OGH 10ObS54/16p

OGH10ObS54/16p7.6.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Andreas Hach (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei H*****, vertreten durch Dr. Clemens Pichler, Rechtsanwalt in Dornbirn, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 12. Februar 2016, GZ 25 Rs 16/16p‑68, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 19. Oktober 2015, GZ 35 Cgs 184/13w‑61, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00054.16P.0607.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Der 1960 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Er war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 4. 2013) als Arbeiter am Bau und als Metallarbeiter beschäftigt.

Der Kläger war unter den üblichen Bedingungen eines Arbeitsverhältnisses seit dem 1. 4. 2013 bis zum 31. 7. 2014 nur mehr in der Lage, leichte Arbeiten im Gehen, Stehen oder Sitzen mit der Möglichkeit des Wechsels der Körperhaltung nach 30 Minuten einseitiger Haltung über einen Zeitraum von 8 Stunden täglich ohne längere als die üblichen Unterbrechungen im Freien und in geschlossenen Räumen mit den weiteren festgestellten Einschränkungen zu verrichten. Der Fußweg zur Arbeitsstätte durfte auf ebener Strecke nicht länger als 500 Meter sein und weder steil bergauf noch steil bergab führen. Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel war dem Kläger zumutbar. Das Lenken von Kraftfahrzeugen war dem Kläger hingegen nicht möglich. Dem Kläger war Tagespendeln, nicht aber Wochenpendeln zumutbar. Eine Wohnsitzverlegung war nicht zumutbar. Eine Wohnsitzverlegung wäre dem Kläger zumutbar gewesen, wenn seine Gattin mit ihm den Wohnsitz gewechselt hätte.

Vom 1. 8. 2014 bis 30. 11. 2014 war der Kläger arbeitsunfähig.

Im Anschluss daran gilt wieder das für den Zeitraum 1. 4. 2013 bis 31. 7. 2014 festgestellte Leistungskalkül. Allerdings waren dem Kläger nunmehr auch Arbeiten mit dem rechten Arm auf Schulterhöhe und über Kopf möglich.

Eine Besserung des Gesundheitszustands in kalkülsrelevanter Weise ist nicht zu erwarten. Bei nicht kalkülsüberschreitender Tätigkeit sind mit hoher Wahrscheinlichkeit Krankenstände im Ausmaß von 5 Wochen pro Jahr zu erwarten. Eine Wohnsitzverlegung wäre dem Kläger zumutbar, wenn seine Gattin mit ihm den Wohnsitz wechselt.

Der Kläger lebt im eigenen Haus mit seiner Gattin und dem 26‑jährigen Sohn. Die Gattin des Klägers ist Pensionistin. Der Sohn plant den gemeinsamen Haushalt zu verlassen.

Der Kläger ist noch in der Lage, als Kuvertierer und Adressenverlagsmitarbeiter zu arbeiten. Österreichweit besteht für diese Tätigkeiten ein ausreichender Arbeitsmarkt, nicht aber in Vorarlberg.

Mit Bescheid vom 11. 7. 2013 wies die Beklagte den Antrag des Klägers vom 19. 3. 2013 auf Zuerkennung der Invaliditätspension mit der Begründung ab, dass der Kläger nicht invalid sei und kein Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation bestehe.

Der Kläger begehrt die Zuerkennung einer Invaliditätspension mit dem wesentlichen Vorbringen, infolge seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht mehr in der Lage zu sein, eine auf dem Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit zu verrichten.

Die Beklagte wandte dagegen ein, dass Invalidität beim Kläger nicht vorliege und kein Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation bestehe.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Kläger sei trotz seines eingeschränkten Leistungskalküls noch in der Lage, die auf dem Arbeitsmarkt vorhandenen Verweisungstätigkeiten als Kuvertierer und Adressenverlagsmitarbeiter auszuüben, sodass er nicht invalid iSd § 255 Abs 3 ASVG sei. Könne ein Versicherter seinen Wohnsitz aus medizinischen Gründen nur gemeinsam mit seiner Familie verlegen, bilde dies nach der Entscheidung 10 ObS 324/90 einen pensionsrechtlich unbeachtlichen subjektiven Aspekt, zumal die konkrete familiäre Situation bei der Beurteilung der Verweisbarkeit schon an sich keine Rolle spiele. Stünden daher medizinische Gründe einem Wohnsitzwechsel des Klägers gemeinsam mit seiner Gattin nicht entgegen, dürfe er bei der gebotenen abstrakten Betrachtungsweise nicht günstiger gestellt sein als ein familiär völlig ungebundener Pensionswerber mit entsprechendem Leistungskalkül. Da auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt eine ausreichende Anzahl an Arbeitsplätzen in den dem Kläger noch zumutbaren Verweisungstätigkeiten vorhanden sei, sei der Kläger nicht invalid.

Das Berufungsgericht gab der vom Kläger gegen dieses Urteil erhobenen Berufung nicht Folge. Soweit für das Revisionsverfahren noch von Bedeutung, teilte es die Rechtsansicht des Erstgerichts, wonach dem Kläger eine Verlegung seines Wohnsitzes zumutbar sei. Der Kläger habe nicht einmal behauptet, dass seine Ehegattin, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehe, aus medizinischen oder wirtschaftlichen Gründen nicht imstande sei, mit ihm zu übersiedeln. Dass sie dazu auch rechtlich nicht verpflichtet sei, sei in dieser Allgemeinheit wegen § 92 Abs 1 ABGB nicht zutreffend.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die Revision zulässig sei. Zwar sei es völlig herrschende Rechtsprechung, dass die persönlichen Verhältnisse eines Versicherten bei der Beurteilung des Vorliegens einer Invalidität unerheblich seien. Für seine Ansicht, dass von einem Versicherten auch ein Wohnsitzwechsel zu fordern sei, der aus medizinischen Gründen nur dann möglich sei, wenn auch der Ehegatte mitübersiedle, habe sich das Berufungsgericht jedoch lediglich auf die Entscheidung 10 ObS 324/90 stützen können. Dieser Frage komme aber eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers, mit der er die Stattgebung seiner Klage anstrebt.

Die Beklagte beteiligte sich nicht am Revisionsverfahren.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig. Sie ist im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Der Revisionswerber argumentiert zusammengefasst, dass ihm ein Wohnsitzwechsel nicht zumutbar sei, wenn seine Gattin nicht mit ihm umsiedle. Diese sei dazu aber schon bei Vorliegen gleichgewichtiger Interessen gemäß § 92 Abs 1 ABGB nicht verpflichtet. § 92 ABGB sei eine Ausnahmeregelung zu § 91 Abs 1 ABGB: Der Ehegatte, der behaupte, dass diese Ausnahmeregelung auf ihn zutreffe, müsse das Vorliegen der gesetzlichen Rechtfertigungsgründe behaupten und beweisen. Gleiches müsse für den Sozialversicherungsträger gelten, der seine Leistungspflicht mit dem Hinweis auf die Anwendbarkeit dieser Bestimmung verneine. Anhaltspunkte dafür, dass die Ehegattin des Klägers nicht zumindest gleichgewichtige Gründe für die Aufrechterhaltung des bisherigen Wohnsitzes habe, seien im Verfahren jedoch nicht hervorgekommen. Die von den Vorinstanzen vertretene Rechtsansicht würde überdies einen massiven Eingriff in das Grundrecht auf Schutz des Privat‑ und Familienlebens darstellen. Dazu ist Folgendes auszuführen:

1.1  Die Minderung der Arbeitsfähigkeit wird im Anwendungsbereich der auch hier maßgeblichen Bestimmung des § 255 Abs 3 ASVG grundsätzlich nicht konkret, sondern abstrakt ermittelt (10 ObS 2455/96v, SSV‑NF 11/6; Teschner in Tomandl , SV‑System [25. ErgLfg] 370/16; vgl auch 10 ObS 90/06t, SSV‑NF 20/40 zur abstrakten Beurteilung der Lohneinbuße, RIS-Justiz RS0084824). Persönliche Umstände, wie beispielsweise die Sprache, aber auch die persönlichen Einkommens‑ und Vermögensverhältnisse oder die Krankenversicherung sind bei der Prüfung der Invalidität bzw der geminderten Arbeitsfähigkeit daher nicht zu prüfen (RIS‑Justiz RS0107503). Für die Beurteilung der Frage der Verweisbarkeit spielt daher auch die familiäre Situation eines Versicherten keine Rolle (10 ObS 154/02y; RIS‑Justiz RS0084939 [T9]).

1.2  Ein Korrektiv zu der von der rein abstrakten Prüfung abweichenden Beurteilung im Einzelfall stellt die Zumutbarkeitsprüfung gemäß § 255 Abs 3 ASVG dar, wonach ein Versicherter, der nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig war, als invalid gilt, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Dieses Korrektiv erlaubt im Einzelfall daher auch die Berücksichtigung von Umständen, die unabhängig vom gesundheitlichen Befinden sind, und soll einen unzumutbaren Einkommensverlust verhindern (10 ObS 72/10a, SSV‑NF 24/41 mwH zur allenfalls unzumutbaren Wohnsitzverlegung, weil infolge einer Teilzeitarbeit nur ein geringeres Entgelt erzielt werden kann; RIS‑Justiz RS0085027).

1.3  Im Regelfall muss aber die Ursache für die geminderte Arbeitsfähigkeit der körperliche und geistige Zustand des Versicherten sein. Umstände, die mit dem Gesundheitsstand nicht im Zusammenhang stehen, sind bei Prüfung der Invalidität bzw der geminderten Arbeitsfähigkeit von vornherein nicht zu berücksichtigen. Eine andere Betrachtungsweise würde zu einer systemwidrigen Privilegierung zB einkommens‑ und vermögensloser oder nicht krankenversicherter Personen führen (10 ObS 46/92, SSV‑NF 6/26; 10 ObS 2455/96v, SSV‑NF 11/6).

1.4  Die Vorinstanzen sind daher zutreffend davon ausgegangen, dass bei der Prüfung der Invalidität grundsätzlich nicht vom individuellen Wohnsitz des Versicherten auszugehen ist, weil es sich auch dabei um einen für die Beurteilung der Minderung der Arbeitsfähigkeit unbeachtlichen persönlichen Umstand handelt, der mit dem Gesundheitszustand des Versicherten nicht in Zusammenhang steht (RIS‑Justiz RS0084871; RS0085017; ebenso für die Verweisung auf Teilzeitarbeitsplätze 10 ObS 56/93, SSV‑NF 7/126 ua). Der Versicherte ist daher grundsätzlich verpflichtet zu übersiedeln, um einen Arbeitsplatz zu erreichen (RIS‑Justiz RS0084939 [T1]; Födermayr/Resch in SV‑Komm [139. Lfg] § 255 ASVG Rz 61). Diese Verpflichtung besteht nach dem Gesagten konsequenterweise dann nicht, wenn dem Versicherten eine Verlegung des Wohnorts aus medizinischen Gründen – daher infolge seines körperlichen und geistigen Zustands – nicht möglich ist (RIS‑Justiz RS0084939, zuletzt 10 ObS 168/13y, SSV‑NF 27/81). Dass im Umkreis des derzeitigen Wohnorts des Versicherten – wie hier des Klägers – Arbeitsplätze in den dem Versicherten noch zumutbaren Verweisungstätigkeiten nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung stehen, ist daher nur dann entscheidend, wenn ihm aus medizinischen Gründen eine Wohnsitzverlegung nicht zumutbar ist (10 ObS 347/88, SSV‑NF 3/142; 10 ObS 143/03g, SSV‑NF 17/67 ua).

2.1  Im Anlassfall ist dem Kläger der Wohnsitzwechsel aus medizinischen Gründen nicht mehr möglich. Ein Wohnsitzwechsel ist ihm nur dann möglich, wenn seine Ehegattin mit ihm mitzieht.

2.2  Der Oberste Gerichtshof hat in einer vergleichbaren Konstellation in der auch von den Vorinstanzen herangezogenen Entscheidung 10 ObS 324/90 ausgeführt, dass es ohne Bedeutung sei, wenn der Kläger seinen Wohnsitz aus medizinischen Gründen nur gemeinsam mit seiner Familie verlegen könne, weil seine Ehegattin gemäß § 92 Abs 1 ABGB verpflichtet sei, mitzuziehen. An dieser Rechtsansicht kann jedoch vor dem Hintergrund der Entwicklung der späteren Rechtsprechung nicht festgehalten werden.

2.3  In den dieser Entscheidung folgenden und von den Vorinstanzen zitierten Entscheidungen 10 ObS 213/91, 10 ObS 154/02y und vielen anderen hielt der Oberste Gerichtshof daran fest, dass es auf die Verhältnisse am Wohnort oder auf die konkrete familiäre Situation des Versicherten bei der Beurteilung der Frage der Invalidität nicht ankommt. Es spielt auch keine Rolle, ob dem Versicherten etwa infolge seines Alters und des gemeinsamen Wohnsitzes mit seiner Ehegattin ein Wohnsitzwechsel nicht zumutbar wäre (10 ObS 210/95, SSV‑NF 9/99). Auch Versicherte mit einem Wohnsitz im Ausland müssen sich – sofern dem kein medizinisches Hindernis entgegensteht – auf den österreichischen Arbeitsmarkt verweisen lassen (10 ObS 125/03k, SSV‑NF 17/57 mwH ua).

2.4  In der Entscheidung 10 ObS 49/04k, SSV‑NF 18/80, war der Klägerin aus medizinischen Gründen noch Tagespendeln, nicht aber Wochenpendeln oder Übersiedeln möglich. Sie konnte zwar öffentliche Verkehrsmittel benützen. Allerdings war sie nur in der Lage, einen Fußweg von 500 m zurückzulegen, um eine Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels zu erreichen. Die nächsten Haltestellen befanden sich jedoch jeweils 4 km vom Wohnsitz der Klägerin entfernt. Im Haushalt der Klägerin war zwar ein PKW vorhanden. Für diesen hatte allerdings nur der Ehegatte der Klägerin eine Lenkerberechtigung.

Der damaligen Klägerin wäre es nur mithilfe ihres Ehegatten möglich gewesen, die nächste Bushaltestelle und damit einen Arbeitsplatz zu erreichen. Dem hielt der Oberste Gerichtshof entgegen, dass eine bestimmte familiäre Situation bei der abstrakten Beurteilung der Verweisbarkeit nicht von Bedeutung sei. Dies bedeute, dass eine bestimmte familiäre Situation weder zugunsten noch zu Lasten des Versicherten herangezogen werden darf. Die Aufgabe, der Klägerin Hilfestellung bei der Erreichbarkeit eines Arbeitsplatzes in einem Verweisungsberuf zu leisten, könne daher nicht mit der Begründung auf nahe Angehörige überwälzt werden, dass diese familiäre Beistandspflichten treffen.

2.5  Die Beistandspflicht zwischen Ehegatten ist – ebenso wie die Verpflichtung zum gemeinsamen Wohnen – in § 90 Abs 1 ABGB geregelt. Die (als solche nicht durchsetzbare, 6 Ob 29/09x) Pflicht zum ehelichen Beistand besteht in der Verpflichtung zur umfassenden Unterstützung des Ehepartners in körperlicher, seelischer und materieller Hinsicht ( Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth , Ehe‑ und Partnerschaftsrecht § 90 Rz 32). Einen Teilaspekt der allgemeinen ehelichen Beistandspflicht bildet die in § 90 Abs 2 ABGB geregelte Verpflichtung des Ehegatten, den anderen Ehegatten bei dessen Erwerb – im zumutbaren Ausmaß – zu unterstützen ( Höllwerth aaO § 90 ABGB Rz 36). Alle diese Pflichten sind ebenso Bestandteil der umfassenden ehelichen Lebensgemeinschaft iSd § 90 ABGB wie das gemeinsame Wohnen.

3.  Die Aussagen und Wertungen der Entscheidung 10 ObS 49/04k, SSV‑NF 18/80, kommen daher auch im Anlassfall zur Anwendung.

3.1  Dem Kläger ist ein Wohnsitzwechsel aus medizinischen Gründen (wegen der Notwendigkeit eines stabilen sozialen Umfeldes für Versicherte mit psychischen Erkrankungen) nicht mehr möglich. Der Umstand, dass ihm ein solcher Wohnsitzwechsel dann möglich ist, wenn seine Gattin mit ihm umzieht, gehört dem individuellen familiären Umfeld des Klägers an, sodass er für die Beurteilung der Frage der geminderten Arbeitsfähigkeit grundsätzlich keine Bedeutung hat. Daran ändert nichts, dass eine positive Entscheidung der Gattin, mit dem Kläger umzuziehen, im konkreten Fall auch das beim Kläger bestehende medizinische Hindernis für einen Umzug „beseitigt“.

3.2  Ebenso wenig, wie das familiäre Umfeld zugunsten des Klägers gewertet werden dürfte, darf es auch nicht zu Lasten des Klägers ins Treffen geführt werden. Die Berücksichtigung der Ehe des Klägers hätte sonst zur Folge, dass der Kläger etwa gegenüber einem unverheirateten Versicherten, dem die Übersiedlung aus medizinischen Gründen nicht möglich ist, ungünstiger gestellt wäre. Dasselbe gilt, wenn man die Situation des Klägers mit der eines Versicherten vergleicht, der in Lebensgemeinschaft lebt, weil den Lebensgefährten keine Folgepflicht iSd § 92 Abs 1 ABGB trifft. Eine solche ungünstigere Behandlung des Klägers aufgrund seiner familiären Umstände ist aber ebenso wenig zulässig wie eine allfällige günstigere Behandlung – zB der Klägerin in 10 ObS 213/91 aufgrund ihrer familiären Situation (sie lebte seit Jahrzehnten an ihrem Wohnsitz, dort lebten auch ihre acht Kinder) – zulässig gewesen wäre.

3.3  Da der Umstand, dass der Kläger verheiratet ist und seine Ehegattin grundsätzlich eine Folgepflicht iSd § 92 Abs 1 ABGB trifft (10 ObS 324/90), seiner – für die Beurteilung der Minderung der Arbeitsfähigkeit grundsätzlich unbeachtlichen – familiären Situation angehört, kommt es nicht darauf an, ob die Ehegattin des Klägers nach den Voraussetzungen des § 92 Abs 1 ABGB im konkreten Einzelfall (vgl 9 Ob 207/99b) tatsächlich verpflichtet wäre, ihm bei einem Umzug zu folgen, oder ob sie diesem zumindest gleich wichtige Interessen entgegenhalten könnte (RIS‑Justiz RS0047286). Mit den dahingehenden Ausführungen des Revisionswerbers bedarf es daher keiner Auseinandersetzung.

3.4  Ausgehend davon sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Invaliditätspension gemäß § 255 Abs 3 ASVG im Anlassfall grundsätzlich erfüllt, weil dem Kläger ein Wohnsitzwechsel aus medizinischen Gründen nicht mehr möglich ist und auf dem für ihn erreichbaren regionalen Arbeitsmarkt keine ausreichende Anzahl an Arbeitsplätzen in den ihm noch zumutbaren Verweisungstätigkeiten besteht.

Damit erweist sich das Verfahren aber als ergänzungsbedürftig.

4.1  Stichtag ist im Anlassfall unstrittig der 1. 4. 2013. Der 1960 geborene Kläger hat am 1. 1. 2014 das 50. Lebensjahr bereits vollendet, sodass für ihn die mit dem SRÄG 2012, BGBl I 2013/3, mit Ablauf des 31. 12. 2013 aufgehobene Bestimmung des § 253e ASVG idF BGBl I 2010/111 (§ 669 Abs 2 ASVG) gemäß § 669 Abs 5 ASVG weiterhin anwendbar bleibt.

4.2  Weist der Pensionsversicherungsträger mit einem Bescheid den Antrag auf Zuerkennung einer Invaliditätspension und auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation iSd § 253e ASVG aF ab, so tritt dieser Bescheid auch dann zur Gänze außer Kraft, wenn die Klage wie hier nur den Ausspruch über die Invaliditätspension bekämpft (10 ObS 107/12a, SSV‑NF 27/9).

5.3  Stellt sich im sozialgerichtlichen Verfahren heraus, dass der Kläger invalid (§ 255 ASVG) ist, so muss das Sozialgericht von Amts wegen das Vorliegen der negativen Anspruchsvoraussetzung nach § 254 Abs 1 Z 1 ASVG idF der 75. ASVG‑Novelle, BGBl I 2010/111, (§ 669 Abs 5 ASVG) prüfen, wenn die übrigen Anspruchsvoraussetzungen für die begehrte Invaliditätspension (§ 254 Abs 1 Z 2 bis 4 ASVG idF der 75. ASVG‑Novelle, § 669 Abs 5 ASVG) erfüllt sind. Der Pensionsversicherungsträger muss nicht behaupten, dass der Kläger Anspruch auf berufliche Rehabilitation hat und die Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation zweckmäßig und zumutbar sind. Denn diese Umstände vernichten nicht den Anspruch auf die Pension, sondern ihr Vorliegen hindert das Entstehen des Pensionsanspruchs (10 ObS 107/12a, SSV‑NF 27/9).

5.4  Hängt die Entscheidung von der Beantwortung der Frage des Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen nach § 254 Abs 1 Z 1 ASVG ab, so hat das Gericht diese Frage mit den Parteien zu erörtern. Daher erweist sich die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen als unumgänglich. Sollte im fortgesetzten Verfahren strittig sein, ob der Kläger rehabilitierbar ist, wird das Erstgericht nach Erörterung der Beklagten eine angemessene Frist zur Prüfung der Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation durch den Kläger einzuräumen und allenfalls in weiterer Folge vor einer Abweisung des Klagebegehrens dem Kläger die Gelegenheit zu einer Klageänderung zu geben haben (zur genauen weiteren Vorgangsweise siehe 10 ObS 107/12a, SSV‑NF 27/9 Pkt 7 - 9).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte