OGH 9ObA27/21t

OGH9ObA27/21t27.5.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisions- und Revisionsrekursgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Klaus Oblasser (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und KR Karl Frint (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei S* R*, vertreten durch Dr. Gustav Teicht, Dr. Gerhard Jöchl Kommandit‑Partnerschaft in Wien, gegen die beklagte Partei C*, vertreten durch Dr. Remo Sacherer, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, wegen Feststellung des aufrechten Dienstverhältnisses (Streitwert: 30.000 EUR), in eventu Kündigungsanfechtung (Streitwert: 30.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil und den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungs- und Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. Oktober 2020, GZ 10 Ra 73/20h‑36, mit dem der Berufung und dem Rekurs der klagenden Partei gegen das Urteil und den Beschluss des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 16. Jänner 2020, GZ 21 Cga 90/18k‑32, nicht Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132083

 

Spruch:

Die Revision und der außerordentliche Revisionsrekurs der klagenden Partei werden zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin war bei der Beklagten ab 2. 5. 1991 beschäftigt. Mit Schreiben vom 28. 6. 2018 kündigte die Beklagte das Dienstverhältnis zum 31. 12. 2018 auf.

[2]

Rechtliche Beurteilung

I. Zur Revision der Klägerin:

[3] 1. Die Vorinstanzen wiesen das Begehren der Klägerin auf Feststellung des aufrechten Dienstverhältnisses über den 31. 12. 2018 hinaus ab. Die Kündigung der Klägerin sei betrieblich erforderlich gewesen, eine andere Beschäftigungsmöglichkeit habe es für sie nicht gegeben.

[4] 2. Das Berufungsgericht hat die Revision mit der Begründung zugelassen, dass keine oberstgerichtliche Rechtsprechung zum Inhalt des Kündigungsschutzes nach § 29 Abs 2 lit f KVI vorliege. Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision mangels einer erheblichen Rechtsfrage unzulässig. Der Auslegung einer Kollektivvertragsbestimmung kommt dann keine erhebliche Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zu, wenn die Auslegung der fraglichen Bestimmung klar und eindeutig ist (RS0109942 [T1, T6]). Dies ist hier der Fall. Die Entscheidung kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 Satz 4 ZPO).

[5] 3. Nach § 29 Abs 2 lit f des auf das Dienstverhältnis zwischen den Parteien anwendbaren Kollektivvertrags für Angestellte des Innendienstes der Versicherungsunternehmen (KVI) können Angestellte ab dem vollendeten 24. Lebensjahr, die das fünfte Dienstjahr vollendet haben, nur gekündigt werden, „wenn eine Personalreduktion notwendig ist, sowie eine Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz im Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens trotz Verlangens des Angestellten, auch unter Beachtung des grundsätzlichen Beschäftigungsvorrangs jener Angestellten, die bereits dem besonderen Kündigungsschutz unterstehen, betrieblich nicht sinnvoll ist.“

[6] 4. In erster Linie ist bei der Auslegung eines Kollektivvertrags der Wortsinn – auch im Zusammenhang mit den übrigen Regelungen – zu erforschen und die sich aus dem Text des Kollektivvertrags ergebende Absicht der Kollektivvertragsparteien zu berücksichtigen (RS0010089 [T2]). Maßgeblich ist, welchen Willen des Normgebers der Leser dem Text entnehmen kann (RS0010088). Eine über die Wortinterpretation nach den §§ 6, 7 ABGB hinausgehende Auslegung ist (nur) dann erforderlich, wenn die Formulierung mehrdeutig, missverständlich oder unvollständig ist, wobei der äußerst mögliche Wortsinn die Grenze jeglicher Auslegung bildet (RS0010089 [T38]).

[7] 5. Die Ansicht der Klägerin, im Rahmen des besonderen Kündigungsschutzes nach § 29 Abs 2 lit f KVI habe – wie beim allgemeinen Kündigungsschutz nach § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG (vgl RS0051994) – eine Abwägung der durch die Kündigung beeinträchtigten wesentlichen Interessen des Arbeitnehmers mit den Interessen des Betriebs stattzufinden (die im Anlassfall zu ihren Gunsten ausgeschlagen hätte), trägt der Wortlaut der Bestimmung nicht. Dass der besondere Bestandschutz des § 29 Abs 2 lit f KVI und der allgemeine Kündigungsschutz des § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG, wie vom Berufungsgericht zutreffend hervorgehoben, grundsätzlich unterschiedliche Schutzwirkungen verfolgen und demnach auch unterschiedliche Tatbestandsmerkmale normieren, wird in der Revision der Klägerin nicht weiter in Frage gestellt. Richtig ist zwar, dass bei der Auslegung der Tatbestandsmerkmale der „notwendigen Personalreduktion“ und der „sinnvollen Weiterbeschäftigung“ in § 29 Abs 2 lit f KVI Anleihe an die Rechtsprechung zur Betriebsbedingtheit der Kündigung nach § 105 Abs 3 Z 2 lit b ArbVG (vgl RS0051938; RS0052008 ua) genommen werden kann, das Erfordernis einer (nach § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG vorrangig vorzunehmenden [vgl RS0116698; RS0051746]) Prüfung, ob durch die Kündigung wesentliche Interessen des Arbeitnehmers beeinträchtigt werden, folgt aus dem Wortsinn der in Rede stehenden Kollektivvertragsbestimmung aber nicht.

[8] Die Revision der Klägerin ist daher mangels Geltendmachung einer erheblichen Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

[9] Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage in ihrer Revisionsbeantwortung nicht hingewiesen. Ihre Revisionsbeantwortung kann daher nicht als zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig angesehen werden und ist deshalb auch nicht zu honorieren (RS0035979).

[10] II. Zum außerordentlichen Revisionsrekurs der Klägerin:

[11] 1. Die Vorinstanzen wiesen das Eventualbegehren der Klägerin, die Kündigung der Beklagten für rechtsunwirksam zu erklären, zurück. Die schriftliche Kündigung der Beklagten sei der Klägerin durch Einlegen in das Hausbrieffach am 29. 6. 2018 zugestellt worden. Die erst am 20. 7. 2018 erhobene Anfechtungsklage sei daher außerhalb der 14-tägigen Anfechtungsfrist des § 105 Abs 4 ArbVG erhoben worden. Das Rekursgericht hat den Revisionsrekurs für nicht zulässig erklärt.

[12] 2. Gemäß § 528 Abs 2 Z 2 ZPO ist der Revisionsrekurs jedenfalls unzulässig, wenn das Rekursgericht den erstgerichtlichen Beschluss zur Gänze bestätigt hat, es sei denn, dass die Klage ohne Sachentscheidung aus formellen Gründen zurückgewiesen worden ist. Hier wurde das Eventualbegehren aufgrund Verspätung mit Beschluss zurückgewiesen, sodass es in diesem Punkt zu einer Ablehnung der Sachentscheidung kam (vgl 9 ObA 155/11a). Der Revisionsrekurs ist daher nicht jedenfalls unzulässig, sondern – unter den Voraussetzungen des § 528 Abs 1 iVm § 502 Abs 5 Z 4 ZPO – zulässig.

[13] 3. Nach der sogenannten Empfangstheorie gilt eine schriftlich erklärte Kündigung als zugegangen, sobald das Kündigungsschreiben in den „Machtbereich“ des Adressaten gelangt ist, so dass er sich unter normalen Umständen von ihrem Inhalt Kenntnis verschaffen konnte, und wenn eine solche Kenntnisnahme nach den Gepflogenheiten des Verkehrs von ihm erwartet werden musste, selbst wenn sie dieser persönlich nicht erhalten hat (RS0029157). Es genügt vielmehr, dass er die Möglichkeit hatte, die Erklärung zur Kenntnis zu nehmen (RS0014076 [T3]). Nach ständiger Rechtsprechung sind für die Frage des rechtzeitigen Zugangs einer empfangsbedürftigen Erklärung und für die Beurteilung, ob objektiv mit einer Kenntnisnahme durch den Empfänger gerechnet werden kann, immer die Umstände des Einzelfalls maßgeblich (RS0014089 [T1]). Die angefochtene Entscheidung bewegt sich im Rahmen der Grundsätze dieser Rechtsprechung.

[14] 4. Die Klägerin wurde bereits am 21. 6. 2018 durch den Betriebsrat von der Kündigungsabsicht der Beklagten in Kenntnis gesetzt. Am 28. 6. 2018, dem letzten Arbeitstag der Klägerin vor ihrem Urlaub, fand ein Zustellversuch durch einen Botendienst statt, wobei allerdings der Ehemann der Klägerin die Annahme der Sendung verweigerte. Ein zweiter Zustellversuch erfolgte am 29. 6. 2018, 11:15 Uhr, wobei die Klägerin von diesem Zustellversuch telefonisch durch einen Wohnungsnachbar informiert wurde. Da die Türe nicht geöffnet wurde, legte der Bote das Schreiben in das Hausbrieffach der Klägerin ein. Die Klägerin war am 30. 6. 2018 an ihrer Wohnadresse anwesend, sah jedoch vor ihre Abreise nicht in das Hausbrieffach. Die Argumentation der Klägerin, sie hätte für die Zeit von 29. 6. 2018 bis 20. 7. 2018 ein Urlaubspostfach eingerichtet, ist nicht zielführend, da die Zustellung des Kündigungsschreibens nicht durch die Post, sondern durch einen Boten erfolgte. Die Klägerin war am 29. 6. 2018 auch noch nicht urlaubsbedingt ortsabwesend. Die Behauptung im außerordentlichen Revisionsrekurs, die Beklagte hätte Kenntnis von der bevorstehenden Urlaubsabwesenheit der Klägerin (1. 7. 2018 bis 15. 7. 2018) gehabt, lässt sich dem festgestellten Sachverhalt nicht entnehmen.

[15] Mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 528 Abs 1 ZPO ist der außerordentliche Revisionsrekurs der Klägerin zurückzuweisen (§ 528a iVm § 510 Abs 3 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG).

[16] Die ohne Zustellung einer Mitteilung nach § 508a Abs 2 erster Satz iVm § 521a Abs 2 ZPO erstattete Revisionsrekursbeantwortung der Beklagten ist als nicht zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig nicht zu honorieren (vgl RS0043690).

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