European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00126.22K.0117.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Revisionsgegenständlich ist die Frage, ob die Klägerin, die noch eine einzige Verweisungstätigkeit ausüben kann und entsprechende Arbeitsplätze von ihrem (entlegenen) Wohnort mangels Existenz eines behindertengerechten öffentlichen Verkehrsmittels nicht erreichen kann, als invalid iSd § 255 Abs 3 ASVG anzusehen ist.
[2] Die * 1967 geborene Klägerin war bis Jänner 2019 als Reinigungskraft tätig. Seit Februar 2020 ist sie arbeitslos. Sie hat insgesamt 52 Beitragsmonate überwiegend als Reinigungskraft erworben.
[3] Aufgrund einer Unterschenkelamputation rechts im Jänner 2019 waren der Klägerin seit der Antragstellung bis zur Anpassung der neuen Prothese Arbeiten ausschließlich im Rollstuhl und sind nach Anpassung der neuen Prothese fast ausschließlich im Sitzen im Rollstuhl möglich, wobei die Möglichkeit einer fünfminütigen Ausgleichsbewegung (Gehen oder Stehen) gegeben sein muss und weitere (näher festgestellte) Einschränkungen bestehen. Mit der verbliebenen Leistungsfähigkeit kann die Klägerin nur noch einer Teilzeitbeschäftigung als Telefonistin im Ausmaß von 25 Stunden pro Woche und fünf Stunden täglich nachgehen. Ein öffentliches Verkehrsmittel kann benützt werden. Mit dem Rollstuhl kann ein Arbeitsweg von 500 m zurückgelegt werden. Ein Tages- oder Wochenpendeln, nicht aber eine Wohnsitzverlegung sind möglich.
[4] Eine Verbesserung des Leistungskalküls kann auch unter Berücksichtigung von Maßnahmen der Krankenbehandlung und Rehabilitation ausgeschlossen werden.
[5] Am bundesweiten Arbeitsmarkt existieren ausreichend Arbeitsplätze als Telefonistin, die mit dem Leistungskalkül der Klägerin vereinbar sind. Die Klägerin lebt in einer typischen Pendlergemeinde. Ausgehend vom Wohnort der Klägerin existiert kein Arbeitsmarkt von zumindest 30, auch nicht 15 Arbeitsstellen, die nicht kalkülsüberschreitend sind, und auch kein behindertengerechtes öffentliches Verkehrsmittel, das den Arbeitsweg zu einer Arbeitsstelle ermöglichen könnte.
[6] Die Klägerin besitzt den Führerschein, verfügt aber nicht über ein eigenes behindertengerechtes Fahrzeug. Mit einem eigenen Fahrzeug könnte die Klägerin große Teile des oberösterreichischen Zentralraumes erreichen. Es existieren in dieser Region jedenfalls zumindest 30 Arbeitsplätze als Telefonistin, die mit ihrem Leistungskalkül vereinbar sind. Die Klägerin kann bei Aufnahme dieser Verweisungstätigkeit jedenfalls mehr als die Hälfte des Einkommens einer gesunden Person erzielen.
[7] Mit Bescheidvom 16. Juli 2020 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 16. Dezember 2019 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab.
[8] Dagegen richtet sich die Klage der Klägerin mit dem Begehren, die Beklagte schuldig zu erkennen, ihr ab 1. Jänner 2020 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu zahlen, hilfsweise festzustellen, dass vorübergehende Invalidität im Ausmaß von zumindest sechs Monaten vorliege und Anspruch auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation und Anspruch auf Rehabilitationsgeld bestehe.
[9] Die Beklagte bestritt und beantragte Klagsabweisung.
[10] Das Erstgericht wies die Klagebegehren ab. Es stellte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt fest und folgerte rechtlich, dass die Klägerin nicht iSd § 255 Abs 3 ASVG invalid sei, weil sie noch die Tätigkeit als Telefonistin ausüben und mehr als die Hälfte des Einkommens einer gesunden Person erzielen könne. In Auspendlergemeinden komme es nicht darauf an, ob der Pensionswerber tatsächlich über ein eigenes Fahrzeug verfüge, zumal dadurch eine Ungleichbehandlung zu den anderen Pensionswerbern, die durch Pendeln der Arbeit nachgingen, entstehen würde. Außerdem sei eine abstrakte Prüfung der Verweisbarkeit vorzunehmen und nicht auf die individuelle Situation des Fuhrparks des Pensionswerbers abzustellen, weshalb die Klägerin nach wie vor auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sei.
[11] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Der Klägerin sei die Verlegung ihres Wohnsitzes aus medizinischen Gründen nicht möglich, ein Wochenpendeln sei ihr aber zumutbar. Insofern sei bei der Prüfung der geminderten Arbeitsfähigkeit der Wohnort nicht entscheidend. Dass der Klägerin an ihrem konkreten Wohnort faktisch kein behindertengerechtes öffentliches Verkehrsmittel zur Verfügung stehe, spiele in diesem Zusammenhang keine Rolle. Auch die (von der rein abstrakten Prüfung abweichende) Zumutbarkeitsprüfung führe zu keinem positiven Ergebnis für die Klägerin. Ob zur Erreichung eines entsprechenden Arbeitsplatzes ein Wochenpendeln zumutbar sei, sei nach den Besonderheiten des Einzelfalls zu beurteilen. Somit sei von einem ausreichenden bundesweiten (Teilzeit-)Arbeitsmarkt von zumindest 100 Arbeitsplätzen für die Verweisungstätigkeit als Telefonistin auszugehen, sodass Invalidität nicht vorliege.
[12] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revisionder Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung im zur Gänze klagsabweisenden Sinn; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[13] Die Beklagte hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
[14] Die Revision ist zulässigund im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.
[15] 1. Die Revision thematisiert ausschließlich die Frage, ob die Klägerin als invalid iSd § 255 Abs 3 ASVG anzusehen ist, sodass nur diese Frage zu prüfen ist.
[16] 2.1. Grundsätzlich kommt es nach der Rechtsprechung für die Beurteilung der Minderung der Arbeitsfähigkeit nicht auf die Verhältnisse am Wohnort der versicherten Person an, sondern auf die Verhältnisse am allgemeinen Arbeitsmarkt, weil die versicherte Person sonst durch die Wahl des Wohnorts die Voraussetzungen für die Gewährung der Pension beeinflussen könnte (10 ObS 107/22s; 10 ObS 47/18m SSV‑NF 32/40). Auch die Lage des Wohnorts des Versicherten hat daher als persönlicher Moment bei der Beurteilung der geminderten Arbeitsfähigkeit grundsätzlich außer Betracht zu bleiben (RS0085017; RS0084871).
[17] 2.2. Dahinter steht die Überlegung, dass von einem Versicherten grundsätzlich zu verlangen ist, dass er– sofern nicht medizinische Gründe dem entgegenstehen – durch entsprechende Wahl seines Wohnorts, allenfalls Wochenpendeln, die Bedingungen für die Erreichung des Arbeitsplatzes herstellt, die für Arbeitnehmer im Allgemeinen gegeben sind (RS0084939; RS0085017 [T7]; RS0084871 [T4]).
[18] 2.2.1. Da eine Wohnsitzverlegung für die Klägerin nach dem festgestellten Sachverhalt aus medizinischen Gründen ausgeschlossen ist, kann eine solche von ihr jedenfalls nicht verlangt werden. Es stellt sich aber die Frage, ob von der Klägerin, der grundsätzlich die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel möglich ist, gefordert werden kann, die Erreichbarkeit verfügbarer Arbeitsplätze durch Wochenpendeln herzustellen, obwohl ausgehend von ihrem konkreten Wohnort ein behindertengerechtes öffentliches Verkehrsmittel nicht existiert.
[19] 2.2.2. Zwar wird ein Versicherter wegen einer Gehbehinderung solange nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, als er ohne wesentliche Einschränkung ein öffentliches Verkehrsmittel benützen (und die dazu erforderlichen Arbeitswege zurücklegen) kann (RS0085049; zur insofern ausreichenden Vorsorge für Behinderte vgl 10 ObS 301/88 SSV‑NF 3/10). Dies ist nach den oben wiedergegebenen Grundsätzen (Punkt 2.1.) abstrakt und somit unabhängig vom konkreten Wohnort (oder von konkret verfügbaren öffentlichen Verkehrsmitteln) zu prüfen.
[20] 2.2.3. Dies schließt jedoch im Einzelfall nicht aus, dass eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln aus individuellen Umständen nicht zumutbar sein können (vgl 10 ObS 107/22s; 10 ObS 168/13y SSV‑NF 27/81; 10 ObS 72/10a SSV‑NF 24/41 zur Berücksichtigung des erzielbaren Entgelts bei Verweisung auf Teilzeitarbeitsplätze). Insoweit kommt es auf die Besonderheiten des Einzelfalls an.
[21] 2.2.4. Dieses Zumutbarkeitskriterium findet sich in § 255 Abs 3 ASVG, wonach ein Versicherter, der nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig war, als invalid gilt, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Die – von der rein abstrakten Prüfung abweichende – Zumutbarkeitsprüfung im Einzelfall stellt ein Korrektiv dar, das in Ausnahmefällen (vgl RS0084991) eine Berücksichtigung verschiedener vom gesundheitlichen Befinden unabhängiger Umstände erlaubt und einen unzumutbaren Einkommensverlust verhindern soll (10 ObS 107/22s; 10 ObS 128/20a; 10 ObS 168/13y SSV‑NF 27/81; 10 ObS 72/10a SSV‑NF 24/41).
[22] 2.3. Die dargestellte Zumutbarkeitsprüfung ergibt im vorliegenden Fall, dass der Klägerin ein Wochenpendeln nicht zuzumuten ist. Die Herstellung der Bedingungen für die Erreichung eines Arbeitsplatzes, die für Arbeitnehmer im Allgemeinen gegeben sind, ist der Klägerin schlicht nicht möglich, weil sie die öffentlichen Verkehrsmittel, die sie für ein Wochenpendeln heranziehen könnte, aus medizinischen Gründen nicht benutzen kann. Wie die Klägerin in dieser Situation ein Wochenpendeln mit öffentlichen Verkehrsmitteln in zumutbarer Weise realisieren soll, lässt sich auch dem Vorbringen der Beklagten nicht entnehmen.
[23] 2.4. Der vorliegende Fall ist daher jenen gleichzuhalten, in denen Wohnsitzverlegung und Wochenpendeln gleichermaßen unmöglich sind. Dann ist auf eine entsprechende Zahl von im Umkreis der möglichen Gehstrecke – allenfalls erweitert um benützbare Massenverkehrsmittel – erreichbaren adäquaten Arbeitsplätzen abzustellen (vgl RS0084994). Da benützbare Massenverkehrsmittel der Klägerin nach den getroffenen Feststellungen nicht zur Verfügung stehen und ausgehend vom Wohnort auch keine ausreichende Anzahl an Arbeitsstellen als Telefonistin zur Verfügung stehen, wäre die Klägerin dementsprechend als nicht verweisbar anzusehen.
[24] 3. Die Rechtssache ist allerdings nicht im Sinn einer Stattgebung der Klage spruchreif, weil sich dem festgestellten Sachverhalt nicht die dafür erforderlichen Tatsachen entnehmen lassen.
[25] 3.1.1. Grundsätzlich ist ein Versicherter, der nicht in der Lage ist ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen, nicht verpflichtet, den Weg zum Arbeitsplatz mit dem eigenen Kraftfahrzeug zurückzulegen (RS0085083). Ist hingegen der Wohnort des Versicherten abgelegen und daher durch öffentliche Verkehrsmittel kaum oder nur schlecht erschlossen, sodass die Wege zum und vom Arbeitsplatz bzw zum und vom nächsten öffentlichen Verkehrsmittel üblicherweise mit dem privaten Fahrzeug zurückgelegt werden, ist auch zu berücksichtigen, ob der Versicherte die Wege zwischen seiner Wohnung und der Arbeitsstätte, gegebenenfalls zur Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels, in zumutbarer Weise mit einem privaten Fahrzeug zurücklegen kann (RS0085083 [T1]; RS0084907).
[26] 3.1.2. Die Klägerin lebt nach dem festgestellten Sachverhalt in einer typischen Pendlergemeinde. Die Wege zum oder vom Arbeitsplatz bzw zum oder vom nächsten öffentlichen Verkehrsmittel werden somit üblicherweise mit dem privaten Fahrzeug zurückgelegt, weswegen die Klägerin verpflichtet ist, ein ihr zur Verfügung stehendes Kraftfahrzeug zu benützen, um adäquate Arbeitsplätze zu erreichen.
