OGH 9ObA15/23f

OGH9ObA15/23f26.7.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Wiesinger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Christian Lewol (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in den verbundenen Arbeitsrechtssachen der klagenden Partei H* AG, *, vertreten durch Dr. Günther Klepp, Mag. Dr. Peter Nöbauer und Mag. Franz Hintringer, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei K*, vertreten durch Dr. Yalcin Duran, Rechtsanwalt in Wr. Neustadt, wegen 30.523,38 EUR sA, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 15. Dezember 2022, GZ 9 Ra 62/22m‑108, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:009OBA00015.23F.0726.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Die gerügten Verfahrensmängel wurden geprüft, sie liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

[2] 2. Der echte Arbeitsvertrag unterscheidet sich nach herrschender Lehre und Rechtsprechung vom freien Dienstvertrag durch die persönliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber, das heißt die Unterworfenheit des Arbeitnehmers unter die funktionelle Autorität des Arbeitgebers (RS0021332; RS0021306). Die Rechtsprechung hat in diesem Zusammenhang verschiedene Bestimmungsmerkmale der persönlichen Abhängigkeit erarbeitet, die aber nicht alle gemeinsam vorliegen müssen und in unterschiedlich starker Ausprägung bestehen können. Entscheidend ist, ob bei einer Gesamtbetrachtung nach der Methodik des beweglichen Systems die Merkmale der persönlichen Abhängigkeit ihrem Gewicht und ihrer Bedeutung nach überwiegen (RS0021284 [T20]; RS0021306 [T10]).

[3] Die für das Vorliegen einer persönlichen Abhängigkeit sprechenden Merkmale sind vor allem die Weisungsgebundenheit des zur Arbeitsleistung Verpflichteten, insbesondere hinsichtlich Arbeitszeit, Arbeitsort und arbeitsbezogenem Verhalten, die persönliche Arbeitspflicht des Arbeitnehmers, die Fremdbestimmtheit der Arbeit, deren wirtschaftlicher Erfolg dem Arbeitgeber zukommt, die funktionelle Einbindung der Dienstleistung in ein betriebliches Weisungsgefüge, einschließlich der Kontrollunterworfenheit und die Beistellung des Arbeitsgeräts durch den Dienstgeber (RS0021284). Davon unterscheidet sich der freie Dienstvertrag besonders durch die Möglichkeit, den Ablauf der Arbeit selbst zu gestalten, also ohne Bindung an bestimmte Arbeitszeiten und jene Weisungen, die für den echten Arbeitsvertrag prägend sind, und die selbst gewählte Gestaltung jederzeit wieder zu ändern (RS0021518 [T28]).

[4] Die vertretbare Anwendung dieser Grundsätze der Rechtsprechung auf den konkreten Einzelfall begründet regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage.

[5] 3. Das Berufungsgericht hat bei der Beurteilung der Tätigkeit des Beklagten als der eines arbeitnehmerähnlichen selbständigen Handelsvertreters insbesondere berücksichtigt, dass der Beklagte keiner persönlichen Dienstpflicht unterlag, er selbst bestimmte, ob, wann und wie er tätig wird und er sich durch geschulte Angestellte vertreten lassen bzw auch Verträge mit geeigneten Subagenten abschließen konnte. Ihm seien keine fixen Arbeitszeiten vorgegeben gewesen und habe keine Verpflichtung bestanden, sich Zeiten, in denen er keine Arbeitsleistungen erbringen wollte, durch die Klägerin genehmigen zu lassen. Diese Beurteilung hält sich im Rahmen des eingeräumten Ermessensspielraums.

[6] Wenn die Revision demgegenüber betont, dass die Betriebsmittel zur Gänze von der Klägerin bereitgestellt wurden, diese die Haftpflichtversicherung des Beklagten zahlte und in der E‑Mail‑Adresse des Beklagten auf die Firma der Klägerin Bezug genommen wird, handelt es sich zwar um berücksichtigungswürdige – und vom Berufungsgericht auch berücksichtigte – Einzelaspekte. Diese sind aber eben nicht für sich allein, sondern in einer Gesamtbetrachtung zusammen mit den Feststellungen zum Umfang der persönlichen Abhängigkeit zu beurteilen.

