Spruch:
1. Die Revision wird, soweit sie Nichtigkeit geltend macht, zurückgewiesen.
2. Im Übrigen wird der Revision der klagenden Partei Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass das Zwischenurteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger geriet am 11. 12. 2002 im Betrieb der K***** Holz AG an einer Keilzinkmaschine mit dem rechten Unterarm in eine rotierende Fräseinrichtung, wodurch ihm der rechte Unterarm komplett abgetrennt wurde.
Zum Unfallszeitpunkt war der Gefahrenbereich der Fräsen an der Maschine durch eine Schaltafel abgesichert, die - ca 0,4 m von einem Stiegenabgang entfernt - zwischen Fräseinheit und Begrenzung des Stiegenabgangs montiert war. Die obere Kante der Schaltafel befand sich ca 1,3 m über dem Bodenniveau. An der Oberseite war der Zugang zu den Fräseinheiten nicht abgedeckt. Direkt vor der Fräseinheit führte ein Stiegenabgang ohne Geländer vorbei. Ohne diesen Übergang hätte die Fördereinrichtung umgangen werden müssen; die Weglänge hätte 30 - 40 m betragen. Die unterste Stufe des Übergangs befand sich rund 30 cm über dem Boden, sodass zwischen dieser Stufe und der Oberkante der Schaltafel nur mehr ein Abstand von ca 1 m bestand. Die Schaltafel war im Bereich der Fräsköpfe ca 1 - 2 cm niedriger als ein rechts an diese anschließender Blechkasten. Der Abstand der Fräsköpfe betrug ca 8 - 10 cm. Die Fräsköpfe waren zum Unfallszeitpunkt nicht nur von oben, sondern auch von der Seite problemlos erreichbar; eine stirnseitige Absicherung gab es im Bereich des Auslaufs des Holzes nicht. Die mangelnde Absicherung widerspricht (Anm: laut dem eingeholten Sachverständigengutachten) § 19 der Maschinenschutzverordnung und § 32 der Allgemeinen Arbeitnehmerschutzverordnung und wäre erkennbar gewesen. Am Unfalltag (11. 12. 2002) bestand die Aufgabe des Klägers an der Keilzinkmaschine darin, die Maschine zu überwachen und darauf zu achten, „dass alles läuft". Im Fall eines Nichtfunktionierens der Maschine hatte er dafür Sorge zu tragen, dass sie wieder funktionierte. Vor dem Unfall hatte er mit dem Einzelschalter die Fräse ausgeschaltet, die Fräse repariert und wieder eingeschaltet. Dann merkte er, dass die Maschine verstopft war und die Fräse auch nicht mehr so gut funktionierte. Da die Presse rauchte, wollte er - damit sie nicht abbrennt - auf dem kürzesten Weg zum Schaltkasten gehen, um die Leimwalzen auszuschalten und Leim nachzufüllen. Dieser kürzeste Weg führte über den Übergang über der Maschine. Es war durchaus üblich, direkt über den Übergang zu gehen, um sich den Weg um die 15 m lange Anlage zu ersparen.
Der Kläger geriet aus ungeklärter Ursache mit seinem rechten Arm in die Fräse; es ist nicht eruierbar, ob er stolperte. Beim Drübergehen konnte man sich nirgends anhalten.
Zum Unfallszeitpunkt war Karoline P***** Sicherheitsfachkraft im Unternehmen. Als sie bei der Überprüfung der Anlage feststellte, dass die Fräse weder von oben noch stirnseitig abgedeckt war, teilte sie den Herren Hubert E***** (Anm: einem Schichtleiter) und Manfred O***** (Anm: dem Leiter des technischen Dienstes) von der Firma K***** mit, dass dann, wenn der Übergang wirklich benützt werde, Seitenwehren angebracht werden müssten; andernfalls müsste die Stiege entfernt und der Verkehrsweg rund um die Maschine herumgeführt werden. Sie wurde davon informiert, dass die Arbeiter den Übergang nicht benützen würden. Hubert E***** wies sie noch darauf hin, dass er mit den Arbeitnehmern abklären werde, dass der Übergang dann, wenn die Arbeiter ihn behalten wollen, nachgerüstet werden müsse. Bis zum Unfall des Klägers wurde nicht nachgerüstet, da andere Dinge wesentlich wichtiger waren.
Nach dem Unfall wurde die Fräse völlig abgesichert, indem die seitlichen Absicherungen in Form von Brettern bzw Gittern erhöht wurden und auch die Oberseite gesichert wurde. Die seinerzeitige Treppe mit dem Überstieg wurde entfernt.
Dem Kläger wurde bei dem Unfall der rechte Unterarm komplett abgetrennt. Er bezieht von der beklagten Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt eine 70 %ige Versehrtenrente als Dauerrente samt Nebenleistungen.
Mit Bescheid vom 1. 3. 2005 hat die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt die Gewährung einer Integritätsabgeltung wegen der Folgen des Arbeitsunfalls mit der Begründung abgelehnt, dass der Unfall nicht durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht worden sei. Mit Zwischenurteil vom 31. 10. 2006 (ON 27) sprach das Erstgericht dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalls - ausgehend von einem grob fahrlässigen Verstoß gegen die Maschinenschutzverordnung und gegen die Allgemeine Arbeitnehmerschutzverordnung - eine Integritätsabgeltung in noch näher zu bestimmendem Ausmaß zu. Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und wies das Klagebegehren zur Gänze ab (Endurteil ON 32). Es verneinte eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften, weil nicht davon ausgegangen werden könne, dass aufgrund der objektiv vorhandenen Verstöße der Eintritt des Schadens geradezu wahrscheinlich erschienen sei. So spreche der Umstand, dass die Keilzinkmaschine, an der sich der Unfall ereignet habe, erst im Jahr 2001 vom Arbeitsinspektorat Leoben überprüft und nicht wegen fehlender Schutzvorrichtungen beanstandet worden sei, dagegen, dass der Arbeitgeber als Adressat der Arbeitnehmerschutzvorschriften einfache und naheliegende Überlegungen nicht angestellt habe.
Die Revision sei im Hinblick auf die Einzelfallproblematik nicht zulässig.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Wiederherstellung des erstinstanzlichen Zwischenurteils. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt. Als Revisionsgründe werden Nichtigkeit, Mangelhaftigkeit des Verfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtige rechtliche Beurteilung benannt. Die beklagte Partei beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, weil das Berufungsgericht die vom Obersten Gerichtshof in vergleichbaren Fällen gebildeten Rechtssätze unrichtig auf den vorliegenden Sachverhalt angewendet hat. Sie ist auch im Sinne der Wiederherstellung des erstgerichtlichen Zwischenurteils berechtigt.
1. Zur Revision wegen Nichtigkeit, Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und Aktenwidrigkeit:
Eine Nichtigkeit, in eventu Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens (und offensichtlich auch Aktenwidrigkeit) sieht der Revisionswerber darin, dass das Berufungsgericht ohne Beweisergänzung und ohne dass die Parteien die Möglichkeit einer Stellungnahme dazu gehabt hätten, von der Feststellung ausgegangen sei, dass die Keilzinkmaschine im Jahr 2001 vom Arbeitsinspektorat überprüft und nicht wegen fehlender Schutzvorrichtungen beanstandet worden sei.
Da die klagende Partei damit aber nicht völlig von der „Möglichkeit, vor Gericht zu verhandeln", ausgeschlossen wurde, sondern in der Lage war, sich zu diesen Verfahrensergebnissen zu äußern, insbesondere auch den Verfahrensfehler zu rügen, liegt darin jedoch keine Nichtigkeit iSd § 477 Abs 1 Z 4 ZPO (E. Kodek in Rechberger, ZPO3 § 477 Rz 7; siehe auch Zechner in Fasching/Konecny2 § 503 ZPO Rz 115). Es sind auch keine anderen schwere Verletzungen grundsätzlicher Verfahrensvorschriften erkennbar, denen das Gewicht einer Nichtigkeit beigemessen werden könnte.
Auch der Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit ist zu verneinen, da dieser eine Feststellung auf aktenwidriger Grundlage voraussetzen würde (E. Kodek in Rechberger, ZPO3 § 503 Rz 17; siehe auch Zechner in Fasching/Konecny2 § 503 ZPO Rz 174).
Darin, dass vom Berufungsgericht ohne förmliche Beweiswiederholung oder Beweisergänzung eine zusätzliche Feststellung getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt wurde, liegt eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens (2 Ob 75/94 = SZ 67/198 mwN; RIS-Justiz RS0042151; Zechner in Fasching/Konecny2 § 503 ZPO Rz 174). Im Hinblick auf die noch darzustellende Rechtsansicht des Obersten Gerichtshofs ist dieser Verfahrensmangel allerdings nicht wesentlich.
2. Zum Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung:
Der Revisionswerber sieht die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts als verfehlt an, weil ein objektiv und subjektiv besonders schwerer Sorgfaltsverstoß dann vorliege, wenn wiederholt Schutzvorrichtungen verlangt, aber dennoch nicht beigestellt würden. In concreto habe die Sicherheitsfachkraft zweimal die Absicherung des Übergangs urgiert, die aber dann erst nach dem Unfall angebracht worden sei. Das Verhalten der Arbeitgeberin sei daher als grob fahrlässig zu qualifizieren.
Dazu hat der Senat erwogen:
Primäre Anspruchsvoraussetzung der mit der 48. ASVG-Novelle (BGBl
1989/642) in den Leistungskatalog der gesetzlichen Unfallversicherung
aufgenommenen Integritätsabgeltung ist die Verursachung des
Arbeitsunfalls bzw der Berufskrankheit durch die grob fahrlässige
Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften (§ 213a Abs 1
ASVG) im Rahmen des vom Arbeitgeber zu vertretenden und ihm
zuzuordnenden Bereichs. Für die Anspruchsbegründung kommt es demnach
nicht darauf an, dass nachgewiesen wird, welche bestimmten Personen
den Unfall grob fahrlässig verursacht haben (10 ObS 2338/96p = DRdA
1997/38, 318 [Windisch-Graetz]; 10 ObS 304/02g = SSV-NF 16/103;
RIS-Justiz RS0106719). Jeder Arbeitsunfall, der sich im Betrieb des Arbeitgebers ereignet und jede Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften sind - unfallversicherungsrechtlich und nicht haftungsrechtlich betrachtet - im weitesten Sinn der Sphäre des Arbeitgebers zuzurechnen (10 ObS 321/98y = SSV-NF 12/150). Bei der Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrads misst die Rechtsprechung der Schwere des Sorgfaltsverstoßes und der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts besondere Bedeutung zu (10 ObS 17/95 = SSV-NF 9/11;
RIS-Justiz RS0031127). Grobe Fahrlässigkeit wird von der
Rechtsprechung im Wesentlichen dann bejaht, wenn der Arbeitgeber als
Adressat der Arbeitnehmerschutzvorschriften nach objektiver
Betrachtungsweise ex ante (7 Ob 117/03m = VersE 2015 = RIS-Justiz
RS0080414 [T6]) ganz einfache und naheliegende Überlegungen nicht
angestellt hat (10 ObS 71/05x = ARD 5648/23/2006 mwN; 10 ObS 111/05d
= ARD 5684/9/2006 = RdW 2006/558, 588; RIS-Justiz RS0052197 [T7],
RS0085228 [T6] ua). Die Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften
allein begründet nicht per se grobes Verschulden (10 ObS 84/95 =
SSV-NF 9/51; 10 ObS 254/01b = ARD 5337/10/2002; RIS-Justiz RS0052197
[T4]).
Nach § 25 Abs 2 Z 3 der Arbeitsmittelverordnung (AM-VO) in der zum Zeitpunkt des Unfalls geltenden Fassung (BGBl II 2000/164) - diese Bestimmung hat den entsprechenden § 81 Abs 2 der Allgemeinen Dienstnehmerschutzverordnung abgelöst (siehe auch § 19 der seinerzeitigen Maschinen-Schutzvorrichtungsverordnung) - sind bei Arbeiten an Fräsmaschinen für Holz oder sonstige Werkstoffe, die ähnlich bearbeitet werden können, geeignete, die Werkzeuge soweit wie möglich verdeckende Schutzeinrichtungen zu verwenden, soweit sich nicht aus § 35 Abs 1 Z 2 ASchG (diese Bestimmung enthält eine Verpflichtung zur Einhaltung der Bedienungsanleitungen sowie der elektrotechnischen Vorschriften) in Verbindung mit der Bedienungsanleitung etwas anderes ergibt.
Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass direkt vor der Fräseinheit der Maschine, an der der Kläger arbeitete, ein Stiegenabgang ohne Geländer vorbeiführte. Der Gefahrenbereich der Fräsen war durch eine Schaltafel abgesichert, die - ca 0,4 m vom Stiegenabgang entfernt - zwischen Fräseinheit und Begrenzung des Stiegenabgangs montiert war. Die obere Kante der Schaltafel befand sich ca 1,3 m über dem Bodenniveau; an der Oberseite war der Zugang zu den Fräseinheiten nicht abgedeckt.
Nun ist im „Normalbetrieb" durchaus wahrscheinlich, dass der die Strecke um die Maschine abkürzende Übergang keine besondere Gefahr darstellt. Wenn jedoch ein Arbeitnehmer beispielsweise stolpert (und damit muss auf einer Arbeitsstelle durchaus gerechnet werden), ist auch bei der gebotenen ex ante-Betrachtung die keineswegs zu vernachlässigende Gefahr zu erkennen, dass der Arbeitnehmer, der sich nicht an einem Geländer anhalten konnte, von oben mit den Fräseinrichtungen in Kontakt kommt, wodurch, auch bei einem nur geringen Versehen, ein hohes Risiko für seine körperliche Integrität eintritt, so wie es im Übrigen auch die Sicherheitsfachkraft des Unternehmens gesehen und gegenüber einem Schichtleiter und dem Leiter des technischen Dienstes artikuliert hat. Das Fehlverhalten in Form der Unterlassung der gebotenen Absicherung der Fräseinrichtungen ohne Not rechtfertigt in der konkreten Situation die vom Erstgericht angenommene grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften in der dem Arbeitgeber zuzuordnenden Bereich, zumal der Beanstandung in keiner Weise nachgegangen und keine Abhilfe geschaffen wurde.
Der Umstand, dass das Arbeitsinspektorat die Maschine nicht beanstandet hatte, führt nicht zu einer Entlastung des Arbeitgebers als (primärem) Adressaten der Arbeitnehmerschutzvorschriften. Zweifellos wurde die mehrfache reaktionslos gebliebene Beanstandung einer Gefahrensituation durch das Arbeitsinspektorat in der bisherigen Judikatur als grob schuldhaft qualifiziert (8 ObA 308/00b = Arb 12.096 = RIS-Justiz RS0030644 [T43] = RS0085373 [T10]). Daraus kann jedoch nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass das Fehlen einer Beanstandung die grobe Fahrlässigkeit des Arbeitgebers ausschlösse (vgl 8 ObA 26/03m = ARD 5434/16/2003; Neumayr in Schwimann, ABGB3 VII § 334 ASVG Rz 13 aE). Somit kommt es auf die Feststellung, dass die Keilzinkmaschine im Jahr 2001 vom Arbeitsinspektorat überprüft und nicht wegen fehlender Schutzvorrichtungen beanstandet worden sei, nicht entscheidend an. Der Revision des Klägers ist daher Folge zu geben; das erstinstanzliche Zwischenurteil ist wiederherzustellen. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gründet sich auf § 52 ZPO.
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