[27] 3.1.3. Die Klägerin stützte sich bereits in erster Instanz darauf, dass sie nicht über ein eigenes Fahrzeug verfüge und ihr auch kein Fahrzeug zur Nutzung zur Verfügung stehe, sowie darauf, dass ihr die Anschaffung eines solchen auch nicht zumutbar sei (ON 26 Seite 2 [Punkte 1. und 2.]). Die Beklagte bestritt, gestand aber zu, dass die Klägerin über kein eigenes Fahrzeug verfüge (ON 27 Seite 1). Den getroffenen Feststellungen ist dazu nur zu entnehmen, dass die Klägerin nicht über ein eigenes behindertengerechtes Fahrzeug verfügt, sodass die Frage, ob sie zur Erreichung adäquater Arbeitsplätze ein (etwa im Familienverband vorhandenes und ihr tatsächlich überlassenes) Fahrzeug nutzen könnte, daraus nicht abschließend beantwortet werden kann.
[28] 3.1.4. Es liegt daher ein sekundärer Feststellungsmangel vor, der qualitativ der Rechtsrüge zuzuordnen ist (RS0043304 [T6]) und aufgrund der gesetzmäßig ausgeführten Rechtsrüge von Amts wegen aufgegriffen werden muss (RS0043304 [T4]).
[29] 3.2.1. Die von der Beklagten außerdem geforderte Anschaffung eines Kraftfahrzeugs für die Erreichung des Arbeitsplatzes wird einem Pensionswerber hingegen in der Rechtsprechung nur dann zugemutet, wenn die Anschaffungskosten zur Gänze oder fast zur Gänze von einem Sozialversicherungsträger übernommen werden (10 ObS 110/21f; 10 ObS 121/09f SSV‑NF 23/62). Eine dahingehende Hilfestellung (vgl 10 ObS 49/04k SSV‑NF 18/80) hat die Beklagte der Klägerin im Verfahren nicht angeboten. Es bleibt im vorliegenden Fall daher bei der generellen Regel, dass der Klägerin die Anschaffung eines Kraftfahrzeuges für die Erreichung möglicher Arbeitsplätze nicht zuzumuten ist.
[30] 4.1. Der Klägerin ist eine Verlegung des Wohnsitzes nicht möglich und von ihr ist auch ein Wochenpendeln nicht zu verlangen. Die in der Revision weiters aufgeworfene Frage, ob der Klägerin Wohnsitzverlegung oder Wochenpendeln im Hinblick auf das durch die mögliche Teilzeitbeschäftigung erzielbare Entgelt nicht zumutbar ist, stellt sich bei dieser Sachlage nicht. Zur abschließenden Prüfung der Invalidität iSd § 255 Abs 3 ASVG sind allerdings noch Feststellungen zur Frage der Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen mit einem privaten Kraftfahrzeug erforderlich, was zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und Zurückverweisung der Sozialrechtssache an das Erstgericht zwingt.
[31] 4.2. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht zu prüfen und Feststellungen darüber zu treffen haben, ob der Klägerin, der Tagespendeln an sich medizinisch möglich wäre, für die an jedem Arbeitstag zurückzulegenden Strecken ein ihren gesundheitlichen Einschränkungen entsprechendes (wenn auch nicht eigenes) Kraftfahrzeug tatsächlich zur Verfügung steht (s 10 ObS 145/14t SSV‑NF 28/77 [Pkt 2.6]; 10 ObS 121/09f SSV‑NF 23/62).
[32] 4.3. Sollte sich danach ergeben, dass die Klägerin als invalid iSd § 255 Abs 3 ASVG anzusehen ist und ihr eine Invaliditätspension zusteht, wäre auch das Vorbringen der Beklagten in der Klagebeantwortung zu beachten, wonach die Klägerin ihre Erwerbstätigkeit zum Stichtag nicht aufgegeben habe (ON 3 Seite 2), und die zur Beurteilung des Pensionsanfalls (§ 86 Abs 3 Z 2 ASVG) nötigen Feststellungen zu treffen.
[33] 5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
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