OGH 10ObS110/21f

OGH10ObS110/21f16.11.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Herbert Böhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei R*, vertreten durch Mag. German Storch und Mag. Rainer Storch, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 15. Juni 2021, GZ 11 Rs 39/21 s‑17, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00110.21F.1116.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der 1970 geborene Kläger ist trotz seiner leidensbedingten Einschränkungen noch in der Lage, leichte Arbeiten mit (vom Erstgericht im Einzelnen festgestellten) Einschränkungen auszuüben. Daraus ist hervorzuheben, dass dem Kläger eine Arbeitsbelastung von maximal 6 Stunden pro Tag bzw 30 Stunden pro Woche möglich ist. Ausgeschlossen sind ein Wohnsitzwechsel und ein Wochenpendeln. Der Kläger genießt keinen Berufsschutz und ist noch in der Lage, zahlreichen (vom Erstgericht festgestellten) Verweisungstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen, hinsichtlich deren bundesweit ein Arbeitsmarkt von mehr als 100 freien oder besetzten Stellen besteht.

[2] Der Kläger lebt in einer typischen Pendlergemeinde, aus der mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen auspendeln, wovon der überwiegende Teil ein eigenes Fahrzeug benützt. Mit einem öffentlichen Verkehrsmittel kann der Kläger im Radius einer Tagespendlerdistanz von einer Stunde in einer Richtung keinen Arbeitsmarkt von mindestens 30 oder auch von bloß 15 Arbeitsplätzen in den Verweisungstätigkeiten erreichen. Der Kläger besitzt kein eigenes Kraftfahrzeug. Hätte er ein solches, könnte er in einer Stunde Fahrzeit den Großraum Linz erreichen und damit einen regionalen Arbeitsmarkt von mindestens 30 freien oder besetzten Arbeitsplätzen in den Verweisungstätigkeiten.

[3] Mit Bescheid vom 8. 4. 2020 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt ua die Gewährung einer Invaliditätspension ab.

[4] Die Vorinstanzen wiesen das Begehren des Klägers auf Zuerkennung einer Invaliditätspension ab 1. 1. 2020 ab.

Rechtliche Beurteilung

[5] In seiner dagegen erhobenen außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf:

[6] 1.1 Die Minderung der Arbeitsfähigkeit wird im Anwendungsbereich des § 255 Abs 3 ASVG grundsätzlich nicht konkret, sondern abstrakt ermittelt (10 ObS 2455/96v SSV‑NF 11/6). Persönliche Umstände, wie beispielsweise die Sprache, aber auch die persönlichen Einkommens‑ und Vermögensverhältnisse, die Krankenversicherung oder die persönlichen familiären Verhältnisse sind bei der Prüfung der Invalidität bzw der geminderten Arbeitsfähigkeit nicht zu berücksichtigen (RS0107503; RS0084939 [T9]; 10 ObS 54/16p SSV‑NF 30/38 = DRdA 2017/8, 58 [Ivansits]; dazu auch Födermayr, Grundsatz der abstrakten Prüfung der Voraussetzungen für die Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit, JAS 2017, 285).

[7] 1.2 Grundsätzlich kommt es daher für die Beurteilung der Minderung der Arbeitsfähigkeit auch nicht auf die Verhältnisse am Wohnort der versicherten Person an, sondern auf die Verhältnisse am allgemeinen Arbeitsmarkt, weil die versicherte Person sonst durch die Wahl des Wohnorts die Voraussetzungen für die Gewährung der Pension beeinflussen könnte (10 ObS 47/18m SSV‑NF 32/40). Auch ein abgelegener Wohnort des Versicherten hat daher als persönliches Moment bei der Beurteilung der geminderten Arbeitsfähigkeit grundsätzlich außer Betracht zu bleiben (10 ObS 28/18t SSV‑NF 32/30 = DRdA 2019/17, 159 [Weissensteiner] = ZAS 2019/40, 222 [R. Müller]).

[8] 2.1 Ist allerdings ein Versicherter wie der Kläger aus medizinischen Gründen nicht mehr in der Lage, den Wohnort zu wechseln, ist die konkrete Situation am Wohnort zur Beurteilung der Frage, ob Invalidität vorliegt, zu beachten (Födermayr in SV‑Komm [252. Lfg] § 255 ASVG Rz 62). Im vorliegenden Fall ist – worauf die Vorinstanzen Bedacht genommen haben – nach der Rechtsprechung maßgeblich, dass es in einer Pendlergemeinde wie jener, in der der Kläger lebt, üblich ist, mit dem privaten Kraftfahrzeug zur nächsten Haltestelle oder zum Arbeitsplatz zu gelangen (10 ObS 145/14t SSV‑NF 28/77; 10 ObS 28/18t). Das Argument, dass der Versicherte die Kosten der Verwendung des eigenen Kraftfahrzeugs nicht tragen muss, die erheblich über denen der Mehrheit der Versicherten liegen, die den Arbeitsplatz mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen können, kommt in solchen Fällen nicht zum Tragen (10 ObS 28/18t SSV‑NF 32/30; 10 ObS 42/18a SSV‑NF 32/44).

[9] 2.2 Der Kläger bestreitet nicht, dass er medizinisch in der Lage ist, mit einem Kraftfahrzeug einen ausreichenden regionalen Arbeitsmarkt zu erreichen. Er macht geltend, dass er – zumindest zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz – kein Kraftfahrzeug besessen habe und dessen Vorhandensein nicht fingiert werden dürfe. Die Veräußerung seines Kraftfahrzeugs nach Stellung des Antrags auf Gewährung einer Invaliditätspension sei unschädlich; eine andere Ansicht wäre ein nicht tolerierbarer Eingriff in die Privatautonomie des Klägers. Die Anschaffung eines (neuen) Kraftfahrzeugs sei ihm nicht zumutbar, allenfalls wären die Kosten von der Beklagten zu tragen.

[10] 2.3 Richtig ist, dass die Anschaffung eines Kraftfahrzeugs für die Erreichung des Arbeitsplatzes einem Pensionswerber in der Regel nur dann zugemutet werden kann, wenn die Anschaffungskosten zur Gänze oder fast zur Gänze von einem Sozialversicherungsträger übernommen werden (10 ObS 121/09f SSV‑NF 23/62). Einer abschließenden Auseinandersetzung mit der Frage, ob dieses Kostenargument auch hier anwendbar ist (vgl dazu bereits 10 ObS 28/18t und 10 ObS 42/18a), bedarf es aus folgenden Gründen nicht: Denn ebenso, wie im Rahmen der abstrakten Prüfung der Versicherte, dem dies medizinisch möglich ist, grundsätzlich verpflichtet ist zu übersiedeln, um einen Arbeitsplatz zu erreichen (RS0084939 [T1]), ist er nach der Rechtsprechung verpflichtet, ein ihm zur Verfügung stehendes Kraftfahrzeug zu verwenden, um einen Arbeitsplatz zu erreichen (10 ObS 121/09f SSV‑NF 23/62 mwH). Persönliche Umstände dürfen für die Frage der Beurteilung der Invalidität zwar nicht zu Lasten, aber auch nicht zu Gunsten der versicherten Person herangezogen werden (10 ObS 54/16p SSV‑NF 30/38). Der Kläger verkaufte sein Kraftfahrzeug (Kaufvertrag: 23. 4. 2020), nachdem er den Antrag auf Gewährung der Invaliditätspension gestellt hatte (am 19. 12. 2019). Am Stichtag, dem 1. 1. 2020, stand es ihm zur Verfügung. Dass der Kläger das Kraftfahrzeug aus medizinischen Gründen verkaufen hätte müssen oder nicht verwenden hätte können, hat er weder behauptet, noch ergibt sich dies aus den Feststellungen. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass es sich dabei um einen persönlichen Umstand handelt, der nicht zu Gunsten des Klägers ausschlaggebend sein kann, ist nach den maßgeblichen Umständen des Einzelfalls nicht korrekturbedürftig.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte