OGH 9ObA77/22x

OGH9ObA77/22x24.11.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Fichtenau als Vorsitzende und die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Univ.‑Prof. DI Hans Lechner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Andreas Schlitzer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei T*, vertreten durch FREIMÜLLER/OBEREDER/PILZ Rechtsanwält_innen GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei O* GmbH, *, vertreten durch CMS Reich-Rohrwig Hainz Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 6.000 EUR brutto sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. März 2022, GZ 7 Ra 93/21d‑11, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 13. Jänner 2021, GZ 11 Cga 122/20w‑7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:009OBA00077.22X.1124.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung unter Einschluss der in Rechtskraft erwachsenen Teilabweisung des Zinsenbegehrens insgesamt zu lauten hat:

„1. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 6.000 EUR brutto samt 8,58 % Zinsen seit 12. 3. 2019 zu zahlen, wird abgewiesen.

2. Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 840,79 EUR bestimmten Kosten des Verfahrens (darin enthalten 140,13 EUR USt und 4,80 EUR Barauslagen) binnen 14 Tagen zu ersetzen.“

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.521,41 EUR (darin 152,09 EUR USt und 609 EUR Pauschalgebühr) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 1.388,52 EUR (darin 104,42 EUR USt und 762 EUR Pauschalgebühr) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Klägerin bringt vor, bei der beklagten Partei als Schauspielerin (als Musicaldarstellerin in der Produktion *) in einem Gast-Bühnendienstverhältnis nach § 41 Theaterarbeitsgesetz (TAG) beschäftigt gewesen zu sein. Das vom 22. 8. 2019 bis 19. 5. 2020 befristete Gast-Bühnendienstverhältnis sei von der beklagten Partei termin- und fristwidrig am 11. 3. 2020 beendet worden.

[2] Außer Streit steht, dass auf das Arbeitsverhältnis überdies der Kollektivvertrag für den Theatererhalterverband zur Anwendung gelangt und ein Probenhonorar in Höhe von 3.000 EUR brutto sowie ein Vorstellungshonorar in Höhe von 1.000 EUR brutto pro Vorstellung vereinbart war.

Der zwischen den Streitteilen abgeschlossene Gastbühnenvertrag lautet auszugsweise:

„4.2 Generell werden nur tatsächlich wahrgenommene Vorstellungen honoriert.

4.3 Bei Absage der Vorstellung durch die [Beklagte] wegen Krankheit im Ensemble der Produktion * oder auch bei Vorliegen von höherer Gewalt nach Anreise des Gastes in * besteht nur ein Anspruch auf tatsächlich aufgewendete Kosten durch den Gast (zB Reisekosten).“

[3] Zwischen 26. 3. 2020 und 19.5. 2020 entfielen sechs bereits konkret vereinbarte Vorstellungstermine (und zwar die Vorstellungen vom 26. 3. 2020, 6. 5. 2020, 7. 5. 2020, 8. 5. 2020, 15. 5. 2020 und vom 19. 5. 2020). Diese Vorstellungstermine wurden aufgrund eines im COVID‑19‑Maßnahmengesetz, BGBl I 2020/12 (COVID‑19‑MG) begründeten Betretungsverbots wegen der COVID‑19‑Pandemie abgesagt.

[4] Die Klägerin begehrt die Zahlung des Vorstellungsentgelts von 6.000 EUR brutto sA (je 1.000 EUR für die sechs abgesagten Vorstellungen) (ausdrücklich) als Kündigungsentschädigung. Weiters begehrt sie 8,58 % Zinsen seit 12. 3. 2019. Sie bringt im Wesentlichen vor, mit § 1155 Abs 3 ABGB sei klargestellt, dass die Maßnahmen nach dem COVID‑19‑MG – somit auch Betretungsverbote – nicht als „höhere Gewalt“ zu qualifizieren seien, sondern als Umstände, die auf Seiten des Arbeitgebers liegen. § 1155 Abs 3 ABGB sei zwingend. Abgesehen davon sei ein gänzlicher Ausschluss des § 1155 ABGB sittenwidrig.

[5] Die Beklagtewendete – soweit für das Revisionsverfahren wesentlich – ein, dass die Klägerin auf Vorstellungshonorare für die durch den coronabedingten Lockdown entfallenen Vorstellungen keinen Rechtsanspruch habe, insbesondere nicht in Form einer „Kündigungsentschädigung“. Eine Beendigungs‑ bzw Rücktrittserklärung seitens der Beklagten habe es nicht gegeben. Im Gastbühnenvertrag sei die Verpflichtung zur Entgeltzahlung in Fällen höherer Gewalt wirksam abbedungen worden. Der Parteiwille sei klar darauf gerichtet gewesen, dass bei Vorliegen von höherer Gewalt kein Honoraranspruch bestehe. Gehe der Arbeitsausfall auf höhere Gewalt zurück, die sich nicht bloß beim Dienstgeber, sondern darüber hinaus auch allgemein als Störung auswirke („allgemeine Kalamitäten“), handle es sich nicht mehr um einen Umstand in der Dienstgebersphäre. Der Umstand, dass Maßnahmen auf Grundlage des COVID‑19‑MG in § 1155 Abs 3 ABGB zeitlich befristet als Umstände auf Seiten des Arbeitgebers angesehen werden, ändere nichts daran, dass es sich dabei um Fälle höherer Gewalt handle, die von der zwischen den Streitteilen bereits vor Inkrafttreten des § 1155 Abs 3 ABGB getroffenen vertraglichen Vereinbarung erfasst seien.

[6] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren in der Hauptsache samt 4 % Zinsen seit 12. 3. 2020 statt; das Zinsenmehrbegehren wurde (rechtskräftig) abgewiesen. Ausgehend von der Anwendbarkeit des § 1155 ABGB auf den geltend gemachten Klageanspruch (auch über den 11. 3. 2020 hinaus) vertrat es zusammengefasst die Ansicht, der Gesetzgeber habe die Folgen der Pandemie mit dem neugeschaffenen § 1155 Abs 3 ABGB auf beide Teile des Arbeitsvertrags in ausgewogener Form aufteilen wollen. Dieser Zweck könne nur erreicht werden, wenn man letzterer Bestimmung zwingende Natur zubillige. Eine vertragliche Abdingung dieser Bestimmung sei daher nicht möglich.

[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Ob § 1155 Abs 3 ABGB bloß eine Klarstellung oder eine Änderung der Rechtslage enthalte, könne dahingestellt bleiben: § 1155 Abs 3 ABGB ordne nur eine Entgeltfortzahlungspflicht für pandemiebedingte Arbeitsausfälle an. Ob § 1155 Abs 3 ABGB dispositiv sei, könne ebenfalls offen bleiben: Vertraglich seien nur Fälle „höherer Gewalt“ ausgeschlossen worden. Aufgrund des COVID‑19‑MG verhängte Betretungsverbote beträfen aber nicht die Allgemeinheit, sondern nur einzelne Betriebe wie etwa jenen der Beklagten. Das damit verbundene Risiko sei vom Gesetzgeber der Sphäre des Arbeitgebers zugeordnet worden. Maßnahmen wie das Betretungsverbot seien durch die Vereinbarung daher nicht ausgeschlossen. Die Revision sei zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Auslegung des § 1155 Abs 3 ABGB fehle.

[8] Gegen dieses Urteil richtet sich die von der Klägerin beantwortete Revision der Beklagten, mit der sie die Abweisung der Klage anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die Revision ist zulässig und im Sinn des Abänderungsantrags auch berechtigt.

[10] 1.1 Für den von der Klägerin abgeschlossenen „Gastvertrag“ iSd § 41 Theaterarbeitsgesetz (TAG) ist charakteristisch, dass im Vergleich zur Gruppe der ständig beschäftigten Ensemblemitglieder, die dem gesamten Sonderarbeitsrecht des TAG unterliegen, jemand, der nicht ständig bei diesem Theaterunternehmen beschäftigt ist, nicht unter den vollen Geltungsbereich des TAG fallen soll. Gemäß § 41 Abs 2 TAG finden auf Gastverträge die dort genannten Bestimmungen des TAG nicht Anwendung, ua etwa die Entgeltfortzahlung bei Dienstverhinderung (§ 9 TAG). Im Hinblick auf die gemäß § 40 TAG subsidiäre Geltung des ABGB sind daher subsidiär die §§ 1154b und 1155 ABGB anwendbar (Ercher/Rath, Nochmals zu den Neuerungen im Bühnenarbeitsrecht, Urlaubsrecht – Nichtverlängerungser-klärung – Gastverträge, ASoK 2011, 180 [185]).

[11] 1.2 Ein „Gast“ iSd § 41 TAG ist auch von sämtlichen Sonderregelungen der Beendigung des Bühnendienstverhältnisses nach dem TAG ausgenommen, sodass – wenn dennoch eine Beendigungserklärung erfolgt – die allgemeinen dienstrechtlichen Beendigungsbestimmungen des ABGB (§ 1162b ABGB) zur Anwendung kommen (Kozak/Balla/Zankel, Theaterarbeitsgesetz, § 41 TAG Rz 1099).

[12] 2.1 Nach dem auf den Gast‑Bühnenvertrag der Klägerin subsidiär zur Anwendung gelangenden § 1155  Abs 1 ABGB gebührt dem Dienstnehmer das Entgelt auch für Dienstleistungen, die nicht zustande gekommen sind, wenn er zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seite des Dienstgebers liegen, daran verhindert worden ist; er muss sich jedoch anrechnen, was er infolge Unterbleibens der Dienstleistung erspart oder durch anderweitige Verwendung erworben oder zu erwerben absichtlich versäumt hat.

[13] 2.2 § 1155 ABGB gewährt als Sondernorm des Leistungsstörungsrechts dem Dienstnehmer weiterhin einen Entgeltanspruch. Neben dem aufrechten Bestehen eines Arbeitsvertrags ist entscheidend, ob der Dienstnehmer zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seiten des Arbeitgebers lagen, daran verhindert worden ist (RS0021428). Es handelt sich somit um einen Erfüllungs‑ und keinen Schadenersatzanspruch. Nach wirksamer Beendigung des Arbeitsvertrags ist § 1155 ABGB nicht mehr anwendbar (Rebhahn in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 [2018] § 1155 ABGB Rz 11).

2.3 Mit dem 2. COVID-19-Gesetz BGBl I 16/2020 wurde § 1155 ABGB ein dritter Absatz angefügt:

„(3) Maßnahmen auf Grundlage des COVID‑19‑Maßnahmengesetzes, BGBl. Nr. 12/2020, die zum Verbot oder zu Einschränkungen des Betretens von Betrieben führen, gelten als Umstände im Sinne des Abs 1. Arbeitnehmer, deren Dienstleistungen aufgrund solcher Maßnahmen nicht zustande kommen, sind verpflichtet, auf Verlangen des Arbeitgebers in dieser Zeit Urlaubs‑ und Zeitguthaben zu verbrauchen. …“

[14] § 1155 Abs 3 ABGB stand – vom 15. 3. 2020 bis 31. 12. 2020 – zeitlich befristet in Geltung (§ 1503 Abs 14 [idgF: Abs 15] ABGB).

[15] 2.4 Der Oberste Gerichtshof nahm zu § 1155 Abs 3 ABGB bisher nur insofern Stellung, als Maßnahmen nach dem COVID‑19‑MG, die zum Verbot oder zu Einschränkungen des Betretens von Betrieben führen, als auf Seiten des Arbeitgebers liegende Umstände anzusehen sind, die dessen Verpflichtung zur Fortzahlung des Entgelts zur Folge haben (8 ObA 26/22i, RS0021428 [T10]). Weiters wurde eine Verfassungswidrigkeit der in § 1155 Abs 3 ABGB dem Arbeitgeber eingeräumten Ermächtigung verneint, den Urlaubsverbrauch (Verbrauch von Zeitguthaben) eines Arbeitnehmers, dessen Entgeltanspruch weiterbesteht, einseitig anzuordnen (9 ObA 149/21h).

[16] 3.1 Aus Anlass der gesetzmäßig ausgeführten Rechtsrüge ist im Rahmen der allseitigen rechtlichen Überprüfungspflicht (RS0043352) aber vorerst auf die Frage einzugehen, ob die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des § 1155 Abs 1 und 3 ABGB auch für den vorliegend geltend gemachten Klageanspruch gegeben sind:

[17] 3.2 Die Klägerin geht von einer wenngleich termin- und fristwidrigen, dennoch aber wirksamen Beendigung ihres Gast‑Bühnenvertrags zum 11. 3. 2020 aus und macht den Klagebetrag für die nach diesem Datum entfallenen Vorstellungen ausdrücklich als Schadenersatz zu qualifizierenden Anspruch auf Kündigungsentschädigung geltend (RS0028724) und nicht als fortbestehenden Entgeltanspruch.

[18] Gleichzeitig vertritt die Klägerin den Standpunkt, § 1155 Abs 3 ABGB komme infolge seiner Entstehung und konkreten Gestaltung nicht dispositiver, sondern zwingender Charakter zu, weshalb er – ungeachtet seines Inkrafttretens erst am 15. 3. 2020 – für ihren Gastbühnenvertrag und die Klageansprüche maßgeblich sei.

[19] 3.3 Dabei übersieht sie aber, dass nach Beendigung des Vertragsverhältnisses § 1155 ABGB (und auch dessen Absatz 3) keine Anwendung mehr finden kann, weil diese Regelung ein aufrechtes Arbeitsverhältnis voraussetzt. Hat die Klägerin nach Beendigung ihres Gast‑Bühnendienstvertrags die auf dem „Schadenersatzprinzip“ beruhende Kündigungsentschädigung geltend gemacht, soll sie als Kündigungsentschädigung das bekommen, was ihr ohne die Auflösung bis zum fiktiven Ende des Gast-Bühnendienstvertrags (am 19. 5. 2020) zugekommen wäre. Sie soll wirtschaftlich so gestellt werden, als wäre das Arbeitsverhältnis ordnungsgemäß beendet worden (RS0028397; RS0119684; 8 ObA 26/13a ua; zu befristeten Arbeitsverhältnissen 4 Ob 68/76, ZAS 1978/1, 15). Daran ändert auch die Formulierung in § 1162b ABGB „vertragsmäßige Ansprüche auf das Entgelt“ nichts, da mit dieser Formulierung lediglich die Höhe der Entgeltansprüche umschrieben wird, nicht aber ein Anspruch auf Vertragserfüllung anerkannt wird (Pfeil in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 [2018] § 29 AngG, Rz 11).

[20] Maßgeblich sind die Verhältnisse zum Zeitpunkt der von der Klägerin behaupteten vorzeitigen Auflösung des Dienstverhältnisses (hier somit zum 11. 3. 2020). Die Frage, ob der erst danach – mit 15. 3. 2020 – in Kraft getretene § 1155 Abs 3 ABGB einseitig zwingend oder dispositiv ist, stellt sich im vorliegenden Zusammenhang daher nicht.

[21] 4.1 Zu beurteilen bleibt, ob die in Pkt 4.2 und Pkt 4.3 des – bereits 2019 abgeschlossenen – Gast-Bühnenvertrags enthaltenen Regelungen dahin auszulegen sind, dass nach dem Willen der Parteien auch die COVID‑19‑Pandemie, die zu dem über das Theater verhängten Betretungsverbot und zum Entfall der Vorstellungen geführt hat, den Verlust des Honoraranspruchs bewirkt.

[22] 4.2 Nach § 914 ABGB ist bei der Auslegung von Verträgen zunächst vom Wortsinn des schriftlichen Vertragstextes oder vom Wortsinn der mündlichen Vertragserklärung auszugehen. Es ist aber nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks der Worte zu haften, sondern der Wille der Parteien zu erforschen. Wird kein vom Vertragstext abweichender oder diesen präzisierender ergänzender übereinstimmender Parteiwille behauptet oder festgestellt, so ist für die Auslegung der objektive Erklärungswert des Vertragstextes maßgeblich. Der Vertrag ist so zu verstehen, wie es der Übung des redlichen Verkehrs entspricht (RS0017915 [T18], RS0017797 ua).

[23] 4.3 Dass laut Pkt 4.2 des Gast-Bühnenvertrags „generell“ nur tatsächlich wahrgenommene Vorstellungen honoriert werden, ist als Festlegung einer Grundregel bzw eines allgemeinen Grundsatzes zu verstehen, nach dem ausschließlich gespielte Vorstellungen entgolten werden sollen. Mit der unmittelbar anschließenden Formulierung Pkt 4.3, nach der ein Anspruch auf Ersatz von tatsächlich aufgewendeten Kosten nur bei Absage der Vorstellung durch die [Beklagte] wegen Krankheit im Ensemble oder bei Vorliegen von höherer Gewalt nach Anreise des Gastes besteht, werden zwei möglicherweise auftretende Hinderungsgründe angesprochen, für die kein Entgeltanspruch bestehen soll, jedoch – allenfalls – Anspruch auf Aufwandersatz bzw Fahrtkostenersatz.

[24] 4.4 Werden „generell“ nur tatsächlich wahrgenommene Vorstellungen honoriert, kann der in Vertragspunkt Pkt 4.3 verwendete Begriff der „höheren Gewalt“ aus Sicht eines redlichen Erklärungsempfängers nicht anders verstanden werden, als dass auch ein Vorstellungsentfall infolge von Elementarereignissen, die die Allgemeinheit betreffen zum Verlust des Honoraranspruchs führen soll, wie etwa ein Vorstellungsentfall infolge einer Naturkatastrophe oder einer Seuche.

[25] 5.1 Dass es sich bei der COVID‑19‑Pandemie um eine schicksalhafte Entwicklung im Sinne eines Elementarereignisses und um eine Seuche handelt, wurde in der mietrechtlichen Rechtsprechung zu § 1104 ABGB bereits bejaht (vgl 3 Ob 78/21y Rz 21; 5 Ob 192/21b Rz 18; 9 Ob 31/22g Rz 11 ua; RS0133812).

[26] 5.2 Die COVID-19‑Pandemie war – jedenfalls in Zeiträumen eines „harten Lockdowns“ (vgl 4 Ob 147/21b Rz 4) wie im vorliegenden Fall bis 30. 4. 2020 – ein Ereignis, das auch die Klägerin als Arbeitnehmerin in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkte. Das Betreten öffentlicher Orte war verboten (§ 1 der V BGBl II 2020/98) und für berufliche Zwecke nur erlaubt, wenn dies erforderlich war und Mindestabstände eingehalten werden konnten (§ 2 Z 4 der V BGBl II 2020/98). Ein solches Erfordernis bestand im Hinblick darauf, dass die Theater geschlossen waren, bestenfalls in einem sehr eingeschränkten Ausmaß. Das Betreten des Kundenbereichs war – auch über den 30. 4. 2020 hinaus – verboten, zunächst gemäß § 1 V BGBl II 2020/96 [Freizeiteinrichtungen] sowie ab 1. 5. 2020 gemäß § 9 Abs 1 Z 3 iVm Abs 2 Z 8 der COVID‑19‑LV BGBl II 2020/197(zum Außerkrafttreten der V BGBl II 2020/96 und BGBl II 2020/197 s § 13 Abs 2 COVID‑19‑LV). Die Pandemie ging daher im hier zu beurteilenden Zeitraum in ihrer Auswirkung weit über die Sphäre des einzelnen Arbeitgebers hinaus und traf in vergleichbarer Weise die Allgemeinheit. Von den Betretungsverboten – und zwar sowohl von jenen, die unmittelbar die Betriebe als auch von jenen, die für den öffentlichen Raum galten – waren bundesweit eine Vielzahl unterschiedlichster Unternehmen und Arbeitsverhältnisse betroffen (vgl Friedrich, Entgeltfortzahlung nach § 1155 ABGB und COVID‑19, ZAS 2020, 156 [159]). Jedenfalls im hier zu beurteilenden Zeitraum ist die Pandemie als ein Elementarereignis größten Ausmaßes anzusehen. COVID‑19 hat sich weltweit ausgebreitet und weite Teile des öffentlichen Raums und des Wirtschaftslebens lahmgelegt (Kietaibl/Wolf in Resch, Corona‑HB1.04 Kap 3 Rz 2).

[27] 6. Die Pkt 4.2 und 4.3 des Gast‑Bühnendienst-vertrags sind ihrem objektiven Wortsinn nach somit dahin auszulegen, dass der Entgeltanspruch der Klägerin mangels Wahrnehmung der Vorstellung entfällt. Daran ändert – jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang – der Umstand nichts, dass nicht die Pandemie (Krankheit) selbst, sondern erst das gesetzlich verordnete Betretungsverbot dazu geführt hat, dass die versprochenen Dienste nicht zustande gekommen sind (vgl Felten/Pfeil, Arbeitsrechtliche Auswirkungen der COVID‑19‑Gesetze – ausgewählte Probleme, DRdA 2020, 295 [301]).

[28] 7. Dem von der Klägerin erhobenen Einwand der Sittenwidrigkeit kommt keine Berechtigung zu.

[29] Die Sittenwidrigkeit einer in Abänderung des (gemäß § 1164 ABGB dispositiven) § 1155 Abs 1 ABGB getroffenen Vereinbarung zu Lasten des Arbeitnehmers wurde etwa in Fällen eines schuldhaften Annahmeverzugs des Arbeitgebers, einer grundlosen Freistellung des Arbeitnehmers vom Dienst oder der Vereinbarung einer Arbeit auf Abruf bejaht (vgl dazu näher Rebhahn in ZellKomm³ § 1155 ABGB Rz 6 mwH). Ein diesen Situationen vergleichbarer Fall liegt hier aber nicht vor. Insbesondere wurde die Vereinbarung auch nicht konkret im Zusammenhang mit den durch die Pandemie ausgelösten Betretungsverboten getroffen (so der beispielhaft von Auer‑Mayer, Ausgewählte Fragen zur Kurzarbeit, ZAS 2020, 220 [226] zitierte Fall).

[30] 8. Verwirklichte die COVID‑19‑Pandemie den im Gastbühnenvertrag genannten Fall „höherer Gewalt“ und besteht der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch bereits aus diesen rechtlichen Gründen nicht, bedarf es keiner Auseinandersetzung mit der in der Revision behaupteten Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens.

[31] Der Revision war daher Folge zu geben und die Entscheidungen der Vorinstanzen im klageabweisenden Sinn abzuändern.

[32] 9. Eine Überraschungsentscheidung liegt nicht vor. Einer richterlichen Anleitung (§ 182a ZPO) zu einem Vorbringen, gegen das der Prozessgegner bereits Einwendungen erhoben hat, bedarf es nicht (RS0037300 [T41]).

[33] Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO. Für die Berufung der Beklagten gebührt – ebenso für die Revision – ein ERV‑Zuschlag gemäß § 23a RATG lediglich in Höhe von 2,10 EUR (RS0126594 [T3]).

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