OGH 1Ob47/15s

OGH1Ob47/15s28.1.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr.

 Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski, Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätin Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei F***** L*****, vertreten durch Dr. Martin Dellasega und Dr. Max Kapferer, Rechtsanwälte in Innsbruck, gegen die beklagte Partei I***** Verkehrsbetriebe ***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Paul Delazer, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen Unterlassung (Streitwert 10.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 17. Oktober 2014, GZ 3 R 269/14a‑12, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 15. Juli 2014, GZ 29 C 196/14v‑8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0010OB00047.15S.0128.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Urteilsfällung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Die beklagte Partei ist ein Verkehrsunternehmen, welches unter anderem die Straßenbahnlinien 1 und 3 in Innsbruck betreibt, die auch an jenem Haus, in dem der Kläger im Rahmen eines Mietvertrags seit 1983 wohnt, vorbeiführen. Im Jahr 2005 wurden der Beklagten die eisenbahnrechtliche Baugenehmigung und die Betriebsbewilligung für die Änderung der Gleisanlage erteilt, die im Bereich des genannten Hauses erheblich verändert und mit zusätzlichen Weichen versehen wurde; die Frage von Lärmemissionen wird in der Bescheidbegründung nicht angesprochen. Mit Bescheid vom 28. 6. 2010 wurde der Beklagten die eisenbahnrechtliche Baugenehmigung für die Verlängerung der Straßenbahnlinie 3 erteilt. Im Bewilligungsbescheid wurde festgestellt, dass der durch die Ausführung und Inbetriebnahme des Bauvorhabens entstehende Vorteil für die Öffentlichkeit größer sei als die den Parteien durch die Ausführung und Inbetriebnahme des Bauvorhabens entstehenden Nachteile. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass bereits im vorangegangenen ‑ im Verfahren nicht vorgelegten ‑ Konzessionsbescheid vom 10. 2. 2010 das öffentliche Interesse „befürwortet“ worden und für die Erteilung der Konzession maßgebend gewesen sei; in diesem Bescheid sei gemäß § 14 EisbG die Konzession zum Bau und Betrieb der Straßenbahn im Sinne einer Zusammenführung und Streckenerweiterung der bestehenden Konzessionen der Straßenbahnlinien 1, 3 und 6 verliehen worden. Eine Gesundheitsgefährdung, die im Bewilligungsverfahren durch die Anordnung von Schutzmaßnahmen zu berücksichtigen wäre, sei nicht zu erwarten, da die Grenzwerte entsprechend SchIV und „ÖNORM S 9012 Schienenverkehrslärm“ (60 dB) nicht überschritten würden, zumal die Immissionen im herrschenden Straßenverkehrslärm (bis zu 74 dB) untergingen. Erschütterungsimmissionen würden durch die neuen Straßenbahngarnituren um 50 bis 80 % geringer als jene durch die alten Triebwagen. Einwendungen einzelner Anrainer betreffend Lärmimmissionen wurden in diesem Bescheid mit der Begründung, dass eine Gesundheitsgefährdung nicht zu erwarten sei, „auf den Zivilrechtsweg verwiesen“; weitere Einwendungen wurden mangels Parteistellung der Einschreiter gemäß § 31e EisbG iVm § 8 AVG zurückgewiesen. Weder der Kläger noch die Vermieterin und Hauseigentümerin hatten in den Genehmigungsverfahren Parteistellung. Der Kläger fühlt sich insbesondere seit der Verlängerung der Linie 3 erheblich gestört und beanstandet, dass den Aspekten des Schallschutzes und des Erschütterungsschutzes auch bei gewöhnlichem Fahrbetrieb nicht hinreichend Rechnung getragen werde. Er sieht auch die Lärmentwicklung durch Schienenschleifarbeiten und Schienenreinigungsarbeiten als übermäßig und unzumutbar an. Die Reinigungsarbeiten wurden in den Jahren 2012 und 2013 in den Nachtstunden vorgenommen, mittlerweile aber unter Verwendung einer Spezialmaschine tagsüber. Schweiß- und Schleifarbeiten finden ca einmal im Jahr statt und dauern eine Woche. Sie dienen ua dazu, durch Maßnahmen zur Anhebung der Räder der Straßenbahn die Lärmentwicklung zu vermindern; das Aufschweißen ist eine übliche und standardisierte Erhaltungsmaßnahme. Zusätzlich werden einmal im Jahr Schienenschleifarbeiten durchgeführt, bei denen sogenannte „Riffeln“ im Kurvenverlauf glattgeschliffen werden, was ebenfalls der Vermeidung [bzw Verringerung] von Lärmimmissionen dient. Die Schweiß‑ und Schleifarbeiten werden in der Nacht nach dem jeweiligen Betriebsschluss durchgeführt, weil sie sich während des Regelbetriebs nicht verwirklichen lassen. Die Schienen wurden im Jahr 2005 „nach den Regeln der Technik und“ entsprechend den Bescheiden in einem speziellen Dämmverfahren verlegt, das damals den Stand der Technik repräsentierte. Mittlerweile gibt es leisere Systeme, die allerdings teurer sind.

Der Kläger begehrte nun von der Beklagten unter Berufung auf § 364 Abs 2 ABGB die Unterlassung folgender Einwirkungen im Bereich der von ihm bewohnten Liegenschaft:

1. des Bewirkens von direktem und sekundärem Luftschall durch die Eisenbahnanlage samt Straßenbahngarnituren in einem Maße, das ortsunüblich und gesundheitsgefährdend ist und den gesetzlichen Bestimmungen und den Bescheidauflagen der Anlage zuwiderläuft;

2. der Wartung und Instandhaltung der Eisenbahnanlage durch Kehr‑ und Schleifmaschinen, wenn bei diesen Arbeiten in der Zeit zwischen 22:00 Uhr und 6:00 Uhr ein Schallpegel von 35 dB überschritten wird.

Er brachte dazu im Wesentlichen vor, er sei seit Inbetriebnahme der aufgrund des Bescheids aus dem Jahr 2010 errichteten Fahrleitungsanlage mit unzumutbaren und gesundheitsgefährdenden Lärmimmissionen konfrontiert, wobei es beim täglichen Betrieb der Straßenbahn zu Immissionen von bis zu 90 dB käme. Zudem seien ‑ offenkundig aufgrund eines Konstruktionsfehlers ‑ in seiner Wohnung Erschütterungen fühl‑ und hörbar, welche das ortsübliche Maß bei weitem überschreiten und gesundheitsgefährdend seien. Bei den nächtlichen Schleif- und Kehrarbeiten werde ein Schallpegel von 80 bis 89 dB erreicht; diese Immissionen seien ebenso ortsunüblich, gesundheitsgefährdend und würden die „gesetzlichen Werte“ bei weitem überschreiten. Bei der Errichtung der Anlage seien keine schalldämmenden Materialien verbaut worden; die „vorgeschriebenen Schallschutzwerte“ würden bei weitem überschritten. Die erhobenen Unterlassungsansprüche seien nicht gemäß § 364a ABGB ausgeschlossen, weil keine genehmigte Anlage im Sinne dieser Bestimmung vorliege, habe er doch keine Möglichkeit einer Beteiligung am Bewilligungsverfahren gehabt.

Die Beklagte bestritt die aktive Klagelegitimation, weil einem Mieter kein Unterlassungsanspruch nach § 364 ABGB zustehe. Der Kläger sei zudem zu einem Zeitpunkt in die Wohnung gezogen, zu dem die Straßenbahnlinien bereits lange existiert hätten, und habe daher schon deshalb die mit dem Straßenbahnbetrieb verbundenen Auswirkungen hinzunehmen. Anlässlich der Änderung der Gleisführung seien die Gleise lärm‑ und erschütterungsgedämmt verlegt worden, womit es sogar zu einer Verbesserung des Lärmschutzes gekommen sei. Auch die ab dem Jahr 2008 verwendeten neuen Triebwägen hätten ein entsprechendes Bewilligungsverfahren durchlaufen und würden seit Ende 2012 auch auf der neuen Streckenführung eingesetzt. Den Unterlassungsbegehren stehe auch der Umstand entgegen, dass es sich um eine bewilligte Anlage im Sinn des § 364a ABGB handle und die Beklagte alle in den Bewilligungsbescheiden genannten Werte und Grenzen einhalte. Es bestehe auch keine Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers, den Einsatz von Kehr‑ und Schleifmaschinen auf bestimmte Tageszeiten oder bestimmte dB‑Zahlen zu beschränken.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Grundsätzlich komme auch einem Mieter als Nachbarn Aktivlegitimation für Unterlassungsansprüche nach § 364 ABGB zu. Bei Immissionen aus behördlich bewilligten Anlagen trete an die Stelle des Unterlassungsanspruchs allerdings ein schadensvergütender verschuldens-unabhängiger nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch, ähnlich einer Enteignungsentschädigung. § 364a ABGB betreffe dabei die für den genehmigten Betrieb typischen Immissionen. Entgegen der Auffassung des Klägers sei seine Parteistellung im Genehmigungsverfahren nicht Voraussetzung für die Wirkungen des § 364a ABGB. Es sei Sache des öffentlichen Rechts, in welcher Weise es auf die Interessen der Betroffenen Rücksicht nimmt. Entscheidend sei, dass die Verhinderung der Immissionen Gegenstand des Behördenverfahrens gewesen und dort geprüft worden sei. Auch eine allenfalls unzureichende Ausgestaltung des behördlichen Verfahrens im Hinblick auf den Rechtsschutz der Nachbarn müsse nicht zwangsläufig zum Ergebnis führen, dass jeder einzelne Nachbar das Ergebnis des Verwaltungsverfahrens durch die Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs in Frage stellen könne.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung, sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands einzeln und zusammengerechnet 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige, und erklärte die ordentliche Revision für zulässig. Vom Vorliegen einer behördlich genehmigten Anlage im Sinn des § 364a ABGB sei grundsätzlich nur dann auszugehen, wenn die Genehmigung in einem Verfahren erfolgte, in welchem die Berücksichtigung der Interessen der Nachbarn in derselben oder in gleich wirksamer Weise vorgesehen sei, wie im Verfahren zur Genehmigung von Betriebsanlagen nach der Gewerbeordnung. Für Eisenbahnanlagen werde der Wegfall des Unterlassungsanspruchs in der Lehre teilweise bezweifelt. Der VwGH vertrete in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass die Gefahr einer Beeinträchtigung durch Immissionen für sich allein keine Parteistellung im eisenbahnrechtlichen Sinne zu begründen vermöge und dass im eisenbahnrechtlichen Bauverfahren Einwendungen der Anrainer betreffend Lärm und andere Immissionen keine nach dem EisbG gewährleisteten und im Verwaltungsverfahren zu berücksichtigenden subjektiven öffentlichen Rechte beträfen und allenfalls im zivilrechtlichen Weg, „etwa nach § 364a ABGB“, geltend zu machen seien; Erfordernisse des Immissionsschutzes seien im Bewilligungsverfahren amtswegig zu ermitteln und von der Behörde von Amts wegen vorzuschreiben. Im vorliegenden Fall sei eine bescheidmäßige Genehmigung erfolgt, der eine Bedachtnahme der Behörde auf die Anrainerinteressen zugrundegelegen sei. Auch wenn diesen nicht explizit Parteistellung eingeräumt werde, sei dennoch von einer behördlich genehmigten Anlage auszugehen. Eine nachträgliche Befassung des ordentlichen Gerichts mit Immissionsfragen, die bereits im verwaltungsbehördlichen Genehmigungsverfahren abgehandelt wurden, erscheine jedenfalls systemwidrig. Sollten hier tatsächlich Einwirkungen durch Lärm oder Erschütterungen vorliegen, die das den örtlichen Verhältnissen gewöhnliche Maß übersteigen, könnten Nachbarn nach § 364a ABGB Ersatz des zugefügten Schadens verlangen; für einen Unterlassungsanspruch nach § 364 ABGB verbleibe aber kein Raum. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil zur Frage der Anwendung des § 364a ABGB auf Eisenbahnanlagen keine eindeutige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen erhobene Revision des Klägers ist aus dem vom Berufungsgericht angeführten Grund zulässig und im Sinne des gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Entgegen der Auffassung der Revisionsgegnerin steht nach herrschender Rechtsprechung auch einem Mieter ein Unterlassungsanspruch nach § 364 Abs 2 ABGB zu, wenn die von ihm genutzte Liegenschaft durch Immissionen von einem Nachbargrundstück beeinträchtigt wird (vgl nur RIS‑Justiz RS0010644, RS0010655). Dass der Kläger nach erstmaliger Aufnahme eines Straßenbahnbetriebs zugezogen ist, kann im vorliegenden Fall schon deshalb nicht schaden, weil er ja behauptet, die Lärmimmissionen hätten erst seit dem Jahr 2010 aufgrund einer erheblichen Zunahme ein unzumutbares Ausmaß erreicht. Ob mit den nunmehr beanstandeten Lärmbeeinträchtigungen beim Straßenbahnbetrieb und bei Reinigungs‑ und Reparaturarbeiten von vornherein gerechnet werden musste, kann naturgemäß erst beurteilt werden, wenn Ausmaß und Intensität der nunmehrigen Immissionen feststehen und ein Vergleich mit dem früheren Niveau möglich ist.

Zur Frage, ob sich der Betreiber einer Eisenbahnanlage auf die Anwendbarkeit des § 364a ABGB berufen kann, hat das Berufungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber in erster Linie die Genehmigung einer Betriebsanlage nach den Bestimmungen der Gewerbeordnung im Auge hatte, auch wenn dies im Gesetzeswortlaut nicht zum Ausdruck kommt, der lediglich allgemein auf die behördliche Genehmigung einer (Betriebs‑)Anlage abstellt. In der Rechtsprechung wurde daher häufig formuliert, Unterlassungsansprüche seien regelmäßig nur dort ausgeschlossen, wo der Bewilligung ein Verfahren zugrundelag, in welchem die Berücksichtigung der Interessen der Nachbarn in derselben oder in gleich wirksamer Weise vorgesehen war wie im gewerberechtlichen Anlagengenehmigungsverfahren (vgl nur RIS‑Justiz RS0010682). In der zu 8 Ob 135/06w = SZ 2007/106 = RdU 2008/42 [krit Kerschner] = wobl 2007/124 [krit Vonkilch] ergangenen Entscheidung, in der es um Lärmimmissionen von einem Militärflugplatz ging, wurde hingegen ausgesprochen, dass es gewichtige Argumente für die Auffassung gebe, die Gewährung einer Parteistellung des Anrainers im Anlagengenehmigungsverfahren sei nicht zwingende Voraussetzung für die Anwendung des § 364a ABGB und es sei Sache des öffentlichen Rechts, festzulegen, in welcher Weise es auf die Interessen der Betroffenen Rücksicht nimmt. In einer Entscheidung zu Eisenbahnlärm (2 Ob 57/09k) setzte sich der Oberste Gerichtshof zwar mit der Rechtsprechung und Literatur zur Frage der Anwendungsvoraussetzungen des § 364a ABGB auseinander, musste diese aber für Eisenbahnanlagen nicht beantworten, weil er aus anderen Gründen zu einer Klageabweisung gelangte.

Der aktuelle Meinungsstand zur Frage, unter welchen Voraussetzungen im Allgemeinen von einer „genehmigten Anlage“ iSd § 364a ABGB auszugehen ist, wurde in der Entscheidung zu 8 Ob 128/09w (= SZ 2010/112 = JBl 2011, 234 [Wagner] = RdU 2011/45, 71 [Kisslinger] ua) ausführlich wiedergegeben, weshalb eine Wiederholung hier unterbleiben kann. Der achte Senat bejahte schließlich das Erfordernis einer Parteistellung des betroffenen Anrainers im Bewilligungsverfahren für die Anwendbarkeit des § 364a ABGB. Da es im dort zu entscheidenden Fall um einen von einem privaten Unternehmen betriebenen Hubschrauberlandeplatz ging, bestand keine Veranlassung, sich damit auseinanderzusetzen, ob auch für sogenannte „gemeinwichtige“ Betriebe oder Anlagen, hinter denen ‑ wie auch hier ‑ häufig Gebietskörperschaften stehen, am Erfordernis der Parteistellung des beeinträchtigten Nachbarn im Bewilligungsverfahren festzuhalten ist.

Wie bereits dargelegt, hatte der Gesetzgeber bei Schaffung des § 364a ABGB ‑ ausgelöst durch die fortschreitende Industrialisierung (vgl nur E. Wagner, Die Betriebsanlage im zivilen Nachbarrecht 79) ‑ einen typischen Interessenkonflikt zwischen privaten Grundeigentümern zu lösen, von denen einer eine Betriebsanlage im eigenen wirtschaftlichen Interesse errichten und betreiben will, was mit den entgegengesetzten Interessen der Nachbarn in Widerstreit gerät, die keine Beeinträchtigung ihrer Liegenschaften durch die von der Anlage ausgehenden Emissionen hinnehmen wollen. Unter der Annahme eines in der Regel ins Gewicht fallenden volkswirtschaftlichen Interesses am Betrieb der Anlage entschied der Gesetzgeber insoweit zu Gunsten des Anlagenbetreibers, als die Nachbarn die von einer den einschlägigen Verwaltungsvorschriften entsprechenden und daher behördlich bewilligten Anlage ausgehenden typischen Einwirkungen nicht unter Berufung auf § 364 Abs 2 ABGB untersagen lassen können, sondern insoweit auf einen Ausgleichsanspruch zur Abgeltung ihrer durch die Immissionen bewirkten Vermögensnachteile verwiesen werden. Welche Einwirkungen die Nachbarn im Einzelnen zu dulden haben, ergibt sich einerseits aus dem Gegenstand der jeweiligen Anlage und andererseits aus der konkreten behördlichen Genehmigung.

Wiederholt wurde aufgezeigt, dass der Gesetzesbegriff der „behördlich genehmigten Anlage“ zwar auch ‑ sogar als „Prototyp“ ‑ industrielle und gewerbliche Betriebsanlagen erfasst, aber keineswegs auf diese beschränkt ist. Anlagengenehmigungen in anderen Bereichen haben aber häufig davon erheblich abweichende Interessenabwägungen zum Gegenstand. So wird etwa in der Literatur zwischen hoheitlich betriebenen Anlagen, gemeinwichtigen Anlagen, volkswirtschaftlich bedeutenden Anlagen und solchen Anlagen unterschieden, die bloß im Interesse eines Einzelnen betrieben werden (vgl nur E. Wagner, Betriebsanlage 148 f). Je höher das allgemeine Interesse am Betrieb der betreffenden Anlage ist, desto weniger Bedeutung kommt dem Immissionsschutz der Nachbarn zu, denen es im Allgemeininteresse durchaus zugemutet werden kann, in gewissem Rahmen das Maß des § 364 Abs 2 ABGB übersteigende Einwirkungen ohne Abwehrmöglichkeit hinnehmen zu müssen. Insbesondere wenn die einschlägigen verwaltungsrechtlichen Vorschriften eine amtswegige Bedachtnahme auf die Interessen der Nachbarn vorsehen, kann die betreffende Anlage ‑ entsprechend dem weiten Wortlaut des § 364a ABGB ‑ bei behördlicher Genehmigung auch dann die einschlägigen Rechtsfolgen auslösen, wenn dem betroffenen Nachbarn im Bewilligungsverfahren keine Parteistellung zuerkannt wird. Schließlich könnte er auch als Partei die ihm nach § 364 Abs 2 ABGB sonst zukommenden Abwehrrechte nicht durchsetzen, soweit ihm die einschlägigen Verwaltungsvorschriften auch stärkere Belastungen durch die bewilligte Anlage zumuten.

Schon wegen der damaligen Bedeutung von Eisenbahnen ist nicht anzunehmen, dass der historische Gesetzgeber der dritten Teilnovelle zum ABGB beeinträchtigten Nachbarn zwar ihre sonst bestehenden Unterlassungsansprüche bei Vorliegen einer behördlichen Genehmigung für eine gewerbliche Betriebsanlage nehmen, ihnen diese aber bei Eisenbahnanlagen ‑ zu denen auch Straßenbahnen gehören ‑ belassen wollte. Vielmehr sah das Gesetz vom 8. 8. 1910 über Bahnen niederer Ordnung (RGBl 1910/149), zu denen auch elektrische Straßenbahnen gehörten, in Art I vor, dass solchen Lokalbahnen im Zuge der Konzessionierung alle tunlichen Erleichterungen zu gewähren sind. Auf Anrainerinteressen sollte bei der Bewilligung nur insoweit Bedacht genommen werden, als es um Feuersgefahr und sonstige Beschädigungen infolge der Anlage und deren Betriebs ging (Art XXIX Z 3).

Als Indiz für ein besonderes Allgemeininteresse an einer somit „gemeinwichtigen“ Anlage kann etwa die Möglichkeit des Betreibers zur allenfalls notwendigen Enteignung zu Zwecken des Anlagenbaus und ‑betriebs herangezogen werden (so etwa E. Wagner, Betriebsanlage 146 f; Aicher in Funk/Aicher/Novak, Militärische Luftfahrt und Verfassung 129), ebenso eine gesetzlich angeordnete Betriebspflicht (vgl §§ 2, 22 EisbG). Weiters kann gerade der Umstand, dass die einschlägigen Verwaltungsvorschriften eine Verfahrensbeteiligung der Nachbarn nicht vorsehen, das besonders hohe öffentliche Interesse dokumentieren. Diese Kriterien sind bei Eisenbahnen erfüllt, die in der Lehre auch überwiegend dem § 364a ABGB unterstellt werden (Klang in Klang 2 II 174; Holzner in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.02 § 364a Rz 4; Koziol‑Welser/Kletečka, Bürgerliches Recht I14 Rz 903; E. Wagner, Betriebsanlage 215 ff ua). Für Straßenbahnanlagen in geschlossenen Wohngebieten kommt noch hinzu, dass diese ‑ offenbar wegen des besonderen Allgemeininteresses an Nahverkehr und an einer Zurückdrängung des Individualverkehrs ‑ sogar ausdrücklich von der Umweltverträglichkeitsprüfung ausgenommen sind (Z 10 des Anhangs zum UVP‑G). Auch daraus ist die gesetzgeberische Wertung klar erkennbar, dass bei derartigen Anlagen die Interessen möglicherweise nachteilig betroffener Anrainer hinter jene der Allgemeinheit zurückzutreten haben.

Der erkennende Senat schließt sich für den genehmigten Betrieb von Straßenbahnen daher der dargelegten Auffassung an, dass bei „gemeinwichtigen“ Anlagen, also bei gegenüber dem „Normalfall“ des § 364a ABGB (gewerbliche Betriebsanlage) erheblich gesteigertem öffentlichen Interesse am Betrieb einer (Verkehrs‑)Einrichtung, Unterlassungsansprüche nach § 364 Abs 2 ABGB grundsätzlich auch dann ausgeschlossen sind, wenn den betroffenen Nachbarn keine verfahrensrechtliche Parteistellung eingeräumt wird, im Bewilligungsverfahren auf ihre schutzwürdigen Interessen aber immerhin generell Rücksicht zu nehmen ist (so etwa Spielbüchler in Rummel I 3 § 364a ABGB Rz 4 mwN; E. Wagner , Betriebsanlage 221 ff; Pestal‑Czedik‑Eysenberg/Bernegger , Zur Reichweite der Duldungspflicht von durch Eisenbahnanlagen hervorgerufenen Lärmemissionen, ecolex 2010, 1033 [1035]; vgl aber Kerschner/Wagner in Klang 3 § 364a Rz 119 f und 53 ff). In diesem Sinn hat schon das Berufungsgericht zutreffend hervorgehoben, dass auch im eisenbahnrechtlichen Genehmigungsverfahren eine Bedachtnahme auf Anrainerinteressen vorgesehen ist. Nach § 14a Abs 3 EisbG 1957 darf die Konzession nur verliehen werden, wenn öffentliche Interessen nicht entgegenstehen oder das öffentliche Interesse an der Erbauung und dem Betrieb der geplanten Eisenbahn die entgegenstehenden Interessen überwiegt (Gemeinnützigkeit der Eisenbahn). Dieser Grundsatz muss auch in Verfahren beachtet werden, in denen es um die Erweiterung der Konzession bzw die damit verbundene Bewilligung von Umbau‑ oder Ausbaumaßnahmen geht. Dass im städtischen Bereich das Ruhebedürfnis der an der Straßenbahnlinie wohnenden Menschen mitzuberücksichtigen ist, kann keinem Zweifel unterliegen, liegt doch auch der Erhalt von lebenswerten Wohngebieten im öffentlichen Interesse. Darüber hinaus ergibt sich die Verpflichtung zur Bedachtnahme auf Anrainerinteressen auch aus § 19 EisbG, dessen Abs 4 Grundlage für die Schienenverkehrslärm‑Immissionsschutzverordnung (SchIV, BGBl 1993/415) war (s insbesondere deren § 5).

Auch eine behördliche Betriebsanlagen-genehmigung berechtigt den Anlagenbetreiber aber nicht zu Immissionen jeglicher Art und Intensität. Es ist vielmehr anerkannt, dass die Duldungspflicht der Nachbarn schon nach der ratio der Regelung des § 364a ABGB mit der Reichweite der erteilten Genehmigung begrenzt ist (s nur Spielbüchler aaO mit Judikaturnachweisen; Eccher/Riss in KBB4 § 364a ABGB Rz 4 unter Hinweis auf 3 Ob 534/90 = SZ 63/133 und 6 Ob 109/02a = SZ 2002/85): Werden von der Behörde bestimmte Grenzwerte festgesetzt, sind diese jedenfalls einzuhalten. Ansonsten sind von den Nachbarn (nur) solche Immissionen hinzunehmen, die für den Betrieb der genehmigten Anlage typisch sind und auch nicht durch zumutbare Vorkehrungen hintangehalten oder verringert werden können.

Der Kläger hat sich unter anderem darauf berufen, die seit dem Umbau der Gleisanlage im Kreuzungsbereich erheblich angestiegenen Lärmimmissionen erreichten Werte von bis zu 90 dB beim täglichen Betrieb; sie seien damit gesundheitsgefährdend und überschritten die „gesetzlichen Werte“ bei weitem. Auch bei den nächtlichen Schleif‑ und Kehrarbeiten werde ein Schallpegel von 80 bis 85 dB erreicht. Die Beklagte hat demgegenüber die Auffassung vertreten, es sei sogar zu einer wesentlichen Verbesserung im Bereich des Lärm‑ und Erschütterungsschutzes gekommen und die vom Kläger beklagten Lärmimmissionen seien beim bewilligungsgemäßen Betrieb der Straßenbahn nicht vermeidbar.

Ob der Kläger ‑ im Sinne der obigen Ausführungen ‑ die Lärmimmissionen hinzunehmen hat, kann mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen der Vorinstanzen nicht beurteilt werden. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren vorerst festzustellen haben, inwieweit die Klagebehauptungen zu übermäßigen, vermeidbaren und gesundheitsgefährdenden Schallimmissionen zutreffen und ob sich die Lärmintensität gegenüber jenem Zeitpunkt, zu dem der Kläger die Mietwohnung bezogen hat, erhöht hat. Bei der Beurteilung der zuletzt genannten Frage ist nicht ausschließlich auf gelegentliche Lärmpegelspitzen abzustellen, sondern eine Gesamtbetrachtung der vom Straßenbahnverkehr ausgehenden Lärmbelästigung anzustellen. Sollte sich ergeben, dass die derzeitigen Lärmimmissionen das vorher ortsübliche Ausmaß (einschließlich des bisherigen Straßenbahnlärms) überschreiten und die ortsübliche Benutzung der Wohnung wesentlich beeinträchtigen, wird weiters zu klären sein, welche Immissionen ‑ als ausdrücklich zugelassene oder zumindest typische Auswirkungen des Straßenbahnbetriebs - von der erteilten Betriebsbewilligung gedeckt sind. Hier wird der Kläger auch noch zur Klarstellung aufzufordern sein, welche „gesetzlichen Bestimmungen und Bescheidauflagen“ verletzt sein sollen.

In diesem Zusammenhang ist schon jetzt festzuhalten, dass es grundsätzlich keinen Bedenken begegnet, dass Schweiß‑ und Schleifarbeiten in den Nachtstunden durchgeführt werden, soweit diese aus verkehrstechnischen Gründen während der Betriebszeiten nicht erfolgen können. Gerade bei diesen nächtlichen Arbeiten ist allerdings im besonderen Maße darauf zu achten, dass sie unter möglichster Berücksichtigung des Schlafbedürfnisses der betroffenen Anrainer durchgeführt werden. Abgesehen davon, dass solche Arbeiten nur bei objektiver Notwendigkeit durchzuführen sind, sind dabei auch alle wirtschaftlich zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um die Lärmbelästigung gering zu halten. Ob es dabei möglich ist, den vom Kläger ‑ ohne nähere Begründung ‑ angeführten Schallpegel von 35 dB nicht zu überschreiten, kann erst nach Einholung eines entsprechenden Sachverständigengutachtens beantwortet werden. Vorher wird er klarzustellen haben, aus welchem Grund er die genannte Obergrenze überhaupt für maßgeblich hält. Soweit höhere Werte mit zumutbaren Mitteln nicht zu vermeiden sind, hat der Kläger auch diese hinzunehmen.

Entsprechendes gilt auch für den vom Kläger beklagten Lärm durch den Straßenbahnbetrieb an sich. Sollte sich ergeben, dass durch diesen die vom Bewilligungsbescheid gedeckten Schallwerte überschritten werden, wäre der Unterlassungsanspruch insoweit zu bejahen. Soweit der Bescheid derartige Werte nicht enthält, aber ‑ nach den Klagebehauptungen im Kreuzungsbereich ‑ eine Lärmbelästigung besteht, die das bisher ortsübliche Ausmaß in einer die Wohnungsnutzung wesentlich beeinträchtigenden Weise übersteigt, wird zu prüfen sein, inwieweit es möglich und für die Beklagte zumutbar ist, den Lärmpegel zu senken. Dies könnte möglicherweise durch besonders langsames Überfahren besonders lärmverursachender Schienenabschnitte erfolgen. Durch zumutbare Maßnahmen vermeidbare Immissionen sind von einer generellen Anlagengenehmigung in der Regel nicht gedeckt.

Entgegen teilweise vertretener Auffassung(s etwa die in 8 Ob 128/09w unter Pkt II. 4.5.2. zitierten Literaturstellen) würde mit einem klagestattgebenden Unterlassungsurteil keineswegs in die von der Verwaltungsbehörde rechtskräftig eingeräumte Rechtsposition des Eisenbahnunternehmers eingegriffen werden, wird die Gültigkeit der Betriebsbewilligung davon doch in keiner Weise beeinflusst und steht es ihm ‑ wie auch sonst bei Unterlassungsansprüchen ‑ frei zu entscheiden, durch welche Maßnahmen er einen gegenüber dem Unterlassungsberechtigten gesetzmäßigen Zustand herstellen will (vgl RIS‑Justiz RS0010566 [T2]).

Im fortgesetzten Verfahren wird der Kläger schließlich darauf hinzuweisen sein, dass das erste Unterlassungsbegehren nicht ausreichend bestimmt formuliert wurde, wird darin doch in keiner Weise das vom Kläger für übermäßig angesehene Ausmaß der Schallbeeinträchtigung konkretisiert, sondern bloß allgemein auf die Ortsunüblichkeit und Gesundheitsgefährdung sowie auf Verstöße gegen (nicht näher genannte) gesetzliche Bestimmungen und (ebenfalls nicht eindeutig dargestellte) Bescheidauflagen verwiesen. Es ist aber nicht Aufgabe der Gerichte, von Amts wegen den Umfang eines allfälligen Unterlassungsanspruchs des Klägers festzustellen (s etwa RIS‑Justiz RS0010509, RS0000878).

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte