OGH 10Ob37/23y

OGH10Ob37/23y16.4.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer, Mag. Schober, Dr. Annerl und Dr. Vollmaier als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J*, Niederlande, vertreten durch die Wijnkamp Advocatuur / Advokatur GmbH in Mils bei Imst, gegen die beklagte Partei I*, vertreten durch Dr. Andreas Kolar, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 19.375 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 22. Juni 2023, GZ 2 R 65/23k‑65, mit dem das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 27. Februar 2023, GZ 40 Cg 83/21y‑55, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0100OB00037.23Y.0416.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.316,40 EUR (darin 219,40 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Am 16. Jänner 2020 kam es in einem Tiroler Skigebiet auf der Piste Nr 21 zu einem Skiunfall zwischen dem Kläger und der Beklagten.

[2] Die Piste Nr 21 führt zur Talstation eines Skilifts. Parallel zu ihr verläuft (jeweils talwärts gesehen) rechts die Piste Nr 18, wobei die Pisten zunächst durch abgezäunte Sonderflächen (Snow-Park etc) getrennt sind. In einem großen Flachstück enden die Sonderflächen sowie die Absperrung zwischen den Pisten und es beginnt ein offener Bereich, in dem die Piste Nr 18 in die Piste Nr 21 einmündet. Um von der Piste Nr 18 zu einer unmittelbar links der Piste Nr 21 gelegenen Skihütte zu gelangen, muss über die Piste Nr 21 entgegen der dortigen Hauptfahrrichtung gefahren werden.

[3] Vor dem Unfall fuhr die Beklagte auf der Piste Nr 21 in Richtung Talstation des Skilifts. Der Kläger fuhr auf der Piste Nr 18 und wollte von dort auf direktem Weg zur Skihütte fahren. Der nähere Unfallhergang war nicht mehr feststellbar, so vor allem die genauen Fahrlinien, mit welcher Geschwindigkeit der Kläger und die Beklagte fuhren, ob und wann sie den Kläger gesehen hat und ob seine Fahrlinie Einfluss auf die Reaktionsmöglichkeiten der Beklagten hatte.

[4] Fest steht nur, dass die Beklagte bei einer Kopfdrehung nach rechts zwar Sicht auf die (von rechts kommende) Piste Nr 18 gehabt hätte. Ob der Kläger von dort nach rechts zur Talstation des Skilifts oder entgegen dem Pistenstrom der Piste Nr 21 zur Skihütte fährt, hätte sie aber – wenn überhaupt – erst erkennen können, als er (sich dem Bereich des Endes der Absperrung zwischen den Pisten annäherte und) sich rund 20 m vor der späteren Unfallstelle befand. Demgegenüber wäre es dem Kläger vor seinem Linksschwung in Richtung der Skihütte problemlos möglich gewesen, das Geschehen auf der Piste Nr 21 und auch die Fahrtrichtung der dort fahrenden Skifahrer frühzeitig zu erkennen.

[5] Das Erstgericht wies die auf Zahlung von 19.375 EUR sA (darin ua 15.000 EUR Schmerzengeld für unfallkausale Schmerzen) sowie auf Feststellung der Haftung der Beklagten für alle Unfallfolgen gerichtete Klage ab.

[6] Das Berufungsgericht gab der (auf Zuspruch der Hälfte des Klagebegehrens gerichteten) Berufung des Klägers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht Folge. In tatsächlicher Hinsicht führte es aus, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Unfallbeteiligten schneller als mit 30 km/h unterwegs gewesen seien. Darauf aufbauend teilte es die Ansicht des Erstgerichts, wonach der Beklagten bloß ein geringes Mitverschulden (minimaler Reaktionsverzug) zur Last liege, das gegenüber der riskanten Fahrlinie des Klägers und seinem groben Aufmerksamkeitsfehler ganz in den Hintergrund trete.

[7] Die Revision ließ das Berufungsgericht nachträglich zu, weil nicht auszuschließen sei, dass es durch die Annahme einer Geschwindigkeit der Beklagten von 30 km/h gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz verstoßen habe.

Rechtliche Beurteilung

[8] Die Revision des Klägers ist entgegen dem Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig, weil darin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung aufgezeigt wird. Ihre Zurückweisung kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO).

[9] 1. Zwar stellt es eine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens dar, wenn das Berufungsgericht ohne Beweiswiederholung von den tatsächlichen Feststellungen des Erstgerichts abgeht (RS0043461; RS0043057) oder ergänzende Feststellungen trifft (RS0043026).

[10] Eine solche Konstellation spricht der Kläger in Wahrheit aber nicht an, weil er gar nicht bestreitet, dass er und die Beklagte mit höchstens 30 km/h gefahren sind. Er wendet sich (nur) dagegen, dass das Berufungsgericht seiner Beurteilung diese und nicht eine andere Geschwindigkeit der Beklagten zugrunde gelegt hat.

[11] 2. Er meint, auf Basis der vom Erstgericht getroffenen Negativfeststellungen wäre es nämlich genauso möglich, dass die Beklagte eine geringere Geschwindigkeit als 30 km/h eingehalten und ihn vor dem Unfall nicht wahrgenommen habe, womit ihr (wegen der größeren Zeitspanne bis zur Kollision) eine nicht mehr nur minimale Reaktionsverspätung sowie ein Beobachtungsfehleranzulasten wären. Die Unaufklärbarkeit dieser Umstände belaste die Beklagte.

[12] 2.1. Diese Argumentation übergeht, dass die Behauptungs- und Beweislast für Tatumstände, aus denen ein die Haftung begründendes Verschulden des Schädigers an der Zufügung eines Schadens abgeleitet wird, denjenigen trifft, der seinen Anspruch darauf stützt. Das ist hier der Kläger, sodass sämtliche in diesem Punkt verbleibenden Unklarheiten zu seinen Lasten gehen (RS0037797 [T27, T45]; RS0022783). Bei der Beurteilung des Verschuldens ist daher jeweils von der für die Beklagte günstigeren Annahme auszugehen (RS0022783 [insb T3, T6, T7]).

[13] 2.2. Wenn das Berufungsgericht der Beurteilung des Verschuldens der Beklagten die für diese vorteilhaftere Variante zugrundelegt, entspricht das den Grundsätzen der ständigen Rechtsprechung.

[14] 3. Auch das dabei erzielte Ergebnis ist letztlich nicht korrekturbedürftig.

[15] 3.1. Die Beurteilung des Verschuldensgrades, des Ausmaßes eines etwaigen Mitverschuldens und der Frage, ob ein geringes Verschulden noch vernachlässigt werden kann, stellen einzelfallbezogene Ermessensentscheidungen dar, die nur dann eine Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO aufwerfen, wenn den Vorinstanzen ein wesentlicher Verstoß gegen maßgebliche Abgrenzungskriterien unterlaufen wäre (RS0087606 [insb T3, T4, T7, T30]; RS0105331 [T5, T6]).

[16] Das ist hier nicht der Fall.

[17] 3.2. Das Berufungsgericht hat zutreffend erkannt, dass in „neuralgischen“ Pistenbereichen die Verpflichtung zur besonderen Vorsicht und Aufmerksamkeit besteht (vgl 1 Ob 16/12b; 5 Ob 11/18f ua; zu Pisteneinmündungen: Pichler, Wer hat Vorrang, wer hat Nachrang beim Skifahren, ZVR 2005, 116 [Pkt 8.]). Entgegen der vom Kläger (zumindest ansatzweise) erhobenen Behauptung ist es auch davon ausgegangen, dass diese Pflicht im Anlassfall beide Streitteile getroffen hat. Bei der Verschuldensabwägung kommt es sodann nicht auf die Anzahl der jeweils verletzten Rechtsnormen an (RS0027466 [T2]). Maßgeblich ist vielmehr die Wahrscheinlichkeit und Größe der durch das schuldhafte Verhalten bewirkten Gefahr und die Wichtigkeit der verletzten Vorschriften (RS0027389; RS0026861) sowie der Grad der Fahrlässigkeit (RS0027466).

[18] 3.3. Hier musste die Beklagte damit rechnen, dass Skifahrer von der Piste Nr 18 in die Piste Nr 21 einfahren. Es ist auch nicht ungewöhnlich, wenn Skifahrer von der Piste zu einer nahe gelegenen Skihütte fahren. Obwohl Überlegungen zur Anwendung einzelner Pistenregeln mangels Feststellungen zum genauen Unfallhergang nicht möglich sind (vgl 7 Ob 195/04h ua), sind diese Umstände für die Beurteilung des (noch feststellbaren) Verhaltens der Beklagten daher durchaus relevant.

[19] Das Berufungsgericht hat aber zu Recht betont, dass – soweit feststellbar – die Fahrlinie des Klägers hochriskant war, weil sie über die ganze Piste Nr 21 bzw durch den Strom der dort in Richtung der Talstation des Skiliftes fahrenden Skifahrer führte. Dazu kommt, dass die Fahrtrichtung des Klägers für die auf der Piste Nr 21 abfahrenden Skifahrer erst erkennbar war, als er hinter der Absperrung zwischen den Pisten hervorgekommen war. In Bezug auf die Beklagte war das erst rund 20 m vor dem Zusammenstoß der Fall, wohingegen der Kläger nach den Feststellungen das Geschehen auf der Piste Nr 21 und dadurch auch etwaige Gefahren frühzeitig erkennen hätte können. Wenn das Berufungsgericht daher davon ausgeht, dass die Beklagte zwar einen Sorgfaltsverstoß zu verantworten habe, dieser gegenüber dem schweren Fehlverhalten des Klägers aber vernachlässigbar sei (vgl RS0027202 [T1, T2, T12]), ist das im Hinblick darauf, dass er das primär unfallauslösende Verhalten gesetzt hat (RS0027466 [T5, T6]), im Einzelfall vertretbar.

[20] 3.4. Die vom Kläger zitierten Entscheidungen zu 1 Ob 59/19m und 7 Ob 198/22a geben keinen Anlass zu einer anderen Beurteilung, weil ihnen mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbare Sachverhalte zugrunde lagen.

[21] 4. Warum neben den FIS- und POE‑Regeln, die ohnedies Ausfluss des allgemeinen Grundsatzes sind, dass sich jeder so verhalten muss, dass er keinen anderen gefährdet (vgl RS0023793; RS0023410 [T2]), noch das Ingerenzprinzip zur Anwendung gelangen soll, legt der Kläger nicht stichhältig dar. Er leitet den Verschuldensvorwurf auch aus keinem anderen Verhalten der Beklagten ab.

[22] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 iVm § 50 Abs 1 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen (RS0112296).

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