OGH 9ObA88/22i

OGH9ObA88/22i31.8.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, den Hofrat und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer und Hon.‑Prof. Dr. Dehn sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Manfred Joachimsthaler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Christian Lewol (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei * A*, vertreten durch Widter Mayrhauser Wolf Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei W* GmbH & Co KG, *, vertreten durch Fellner Wratzfeld & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Kündigungsanfechtung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Mai 2022, GZ 7 Ra 113/21w‑74, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:009OBA00088.22I.0831.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision der klagenden Partei wird mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Begründung:
Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Eine erfolgreiche Anfechtung einer Kündigung wegen Sozialwidrigkeit iSd § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG bedarf des Nachweises durch den Arbeitnehmer, dass die Kündigung wesentliche Interessen des Gekündigten beeinträchtigt (RS0051845; RS0051746). In die Untersuchung, ob durch eine Kündigung wesentliche Interessen des Arbeitnehmers beeinträchtigt sind, ist nicht nur die Möglichkeit der Erlangung eines neuen, einigermaßen gleichwertigen Arbeitsplatzes, sondern die gesamte wirtschaftliche und soziale Lage des Arbeitnehmers und seiner Familienangehörigen einzubeziehen (RS0051741; RS0051806; RS0051703). Eine finanzielle Schlechterstellung allein genügt für die Tatbestandsmäßigkeit nicht, es sei denn, sie erreicht ein solches Ausmaß, dass sie – unter Berücksichtigung aller Faktoren – eine fühlbare, ins Gewicht fallende Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Lage zur Folge hat, ohne dass aber schon eine soziale Notlage oder eine Existenzgefährdung eintreten müsste (RS0051727 [T16]; RS0051753; 9 ObA 54/12z). Gewisse Schwankungen in der Einkommenslage muss jeder Arbeitnehmer im Laufe des Arbeitslebens hinnehmen (RS0051727 [T2]). Der Oberste Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits wiederholt betont, dass es keine starren Prozentsätze der durch die Arbeitgeberkündigung bedingten Einkommensminderung des betroffenen Arbeitnehmers gibt, bei denen das Vorliegen von Sozialwidrigkeit jedenfalls zu bejahen oder jedenfalls zu verneinen wäre (8 ObA 46/15w; 9 ObA 116/15x; 9 ObA 129/16k ua). Es entspricht auch der Rechtsprechung, dass im Einzelfall auch bei einer Suchdauer von bis zu zwölf Monaten die Wesentlichkeit der Interessenbeeinträchtigung zu verneinen sein kann (9 ObA 77/18s mwN). Es sind nämlich alle wirtschaftlichen und sozialen Umstände zueinander in Beziehung zu setzen und nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls zu gewichten (RS0110944 [T3]). Ob die Sozialwidrigkeit der Kündigung nachgewiesen werden kann, stellt damit regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0051640 [T5]; RS0051741 [T3, T9]). Das ist auch hier nicht der Fall.

[2] 2. Der 1984 geborene Kläger hatte nach verschiedenen Tätigkeiten (vor allem Gastronomie, Lebensmittel- und Einzelhandel) im Februar 2012 die Lehrabschlussprüfung zum Einzelhandelskaufmann absolviert. Von 2013 bis zu seiner am 10. 1. 2018 erfolgten Kündigung war er bei der Beklagten als U‑Bahnfahrer und Stationswart und infolge von Krankenständen zuletzt im Leichtdienst eingesetzt.

[3] Das Berufungsgericht hat berücksichtigt, dass er in Summe 2.240,68 EUR brutto monatlich verdiente, bei einer Postensuchdauer bis zu maximal drei Monaten eine Vollzeitbeschäftigung als Verkäufer oder CallCenter‑Mitarbeiter (als letzterer mit einem Bruttogehalt von monatlich durchschnittlich 1.700 EUR) und bei einer Postensuchdauer von bis zu zwölf Monaten eine Vollzeitbeschäftigung als Filialleiter oder Filialleiter‑Stellvertreter oder Triebfahrzeugführer (als letzterer mit einem Bruttogehalt von zumindest 2.500 EUR zuzüglich Sonderzahlungen) erlangen konnte. Unter Bedachtnahme auf das Familieneinkommen, die Gesamtausgaben, sein Alter (im Konkretisierungszeitpunkt 33 Jahre), die nicht übermäßig lange Dauer seiner Beschäftigung bei der Beklagten und das Fehlen von Sorgepflichten kam es zum Ergebnis, dass wesentliche Interessen des Klägers (noch) nicht beeinträchtigt seien.

[4] 3. In seiner dagegen gerichteten außerordentlichen Revision macht der Kläger geltend, seine spezifische Ausbildung bei der Beklagten sei anderweitig nicht verwertbar. In einer allenfalls notwendigen Ein- oder Umschulung liegt jedoch nicht schon als solche eine berücksichtigungswürdige Interessenbeeinträchtigung, weil eine solche Maßnahme nicht mit einer finanziellen oder anders gearteten Schlechterstellung im Verhältnis zum bisherigen Arbeitsplatz einhergehen muss. Derartiges ist auch hier nicht ersichtlich, weil für Triebwagenführer sogar höhere Verdienstmöglichkeiten bestehen. Dass für sie im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses (vgl RS0051772) ein geringer Stellenmarkt bestand, wurde im Rahmen der Postensuchdauer mitbedacht (ON 28). Auf einen Einsatz als Stationswart trifft die Erwägung des Klägers von vornherein nicht zu.

[5] 4. Der Kläger sieht auch Klarstellungsbedarf zum Einkommen. Er meint, das Bruttoeinkommen beinhalte höhere Sozialversicherungsbeiträge, die dem Arbeitnehmer für die Pension zugute kämen, der nicht mehr die besten Bezüge, sondern das gesamte Erwerbseinkommen zugrunde liege. Schon aufgrund seines Alters ist allerdings nicht erkennbar, wie weit er dadurch im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses in wesentlichen Interessen beeinträchtigt gewesen wäre.

[6] 5. Seinem Vorbringen, dass sich bei durchschnittlicher Einbeziehung von Zulagen wie jenen für Nachtdienste eine über der vom Erstgericht berücksichtigten Einkommenseinbuße von bis zu 29 %, jedenfalls aber von mehr als 20 % ergebe, liegen keine entsprechenden Feststellungen zugrunde. Der damit im Zusammenhang stehende vermeintliche Verfahrensmangel ist nicht gegeben, weil der Kläger im Berufungsverfahren selbst von keinen solchen Entgelteinbußen über 29 % ausgegangen ist (Berufungsbeantwortung ON 72).

[7] 6. Dass auch jüngere Arbeitnehmer nicht schon grundsätzlich vom Schutz der Kündigungsanfechtung wegen Sozialwidrigkeit ausgeschlossen sind, wurde vom Berufungsgericht nicht verkannt (s RS0051741 ua). Es sind allerdings keine Umstände ersichtlich, aus denen hervorginge, dass der Kläger aufgrund seines konkreten Alters in wesentlichen Interessen beeinträchtigt gewesen wäre.

[8] 7. Seine außerordentliche Revision ist mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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