß der Vorschrift des § 20 SPG die „öffentliche Sicherheit“ und damit ebenfalls eindeutig die Sicherheit der Allgemeinheit als Kollektiv, nicht aber konkrete einzelne Personen.

[11] Die ordentliche Revision sei zulässig, weil keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zum Schutzzweck der Vorschriften des PStSG, des SPG und des § 100 StPO bestehe.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die dagegen von der Klägerin erhobene – von der Beklagten beantwortete – Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grundzulässig. Sie ist im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

1. Zum Rechtswidrigkeitszusammenhang im Amtshaftungsrecht:

[13] 1.1. Ein rechtswidriges und schuldhaftes Organhandeln in Vollziehung der Gesetze, das den Rechtsträger gemäß § 1 AHG zum Schadenersatz verpflichtet, kann auch in einer Unterlassung liegen, wenn eine Pflicht des Organs zum Tätigwerden bestand und pflichtgemäßes Handeln den Schadenseintritt verhindert hätte (RS0081378).

[14] Auch bei Geltendmachung von Amtshaftungsansprüchen haftet der Rechtsträger für rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten seiner Organe nur dann, wenn die übertretene Verhaltensnorm nach ihrem Schutzzweck gerade auch den eingetretenen Schaden verhindern sollte (RS0031143). Für die Annahme des erforderlichen Rechtswidrigkeitszusammenhangs genügt angesichts der in der Regel primär öffentliche Interessen wahrenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften zwar, dass die Verhinderung eines Schadens beim Dritten bloß mitbezweckt ist, die Norm muss aber die Verhinderung eines Schadens wie des später eingetretenen intendiert haben (RS0031143 [T5]). Es wird für solche Schäden gehaftet, die sich als Verwirklichung derjenigen Gefahr darstellen, derentwegen der Gesetzgeber ein bestimmtes Verhalten gefordert oder untersagt hat (RS0031143 [T14]).

[15] Die Nichtberücksichtigung der eingrenzenden Wirkung des Rechtswidrigkeitszusammenhangs hätte gerade auch im Gebiet des Amtshaftungsrechts eine Uferlosigkeit der Haftpflicht der Rechtsträger zur Folge (RS0031143 [T7]; RS0050038 [T29]). Es muss daher geprüft werden, ob Pflichten der Rechtsträger nur im Interesse der Allgemeinheit oder auch im Interesse einzelner Betroffener normiert sind (RS0031143 [T11]; RS0050038 [T27]).

[16] 1.2. Der Begriff „Allgemeinheit“ beschreibt „eine große und unbestimmte Zahl von Personen“ (RS0049993). Der Allgemeinheit steht begrifflich der Einzelne oder auch eine abgrenzbare bestimmte Gruppe von Personen gegenüber. Zur Klärung der Frage, ob Pflichten der Rechtsträger nur Interessen der Allgemeinheit oder auch einzelner Betroffener berühren, ist auf den Normzweck abzustellen. Nicht jeder Schutz, den die Verhaltensnorm tatsächlich bewirkt, ist auch von deren Schutzzweck erfasst (RS0027553 [T14]; RS0031143 [T7, T19, T22]).

[17] 1.3. Im Rahmen der Amtshaftung wird die Frage, ob eine Norm (auch) den Schutz des Geschädigten (mit-)bezweckt, im Allgemeinen dann bejaht, wenn bereits eine rechtliche Sonderverbindung zwischen dem Rechtsträger und dem Betroffenen bestand (RS0049993). Das Bestehen eines subjektiven öffentlichen Rechts oder einer rechtlichen Sonderbeziehung ist aber nicht unbedingt Voraussetzung für die Bejahung des Rechtswidrigkeitszusammenhangs. Maßgebend ist vielmehr der im Einzelfall durch Auslegung zu ermittelnde Zweck der übertretenen Norm, der sich aus historischer oder objektiv-teleologischer Interpretation ergeben kann (1 Ob 199/22d mwN).

[18] Werden etwa Pflichten der Vollziehung zur Verhinderung von Schäden durch (konkret bezeichnete) gefährliche Sachen oder Menschen angeordnet, so ist anzunehmen, dass diese Pflichten jene Personen schützen sollen, die mit den jeweiligen Gefahrenquellen in Berührung kommen. Dieser Grundsatz betrifft so verschiedene Konstellationen wie die das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) treffenden Aufsichts-, Überwachungs- und Informationspflichten nach dem Medizinproduktegesetz (1 Ob 39/23a), die Überprüfung des Einhaltens von Auflagen nach Betriebsanlagenrecht (1 Ob 16/92), die Überprüfung von Kraftfahrzeugen nach § 57a KFG (RS0022886) oder die Unterbringung einer Person wegen Fremdgefährlichkeit (1 Ob 247/98z). Entscheidend ist in diesen Fällen, dass kein anderer Normzweck erkennbar ist als gerade der Schutz jener Personen oder Sachen, die mit den jeweiligen Gefahrenquellen in Berührung kommen; dass also gerade kein darüber hinausgehender, tatsächlich eine unbestimmte Zahl von Personen erfassender Gesetzeszweck vorliegt (1 Ob 199/22d).

[19] 2. Die Klägerin stützt ihre Amtshaftungsansprüche auf vermeintliche Versäumnisse des polizeilichen Staats- bzw Verfassungsschutzes, und zwar eine Verletzung der Bestimmungen des Polizeilichen Staatsschutzgesetzes (PStSG), des Sicherheitspolizeigesetzes (SPG) und der StPO, konkret der § 6 PStSG, § 22 Abs 2 SPG und § 100 StPO, deren Normzweck daher zu ermitteln ist.

2.1. Zu den gesetzlichen Grundlagen für die Tätigkeit des Verfassungsschutzes und dessen Aufgaben:

[20] Dem Verfassungsschutz obliegt es, durch zielgerichteten Einsatz der ihm zur Verfügung stehenden Methoden möglichst frühzeitig Gefährdungsmomente durch terroristische Angriffe zu erkennen und zu verhindern (Stempkowski in Gappmayer, HB Hass, Amok, Terror Rz 18.1 [Stand 1. 8. 2022, rdb.at]).

[21] Vor der Neuorganisation des Verfassungsschutzes durch BGBl I 2021/148 per 1. 12. 2021 (vgl dazu Vogl, Die Neuorganisation des Verfassungsschutzes in Österreich, JBl 2021, 754) waren die für den Staatsschutz zuständigen exekutiven Einheiten das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT; nunmehr Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst [DSN]) und die entsprechenden Einheiten auf Landesebene (Landesämter für Verfassungsschutz [LVT]). Dabei handelte es sich um Organisationseinheiten der Sicherheitsbehörden gemäß Art 78a B‑VG. Ihre spezifischen Aufgaben ergaben sich aus dem (im Jahr 2016 in Kraft getretenen) PStSG (Stempkowski in Gappmayer, HB Hass, Amok, Terror Rz 18.4 [Stand 1. 8. 2022, rdb.at]). Das PStSG wurde im Zuge der Neukonzeptionierung geändert und in Staatsschutz- und Nachrichtendienst-Gesetz (SNG) umbenannt. Die Bestimmungen des PStSG (nun SNG) sind Sonderbestimmungen zum SPG, das Grundlage für die Tätigkeit des polizeilichen Staatsschutzes vor Einführung des PStSG war (Stempkowski in Gappmayer, HB Hass, Amok, Terror Rz 18.11 [Stand 1. 8. 2022, rdb.at]). Dementsprechend verwies § 5 PStSG (verweist § 5 SNG) – soweit im Gesetz nichts Besonderes bestimmt ist – auf die Geltung des SPG, etwa in Bezug auf „die Aufgabe der Gefahrenabwehr und die damit einhergehenden Befugnisse, die in diesem Bundesgesetz nicht geregelt werden“ (RV 763 BlgNR 25. GP  3).

[22] Nach § 6 Abs 1 Z 2 PStSG (nun § 6 Abs 2 SNG) oblag zum Zeitpunkt des Anschlags dem BVT und den LVT (nunmehr den für den Aufgabenbereich Staatsschutz zuständigen Organisationseinheiten gemäß § 1 Abs 3 SNG) insbesondere „der vorbeugende Schutz vor verfassungsgefährdenden Angriffen durch eine Person, sofern ein begründeter Gefahrenverdacht für einen solchen Angriff besteht (§ 22 Abs 2 SPG).“

[23] Ein verfassungsgefährdender Angriff wurde in § 6 Abs 2 Z 1 PStSG (nun § 6 Abs 3 SNG) unter anderem als die Bedrohung von Rechtsgütern durch die rechtswidrige Verwirklichung des Tatbestands einer nach §§ 278b bis 278f StGB (nunmehr bis § 278g StGB) strafbaren Handlung definiert.

2.2. Exkurs zu den Terrortatbeständen

[24] Die §§ 278b bis 278g StGB dienen der Umsetzung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung des Terrorismus, des Rahmenbeschlusses 2008/919/JI zur Änderung des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI zur Terrorismusbekämpfung sowie der Richtlinie (EU) 2017/541 zur Terrorismusbekämpfung und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI des Rates und zur Änderung des Beschlusses 2005/671/JI des Rates (RL Terrorismus); die Kriminalisierungsverpflichtungen für diverse strafbare Handlungen im Vorfeld von terroristischer Kriminalität vorsehen (vgl Plöchl in Höpfel/Ratz,WK2 StGB § 278e Rz 1 [Stand 2. 9. 2020, rdb.at]). § 278b StGB („Terroristische Vereinigung“), § 278d („Terrorismusfinanzierung“), § 278e StGB („Ausbildung für terroristische Zwecke“), § 278f StGB („Anleitung zur Begehung einer terroristischen Straftat“) und § 278g StGB („Reisen für terroristische Zwecke“) sind selbständig vertypte Vorbereitungsdelikte, die den Zweck verfolgen, terroristische Aktivitäten bereits vor eigentlicher Tatbegehung zu bestrafen (Sadoghi, SbgK § 278b StGB Rz 9, § 278d Rz 7, § 278e Rz 3, § 278f Rz 3 und § 278g Rz 2, je mwN [40. Lfg April 2019]). Kriminalpolitischer Hintergrund ist die Kategorisierung terroristischer Handlungen als schwerste Verstöße gegen die universellen Werte der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Solidarität sowie Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und als einen der schwersten Angriffe auf die Grundsätze der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, denen bereits im Vorfeld mit entsprechenden strafrechtlichen Mitteln begegnet werden soll (Sadoghi, SbgK § 278b StGB Rz 9 [40. Lfg April 2019]). § 278c StGB legt überdies einen eigenen Strafsatz für terroristische Straftaten fest (Sadoghi, SbgK § 278c StGB Rz 4 [40. Lfg April 2019]).

2.3. Zum Schutzzweck des PStSG und des SPG

[25] 2.3.1. Der – in § 6 PStSG (nun SNG) statuierte –vorbeugende Schutz vor verfassungsgefährdenden Angriffen durch eine Person ist „die zentrale Aufgabe des Staatsschutzes“ (Heißl in Heißl/Figl, SNG2 § 6 Rz 18 [Stand 1. 3. 2023, rdb.at]).

[26] In den Materialien zum PStSG wird betont, dass es Aufgabe des polizeilichen Staatsschutzes sein müsse, die im Staatsgebiet lebenden Menschen und die verfassungsmäßige Grundordnung zu schützen. Schon im allgemeinen Teil der Erläuterungen kommt zum Ausdruck, dass den Sicherheitsbehörden Mittel und Möglichkeiten in die Hand gegeben werden müssen, um „nicht nur auf Gefahren reagieren, sondern Bedrohungen aktiv schon im Vorfeld entgegentreten“ zu können. Mit der Schaffung besonderer bundesgesetzlicher Maßnahmen für den Staatsschutz solle eine effektive und effiziente Abwehr der Spionage und der Folgen von Extremismus und Terrorismus durch den Ausbau der präventiven und repressiven Mechanismen ermöglicht werden (RV 763 BlgNR 25. GP  1).

[27] Zu § 6 PStSG führen die Materialien im Besonderen aus (RV 763 BlgNR 25. GP  4):

„Mit dem vorliegenden Entwurf soll die bisherige Aufgabe der erweiterten Gefahrenerforschung bei Einzelpersonen im vorbeugenden Schutz von Rechtsgütern angesiedelt werden, eingeschränkt auf verfassungsgefährdende Angriffe, sofern ein begründeter Gefahrenverdacht besteht.

Für die Aufgabe bedarf es somit hinreichender Anhaltspunkte für die Annahme, dass ein verfassungsgefährdender Angriff vorbereitet werde (§ 22 Abs 2 SPG). Es muss also ein begründeter Gefahrenverdacht bestehen, dass der Betroffene einen verfassungsgefährdenden Angriff in absehbarer Zeit begehen werde. Das Erfordernis eines begründeten Gefahrenverdachts bedeutet dabei mehr als die bloße Möglichkeit oder Nichtausschließbarkeit eines Angriffes, aber weniger als mit Gewissheit zu erwarten (vgl Hauer/Keplinger, SPG4, § 22 Anm 10.1).“

 

[28] Sowohl der Wortlaut des PStSG als auch die Materialien lassen damit keinen Zweifel daran, dass mit den Bestimmungen dieses Gesetzes die Bevölkerung und verfassungsmäßige Einrichtungen präventiv unter anderem vor terroristische Straftaten (darunter Mord; § 278c Abs 1 Z 1 StGB) geschützt werden sollen.

2.3.2. In die gleiche Richtung zielen die von der Klägerin herangezogenen Bestimmungen des SPG:

[29] Nach § 20 SPG umfasst die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit unter anderem die Gefahrenabwehr und den vorbeugenden Schutz von Rechtsgütern.

[30] Nach der mit „Vorbeugender Schutz von Rechtsgütern“ übertitelten Bestimmung des § 22 Abs 2 SPG (auf die § 6 Abs 1 Z 2 PStSG verweist) haben die Sicherheitsbehörden gefährlichen Angriffen auf Leben, Gesundheit, Freiheit, Sittlichkeit, Vermögen oder Umwelt vorzubeugen, sofern solche Angriffe wahrscheinlich sind. Zu diesem Zweck können die Sicherheitsbehörden im Einzelfall erforderliche Maßnahmen mit Behörden und jenen Einrichtungen, die mit dem Vollzug öffentlicher Aufgaben, insbesondere zum Zweck des Schutzes vor und der Vorbeugung von Gewalt sowie der Betreuung von Menschen, betraut sind, erarbeiten und koordinieren, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen, insbesondere wegen eines vorangegangenen gefährlichen Angriffs, anzunehmen ist, dass ein bestimmter Mensch eine mit beträchtlicher Strafe bedrohteHandlung (§ 17 SPG) gegen Leben, Gesundheit, Freiheit oder Sittlichkeit eines Menschen begehen wird (Sicherheitspolizeiliche Fallkonferenz).

[31] Zu den Schutzgütern des SPG zählen – wie die Gesetzesmaterialien bekräftigen – Leben, Gesundheit, Freiheit, Vermögen und Sittlichkeit von Menschen sowie die verfassungsmäßige Ausübung von Staatsfunktionen und der gewaltfreie Ablauf von Wahlen, aber auch die Umwelt (RV 148 BlgNR 18. GP  30 f).

[32] 2.3.3. All das legt nahe, dass der Schutzzweck des PStSG und des SPG, und zwar konkret des § 6 Abs 1 Z 2 PStSG iVm § 22 Abs 2 SPG, gerade auch in der Verhinderung von Schäden an den Individualrechtsgütern der im Staatsgebiet lebenden Menschen aufgrund eines terroristischen Angriffs durch eine Person liegt.

[33] Aus § 22 Abs 4 SPG, nach dem die Sicherheitsbehörde die Verpflichtung trifft, Menschen, die als Opfer in Betracht kommen, von einem drohenden gefährlichen Angriff „nach Möglichkeit“ in Kenntnis zu setzen und – „soweit diese das bedrohte Rechtsgut deshalb nicht durch zumutbare Maßnahmen selbst schützen, weil sie hiezu nicht in der Lage sind“ – zu schützen, ergibt sich nichts anderes, will diese Bestimmung vor allem die Voraussetzungen festlegen, unter denen ein Verzicht auf den Schutz Verbindlichkeit beanspruchen kann (RV 148 BlgNR 18. GP  36). Ein solcher Verzicht kann aber nur von einem bereits individualisierten potentiellen Opfer erteilt werden. Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass das Interesse an der Verhinderung eines Terrorattentats durch eine Person – sollte kein Fall des § 22 Abs 4 SPG vorliegen – auf das Interesse der Allgemeinheit an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und der Stabilität des Staatsgefüges beschränkt wäre. Dagegen spricht der wiederholte Bezug auf die (grundrechtlich geschützten) Rechtsgüter Einzelner (wie Leben, Gesundheit, Freiheit etc) sowohl im Text des SPG (auf dessen § 22 Abs 2 SPG § 6 Abs 1 Z 2 PStSG verweist) als auch in den Gesetzesmaterialien.

[34] Dem Einwand, mit dem Hinweis auf den Schutz der im Staatsgebiet lebenden Menschen vor verfassungsgefährdenden Angriffen sei nur die Gesamtbevölkerung als Kollektiv, nicht aber das einzelne Opfer gemeint, ist Folgendes zu erwidern:

[35] Es liegt in der Natur der Sache, dass die von einem terroristischen Angriff letztlich betroffenen Menschen ex ante nicht (konkret) vorhersehbar sind, zumal Opfer von Terrorakten zumeist Personen sind, die am eigentlichen Konflikt in keiner Weise beteiligt sind (Plöchl in Höpfel/Ratz, WK2 StGB § 278b Rz 1 [Stand 2. 9. 2020, rdb.at]). Daraus, dass eine Individualisierung der späteren Opfer im Vorhinein nicht möglich ist, bestenfalls auf bestimmte Gruppen eingegrenzt werden kann, kann aber nicht geschlossen werden, dass deren Individualrechtsgüter nicht geschützt wären. Vielmehr sind jene Personen geschützt, die mit dem verfassungsgefährdenden Angriff durch eine bestimmte Person – den es von den Sicherheitsbehörden (hier nach § 6 Abs 1 Z 2 PStSG) zu verhindern gegolten hätte – in Berührung kommen.

[36] Eine uferlose Ausweitung der Haftpflicht des Rechtsträgers ist damit nicht verbunden, weil die Gefahrenquelle (anders als etwa bei einem Pandemiegeschehen) eingrenzbar und überschaubar ist: Voraussetzung des vorbeugenden Schutzes vor verfassungsgefährdenden Angriffen ist ja der begründete Gefahrenverdacht, dass eine Person einen solchen begehen wird. Ähnlich verlangt § 22 Abs 2 SPG, dass das Bevorstehen eines Angriffs wahrscheinlich ist (Pürstl/Zirnsack, SPG² § 22 Anm 11).

[37] Mit anderen Worten: Zwar wird weitgehend vom Zufall bestimmt, welche Personen sich an dem Ort aufhalten, an dem ein bestimmter Täter einen Anschlag verübt. Das schließt aber nicht aus, dass gerade diese Personen vom Schutzzweck jener Normen erfasst sind, die die Sicherheitsbehörden zur Abwehr einer konkreten – von einem bestimmten Täter ausgehenden – Gefahr verpflichten. Dass unter Umständen auch eine Vielzahl von Menschen (etwa von einem Bombenattentat) betroffen sein kann, ändert nichts daran, dass der Schutz am möglichen Kontakt mit einer ex ante bekannten Gefahrenquelle anknüpft. Ob im konkreten Fall Handlungspflichten bestanden und ob entsprechendes Handeln die Verwirklichung der Gefahr und damit den Schaden verhindert hätte, ist keine Frage des Schutzzwecks der Norm, sondern betrifft die Anspruchsvoraussetzungen Rechtswidrigkeit, Verschulden und Kausalität.

2.3.4. Die Ansicht, dass die Bestimmungen des SPG grundsätzlich Schutznormen iSd Amtshaftungsrechts sind, wird auch in der Literatur geteilt:

[38] Wimmer (in Thanner/Vogl, SPG² [2013] § 22 SPG Anm 3) meint, dass jede rechtswidrige und schuldhafte Nichterfüllung sicherheitspolizeilicher Aufgaben zu Schadenersatzansprüchen des späteren Angriffsopfers aus dem Titel der Amtshaftung führen kann. Wenn die Sicherheitsbehörden ihren gesetzlichen Aufgaben rechtswidrig und schuldhaft nicht nachkämen, könne Schadenersatz gefordert werden. Die Befugnisnormen des SPG seien Schutznormen iSd Amtshaftungsrechts. Giese (in Thanner/Vogl, SPG² Vor §§ 19–27a SPG Anm 3) vertritt ebenfalls die Meinung, dass die (rein) objektiv-rechtlichen Pflichten der Sicherheitsbehörden Schutzgesetze im Sinn des Amtshaftungsrechts darstellen. Daher könne die rechtswidrige Unterlassung einer polizeilichen Maßnahme, die einen Schaden nach sich ziehe, zu Schadenersatzpflichten des Bundes führen.

[39] Funk (Polizeigesetzgebung als Verwirklichung grundrechtlicher Werte, in Matscher, Grundrechtsschutz und polizeiliche Effizienz [1994] 47 [60 f]) führt näher aus, dass die Sicherheitsbehörden und ihre Organe den Einzelnen vor jenen Gefahren zu schützen hätten, deren Abwehr das SPG zum Gegenstand habe. Dieser Verpflichtung stehe zwar ein subjektives öffentliches Recht des Einzelnen, der diesen Gefahren ausgesetzt sei, auf polizeilichen Schutz nicht gegenüber. Er könne aber Schadenersatz im Rahmen der Amtshaftung verlangen, wenn ihm aus einem rechtswidrigen und schuldhaften Verhalten der Sicherheitsbehörden und ihrer Organe Schaden entstanden sei. Dies ergebe sich aus der Erwägung, dass sowohl die Aufgaben- als auch die Befugnisnormen des SPG Schutznormen im Sinne des Amtshaftungsrechts seien. Das bedeute, dass sie neben dem öffentlichen Interesse der Sicherheitsgewähr auch dem Schutz des Einzelnen dienten. Die Schutzwirkung dieser Normen erstrecke sich im besonderen auch auf die Folgen pflichtwidriger Unterlassungen. Als Ergebnis hält Funk fest, dass das SPG zwar dem Einzelnen keinen unmittelbaren Anspruch auf Schutz des Lebens, der Gesundheit, der persönlichen Freiheit und des Eigentums, kurz: auf Sicherheit, gebe. Es stelle aber Verpflichtungen der Behörden und ihrer Organe auf, die im Rahmen der Amtshaftung als Schutznormen für den Einzelnen zum Tragen kommen würden. Auch dies sei eine Form der Verwirklichung von grundrechtlichen Werten. Sie entspreche den in den Grundrechten eingeschlossenen Schutz- und Garantiepflichten des Staats.

[40] 2.3.5. Der Ersatz von Schäden der Klägerin infolge schuldhafter Unterlassung der Abwehr eines verfassungsgefährdenden Angriffs durch eine Person kann daher nicht schon unter Hinweis auf den Schutzzweck des § 6 Abs 1 Z 2 PStSG (nunmehr § 6 Abs 2 SNG) iVm § 22 Abs 2 SPG abgelehnt werden.

2.4. Zum Schutzzweck der Berichtspflicht nach § 100 StPO:

[41] Der Hauptvorwurf der Klägerin richtet sich auf das Unterbleiben einer (vermeintlich) gebotenen Berichterstattung des Verfassungsschutzes an die Staatsanwaltschaft, die – so die Klägerin – entsprechende Maßnahmen zur Folge gehabt hätte, durch die das Terrorattentat verhindert worden wäre. Auch insofern kann die Haftung nicht schon aufgrund fehlenden Rechtswidrigkeitszusammenhangs verneint werden.

[42] 2.4.1. Nach der Rechtsprechung des Senats dienen nicht alle Bestimmungen der StPO bei der gebotenen teleologischen Betrachtungsweise auch dem Schutz des durch eine Straftat Geschädigten (RS0050078). Vielmehr liegt der primäre Zweck der Vorschriften über das Strafverfahren nach der Rechtsprechung des Fachsenats in der Verwirklichung des materiellen Strafrechts im Einzelfall mit der richtigen Bewertung von Tat und Täter zum Zweck der gerechten Bestimmung einer Sanktion oder einer anderen gesetzlich vorgesehenen Konsequenz (1 Ob 91/22x mwN).

[43] Ob eine (konkrete) Bestimmung der StPO (auch) dem Schutz des durch eine Straftat Geschädigten dient, ist nach dem Zweck der Amtspflicht wertend zu beurteilen. Soweit er sich nur auf Interessen der Allgemeinheit erstreckt, können Einflüsse des Verfahrensausgangs auf individuelle Interessenslagen nur als – die Amtshaftung des belangten Rechtsträgers nicht begründende – Reflexwirkung pflichtgemäßen Verhaltens beurteilt werden. Auf eine Rechtspflicht gerade einem solchen Dritten gegenüber kann daraus noch nicht geschlossen werden (1 Ob 73/16s mwN).

[44] 2.4.2. So kam der Oberste Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Bestimmung über die Anzeigepflicht nach § 84 Abs 1 StPO aF (nunmehr § 78 Abs 1 StPO) nicht den Zweck verfolgt, den Eintritt von nach dem Zeitpunkt der unterlassenen Strafanzeige eintretenden Vermögensschäden zu hindern, weshalb potentiell künftig am Vermögen Geschädigte vom Schutzzweck dieser Bestimmung nicht erfasst sind (1 Ob 163/16a = RS0131321).

[45] Der Fachsenat hat auch bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Bestimmungen über die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens Gläubiger (in concreto einer Bank) nicht davor schützen sollen, dass ihnen aufgrund der unterbliebenen Einleitung eines solchen Verfahrens durch künftige Straftaten der Organe dieser Bank ein Vermögensschaden entsteht. Dass ein solcher Schaden durch die frühere Einleitung eines Ermittlungsverfahrens unter Umständen verhindert werden hätte können, kann als bloße Reflexwirkung pflichtgemäßen Verhaltens keine Amtshaftung begründen (RS0134027).

[46] Schließlich hat auch die Verständigung nach § 194 Abs 1 StPO nicht den Zweck, das Opfer davor zu schützen, dass ihm durch künftige Straftaten des Beschuldigten ein weiterer Vermögensschaden entsteht (1 Ob 20/23g = RS0134435).

[47] 2.4.3. Demgegenüber hat der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 1 Ob 282/00b den Amtshaftungsanspruch eines Angehörigen eines Gewaltopfers grundsätzlich bejaht, soweit die Sicherheitsbehörde zur Weiterleitung einer Anzeige des späteren Opfers an die Staatsanwaltschaft verpflichtet war und dieser Verpflichtung nicht entsprochen hatte, sodass der Staatsanwaltschaft insbesondere die Möglichkeit genommen wurde, einen Haftantrag wegen Ausführungsgefahr gegen den späteren Täter zu stellen. Auch zu 1 Ob 7/89 beurteilte der Senat es zugunsten des Opfers als amtshaftungsbegründend, dass die erhebenden Gendarmeriebeamten dem zuständigen Staatsanwalt gerade jene Tatsachen nicht mitgeteilt hatten, die diesen verpflichtet hätten, den Antrag auf Verhängung der Verwahrungshaft nach § 175 Abs 1 Z 4 StPO aF über die spätere Gewalttäterin zu stellen. In diesem Sinn wurde klargestellt, dass der Haftgrund der Wiederholungsgefahr und Ausführungsgefahr auch den Schutz des Bedrohten bezweckt (1 Ob 7/89 = RS0027722). Die Untersuchungshaft wegen Tatbegehungs- oder Tatausführungsgefahr ist ihrem Wesen nach eine vorbeugende Maßnahme zum Schutz der Allgemeinheit vor weiteren (erheblichen) Straftaten (besonders) gefährlicher Straftäter (Kirchbacher/Rami in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 173 Rz 38 [Stand 1. 4. 2020, rdb.at]; 11 Os 9/14d: keine „Maßnahme zur Sicherung des Verfahrens“). Bestimmungen des Strafverfahrens können daher sehr wohl auch der konkreten Gefahrenabwehr dienen. Soweit der Schutzzweck der Untersuchungshaft die Allgemeinheit erfasst, ist wiederum darauf zu verweisen, dass offenkundig gerade der Schutz jener Personen bezweckt ist, die mit der jeweiligen Gefahrenquelle in Berührung kommen.

[48] 2.4.4. § 100 Abs 2 StPO nennt abschließend vier Konstellationen, in welchen die Kriminalpolizei (siehe § 18 StPO) verpflichtend der Staatsanwaltschaft zu berichten hat (Vogl in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 100 Rz 9 [Stand 1. 5. 2022, rdb.at]). Nach § 100 Abs 2 StPO aF hatte sie der Staatsanwaltschaft schriftlich oder im Wege automationsunterstützter Datenverarbeitung unter anderem zu berichten, „wenn und sobald

(1) sie vom Verdacht eines schwer wiegenden Verbrechens oder einer sonstigen Straftat von besonderem öffentlichen Interesse (§ 101 Abs 2 zweiter Satz) Kenntnis erlangt hatte (Anfallsbericht);

(2) eine Anordnung oder Genehmigung der Staatsanwaltschaft oder eine Entscheidung des Gerichts erforderlich oder zweckmäßig ist oder die Staatsanwaltschaft einen Bericht verlangt (Anlassbericht); […].“

[49] Mit der Novelle BGBl I 2021/159 wurde die Pflicht zur Erstattung eines Anfallsberichts auf den Zeitpunkt des Vorliegens bereits eines Anfangsverdachts vorverlegt (Vogl in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 100 Rz 11 [Stand 1. 5. 2022, rdb.at]). Außerdem wurden die im Zusammenhang mit Terrorismus stehenden Straftaten (Verbrechen nach den §§ 278b bis 278e und 278g StGB) wegen der besonderen Bedeutung der Zielsetzung, dass die Staatsanwaltschaft von Anfang an die Ermittlungen beeinflussen können soll, ausdrücklich im Gesetzestext erwähnt (RV 849 BlgNR 27. GP  16). Insoweit kommt der Novelle allerdings nur klarstellende Funktion zu: Schon zuvor war davon auszugehen, dass schwerwiegende Verbrechen vorliegen, wenn sie mit mehr als fünfjähriger Freiheitsstrafe bedroht sind oder sonst zu schwerem Schaden oder anderen Nachteilen geführt haben (Koller in Schmölzer/Mühlbacher, StPO² [2021] § 100 Rz 8). Ein Verbrechen wiegt schwer, wenn es objektiv besonders wichtige Rechtsgüter verletzt (Vogl in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 100 Rz 12 [Stand 1. 5. 2022, rdb.at]). Das ist – wie gezeigt wurde – bei im Zusammenhang mit Terrorismus stehenden Straftaten der Fall.

[50] In den Fällen des § 100 Abs 2 Z 2 StPO (Anlassbericht) hat die Berichterstattung zu Beginn des Ermittlungsverfahrens zu erfolgen, um dem Staatsanwalt von Anfang an in die Lage zu versetzen, den Gang der Ermittlungen im Hinblick auf das Verfahrensziel zu beeinflussen und das Erforderliche zu veranlassen (Vogl in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 100 Rz 11 [Stand 1. 5. 2022, rdb.at]; RV 25 BlgNR 22. GP  133; JAB 406 BlgNR 22. GP  14). Ein Anlassbericht nach § 100 Abs 2 Z 2 StPO dient der Kriminalpolizei auch zur Abklärung, ob ein Anfangsverdacht vorliegt (§ 100 Abs 3a StPO; Vogl in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 100 Rz 16 [Stand 1. 5. 2022, rdb.at]).

[51] § 100 StPO schafft ein institutionelles Informationssystem, das die Staatsanwaltschaft in die Lage versetzt, die Ermittlungen zu beeinflussen. Die Berichtspflicht der Kriminalpolizei ergänzt deren eigenständige Ermittlungsbefugnis und ermöglicht der Staatsanwaltschaft, ihre Leitungsbefugnis – welche die rechtzeitige und vollständige Kenntnis des Ermittlungsstands voraussetzt – überhaupt erst wahrnehmen zu können (Kirchbacher, StPO15 § 100 Rz 1 [Stand 15. 11. 2023, rdb.at]; RV 25 BlgNR 22. GP  131 f).

[52] 2.4.5. An diesen Ausführungen zeigt sich, dass die Berichtspflicht der Kriminalpolizei der Anzeigepflicht der Behörden und öffentlichen Dienststellen nach § 78 (vormals § 84) StPO nicht gleichgehalten werden kann. § 78 StPO dient vor allem der Durchsetzung des Strafverfolgungsinteresses des Staats und des Offizialprinzips (Schwaighofer in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 78 Rz 1 [Stand: 1. 12. 2020, rdb.at]), während § 100 StPO, auch wenn das Hauptaugenmerk der Berichtspflicht wohl auf dem Ziel liegt, das Ermittlungsverfahren möglichst rasch und effizient zu führen, die Staatsanwaltschaft in wichtigen oder sonst aus dem Rahmen des Üblichen fallenden Fällen auch in die Lage versetzen soll, das Erforderliche zu veranlassen.

[53] Ausgehend von der Rechtsprechung, dass das Unterlassen der Verhängung der Verwahrungshaft (Untersuchungshaft) Amtshaftungsansprüche zur Folge haben kann, wenn die Voraussetzungen vorliegen (RS0049846), muss die Berichtspflicht nach § 100 Abs 2 StPO jedenfalls so verstanden werden, dass damit auch die Verhinderung von Schäden an Individualrechtsgütern von potentiellen Opfern (mit-)bezweckt ist. Das gilt jedenfalls, soweit die Berichtspflicht auch dem – in den Haftgründen des § 173 Abs 2 Z 3 StPO verbürgten – vorbeugenden Schutz der Opfer zum Durchbruch verhelfen soll, weil Staatsanwaltschaft und Gericht die Verhängung der Untersuchungshaft über einen konkreten Täter wegen Tatbegehungs- oder Tatausführungsgefahr nur bei entsprechender Information durch die Sicherheitsbehörden beantragen bzw beschließen können.

[54] Die Berichtspflicht nach § 100 Abs 2 StPO intendiert daher – soweit sie die in § 6 Abs 1 Z 2 PStSG iVm § 22 Abs 2 SPG statuierte Verpflichtung der Sicherheitsbehörden zur Abwehr einer von einem konkreten Täter ausgehenden besonderen Gefahr bei Vorliegen der Haftgründe der Tatbegehungs- oder Tatausführungsgefahr komplettiert – auch die Verhinderung von Schäden an Individualrechtsgütern von potentiellen Opfern von Terrorattentaten durch eine bestimmte Person.

[55] Der Ansicht der Vorinstanzen, es mangle am Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen den Schäden der Klägerin und den von ihr gegenüber den Organen der Beklagten erhobenen Vorwürfen ist daher nicht beizutreten.

3. Direkt aus der EMRK lassen sich jedoch keine Amtshaftungsansprüche der Klägerin ableiten:

[56] 3.1. Der Senat hat zu 1 Ob 199/22d (Punkt 3. mwN) klargestellt, dass Adressat der Schutzpflichten aus Art 2 und Art 8 EMRK – völkerrechtlich betrachtet – der Vertragsstaat der EMRK ist. In dessen Verantwortung fällt die Gewährung effektiven Schutzes des Gesundheits- und Lebensrechts. Innerstaatlich ist Adressat der aus Art 2 und Art 8 EMRK abgeleiteten Pflicht des Staats zum Schutz seiner Bürger vor Gefährdungen ihres Lebens und ihrer Gesundheit im Rahmen einer auf dem Grundsatz der Gewaltenteilung und im Besonderen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art 18 B‑VG) beruhenden Staatsorganisation primär der Gesetzgeber. Die gesetzlichen Schutzvorschriften müssen die Vollziehung in die Lage versetzen, ihren sogenannten sekundären/administrativen Schutzpflichten angemessen nachzukommen. In einem System, in dem das Legalitätsprinzip jegliches Vollziehungshandeln auf das Gesetz verweist, bedeutet das, dass der Gesetzgeber entsprechende Befugnisse für eine effiziente Gefahrenabwehr auch durch die Vollziehung bereitstellen muss.

[57] Ebenso wie sich unmittelbar aus den Grundrechten der EMRK keine Handlungspflichten für die staatliche Vollziehung ableiten lassen, so lässt sich unmittelbar aus grundrechtlichen Schutzpflichten nach der EMRK auch kein subjektiver, im Gerichts- oder Verwaltungsweg direkt durchsetzbarer Anspruch des Einzelnen ableiten. Auch dieser ist auf „gesetzliche Vermittlung“ angewiesen.

[58] 3.2. Diese Grundsätze gelten auch im vorliegenden Fall. Unmittelbar können aus der EMRK keine opferschützenden Handlungspflichten der Vollziehung abgeleitet werden. Das ist aber angesichts der dargestellten Handlungspflichten nach dem PStSG, dem SPG und der StPO auch nicht erforderlich.

4.  Ergebnis

[59] 4.1. Schäden, die der Klägerin durch die Ermordung ihrer Tochter bei dem Terroranschlag vom 2. 11. 2020 durch den konkreten Attentäter entstanden sind, stehen im Rechtswidrigkeitszusammenhang mit einem (allfälligen) Versagen der Organe des Verfassungsschutzes bei Vollzug der Bestimmungen des § 6 Abs 1 Z 2 PStSG, § 22 Abs 2 SPG und § 100 Abs 2 StPO, wenn der Anschlag bei deren pflichtgemäßem Handeln mit überwiegender Wahrscheinlichkeit (RS0022900) verhindert worden wäre.

[60] Dazu – also zu Kausalität, Rechtswidrigkeit und Verschulden – haben die Vorinstanzen ausgehend von ihrer vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht keine Feststellungen getroffen. Aus diesem Grund ist die Aufhebung der Vorentscheidungen und Zurückverweisung in die erste Instanz notwendig.

[61] 4.2. Die diese Entscheidung tragenden Erwägungen können wie folgt zusammengefasst werden:

Die Regelungen zur Abwehr konkreter Gefahren durch Maßnahmen der Sicherheitspolizei und zur Berichterstattung nach § 100 Abs 2 StPO dienen auch dem Schutz von Personen, die aufgrund der Verletzung dieser Pflichten einen Schaden an absolut geschützten Rechten und Rechtsgütern erlitten haben.

[62] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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