[7] 4. Auf die Ausführungen des Beklagten dazu, ob die rückverrechneten Provisionen akontiert waren, kommt es nicht an, weil das Berufungsgericht diese Frage offen gelassen hat. Es ist – so wie der Beklagte – davon ausgegangen, dass für den Entfall bzw für die Rückforderbarkeit bereits entstandener Provisionen § 9 Abs 3 HVertrG maßgeblich sei und gemäß § 27 Abs 1 HVertrG (ua) die Bestimmungen der § 9 Abs 3 bzw § 26b Abs 2 HVertrG im Voraus durch Vertrag zum Nachteil des Versicherungsvertreters weder aufgehoben noch beschränkt werden könnten. Eine abweichende Vereinbarung im Nachhinein sei jedoch möglich, wobei die Auflösungsvereinbarung der Parteien als solche zu qualifizieren sei.

[8] 5. Ein Vergleich ist die unter beiderseitigem Nachgeben einverständliche neue Festlegung strittiger oder zweifelhafter Rechte (RS0032681).

[9] Die hier zu beurteilende Auflösungsvereinbarung wurde auf Grundlage mehrerer Gespräche über die Modalitäten einer Beendigung des Agenturverhältnisses geschlossen, wobei unterschiedliche Optionen erörtert wurden. Warum die letztlich getroffene Regelung daher nicht als Vergleich zu beurteilen sein soll, lässt sich der Revision nicht entnehmen.

[10] 6. Eine Drohung mit einem Übel, durch dessen an sich erlaubte Zufügung der Drohende seine Interessen wahrt, ist grundsätzlich keine ungerechte. Eine Widerrechtlichkeit der Drohung wäre dann gegeben, wenn durch die Zufügung eines an sich erlaubten Mittels nicht die eigenen Interessen gewahrt werden, sondern in Wahrheit bloß mit einem Übel gedroht wird, um den anderen Teil in seinen Interessen zu verletzen (9 ObA 158/08p mwN).

[11] Dass die Klägerin in den über einen längeren Zeitraum geführten Gesprächen über die rechtlichen Rahmenbedingungen einer Trennung sowohl die Möglichkeit einer (ihr grundsätzlich jederzeit möglichen) Kündigung des Agenturvertrags als auch die einer einvernehmlichen Auflösung, bei der der Beklagte den Kundenstock unter aliquoter Rückverrechnung von Provisionen mitnehmen konnte, thematisierte, stellt letztlich nur die Verhandlungsposition der Klägerin dar. Auch gegen die Beurteilung der Vorinstanzen, dass sich der Beklagte dadurch bei Abschluss der Auflösungsvereinbarung in keiner ungerechtfertigten Drucksituation befand, bestehen daher keine Bedenken.

[12] 7. Die Rechtsprechung hat bereits dazu Stellung genommen, dass auch über strittige Ansprüche nach dem HVertrG wirksam Vergleiche geschlossen werden können (8 ObA 41/13g). Bei Beendigungsstreitigkeiten kann sich der Handelsvertreter auch über solche Ansprüche wirksam vergleichen, die sonst unverzichtbar wären, sofern die Einbuße bestimmter Rechtsstellungen durch andere Vorteile, insbesondere durch die Klärung einer strittigen Sachlage und Rechtslage, aufgewogen wird (RS0028337 [T10]).

[13] Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass die letztlich getroffene Vereinbarung für den Beklagten sowohl Vor- als auch Nachteile beinhaltete. Auch diesbezüglich wird in der Revision keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung aufgezeigt. Dass die Möglichkeit, den vermittelten Kundenstock (der Beklagte geht selbst von 2.582 Verträgen aus) zu einer anderen Versicherung zu transferieren und dort entsprechende Provisionen zu lukrieren, für den Beklagten Vorteile mit sich brachte, ist nicht zu bezweifeln. Daran ändert auch nichts, dass damit ein gewisser Aufwand verbunden war und auch nicht alle Kunden einem Transfer zustimmten, war doch die Alternative eine Kündigung des Agenturvertrags durch die Klägerin und der Verlust des Kundenstocks.

[14] 8. Damit stellt sich aber die Frage, ob die Beendigung von Versicherungsverträgen auf Grundlage dieser Transferierungsvereinbarung „von der Klägerin zu vertreten“ ist, nicht, da dem vereinbarten (im Verhältnis zur Versicherungsdauer) aliquoten Entfall von Provisionen beachtenswerte Vorteile für den Beklagten gegenüberstehen.

[15] 9. Soweit der Beklagte sich auf Art 11 der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (Handelsvertreterrichtlinie) und einen Widerspruch der Vereinbarung zu dieser Bestimmung beruft, übersieht er, dass diese Richtlinie nach der Definition des Begriffs „Handelsvertreter“ in ihrem Art 1 Abs 2 nur auf Handelsvertreter anwendbar ist, die ständig damit betraut sind, den Verkauf oder den Ankauf von Waren zu vermitteln oder diese Geschäfte abzuschließen. Unabhängige Vermittler, die mit der Vermittlung von Versicherungs-, Rentenversicherungs- oder Sparverträgen betraut sind, fallen nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie (EuGH C‑449/01 , Abbey Life Assurance Co. Ltd./Kok Theam Yeap).

[16] Auch in der vom Beklagten zitierten Entscheidung vom 17. 5. 2017, C‑48/16 (ERGO Poist’ovňa a.s./Alžbeta Barlíková, ECLI:EU:C:2017:377) wiederholt der EuGH, dass ein Handelsvertreter, dessen Tätigkeit in der Vermittlung und dem Abschluss von Versicherungsverträgen besteht, nicht unter die Definition gemäß Art 1 Abs 2 der Richtlinie fällt. Dessen ungeachtet bejahte er seine Zuständigkeit für die Entscheidung des Vorabentscheidungs-ersuchens des slowakischen Gerichts, weil dann, wenn sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richten sollen, ein klares Interesse daran besteht, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern (Rn 28 f).

[17] Da die §§ 26b bis 26d HVertrG aber für die Vermittlung und den Abschluss von Versicherungsverträgen durch Versicherungsvertreter (Versicherungsagenten) nach § 26a HVertrG abweichende Regelungen enthalten, ist eine richtlinienkonforme Auslegung nicht geboten.

[18] 10. Ob ein Vertrag im Einzelfall richtig ausgelegt wurde, stellt nur dann eine erhebliche Rechtsfrage dar, wenn infolge einer Verkennung der Rechtslage ein unvertretbares Auslegungsergebnis erzielt wurde (RS0044358; RS0042936; RS0112106). Auch die Ermittlung des Inhalts einer Willenserklärung im Wege der Auslegung stellt eine typische Einzelfallbeurteilung dar (vgl RS0042555).

[19] Die Auslegung der Vorinstanzen, dass der in der Vereinbarung der Parteien enthaltene Vorbehalt „Diese Zusage gilt, solange (…) eingehalten wird“, nicht auf den gesamten Inhalt der Auflösungsvereinbarung bezogen war, ist nicht korrekturbedürftig. Der Beklagte konnte diese Formulierung nicht dahin verstehen, dass dann, wenn er von ihm in dieser Vereinbarung übernommene Verpflichtungen nicht einhält, der gesamte Agenturvertrag entgegen dem erklärten Anliegen der Klägerin wieder auflebt. Damit ergibt sich aber, dass die Klägerin sich durch diese Formulierung offen halten wollte, die dem Beklagten in der Vereinbarung gewährten Vergünstigungen von seiner Vertragstreue abhängig zu machen. In diesem Sinn haben die Vorinstanzen auch die „Rücktrittserklärung“ der Klägerin verstanden.

[20] 11. Die außerordentliche Revision des Beklagten ist daher mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Zurückweisungsbeschluss nicht (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).

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