OGH 10ObS2338/96p

OGH10ObS2338/96p5.11.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Steinbauer als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr.Franz Zörner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr.Renate Klenner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Herbert B*****, vertreten durch Dr.Joachim W. Leupold und Mag.Eleonore Neulinger, Rechtsanwälte in Irdning, wider die beklagte Partei Versicherungsanstalt der österreichischen Eisenbahnen, Linke Wienzeile 48-52, 1061 Wien, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram und Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Integritätsabgeltung, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29.Mai 1996, GZ 8 Rs 91/96f-43, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgericht vom 5.Oktober 1995, GZ 21 Cgs 73/94x-37, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit S 22.887,-- bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 3.814,50 USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 9.6.1967 geborene Kläger erlitt am 25.9.1991 im Bereich des Bahnhofs E***** beim Verschiebevorgang einen Arbeitsunfall, wodurch ihm beide Beine im Bereich des Oberschenkels abgetrennt wurden. Mit Bescheid vom 22.6.1993 stellte die Beklagte die gewährte vorläufige Versehrtenrente von 100 % der Vollrente ab 1.8.1993 als Dauerrente fest. Im Unfallszeitpunkt wurde die E-Lok von einem Fahrschüler bedient. Herbert E***** befand sich als Lokführer ebenfalls im Führerhaus. Der Verschubleiter, der auf dem Trittbrett der Lok mitfuhr, war bei dem Verschubmanöver der Ranghöchste. Er gab dem Kläger, der gelernter Verschieber ist, den Auftrag, die Bremsen auszuprobieren und dann nach dem Abstoßvorgang ohne Lokomotive die 5 Waggons im Bereich des Gleises 2 zum Stillstand zu bringen. Bei Erreichen der Verschubhaltetafel gab der Verschubleiter mit seiner roten Flagge das Zeichen "Halt". Dann begab er sich zwischen die Lok und die ungebremsten Waggons, um diese abzukoppeln. Zwischen dem Verschubleiter und dem Fahrschüler gab es Sichtkontakt. Nach dem Abkuppeln begann die Wagengruppe wegzurollen. Der Verschubleiter gab nun mit der Signalfahne den Befehl "Abstoßen". Er befand sich dabei auf dem rechten vorderen Verschieberaufstieg der Lokomotive. Der Fahrschüler als Triebfahrzeugführer beschleunigte daraufhin die Lokomotive bis der Anprall auf die davon rollende Waggongruppe erfolgte. Durch den Anprall wurde der Kläger von seinem Standplatz an der Spitze der Waggongruppe auf die Gleise geschleudert und von der gesamten Wagengruppe überrollt. Beim Verschiebevorgang wurde das Triebfahrzeug auf einer Wegstrecke von 4,25 m auf eine Geschwindigkeit von rund 9,7 km/h und anschließend auf einer Wegstrecke von 27,3 m in der Zeit von 8,7 Sekunden auf 12,8 km/h weiter beschleunigt. Aus dieser Geschwindigkeit erfolgte die Abbremsung bis zum Stillstand auf einer Wegstrecke von 15,5 m. Die gesamte zurückgelegte Wegstrecke beträgt 47 m und die gesamte Zeitdauer 20,5 Sekunden. Die Eigenmasse des Triebfahrzeuges beträgt etwa 83.000 kg, sodaß bei Berechnung der Bewegung als Translationsbewegung von einer Masse von etwa 92.000 kg auszugehen ist. Die Masse der Waggongruppe beträgt etwa 67.080 kg sodaß sich für die Berechnung als Translationsbewegung eine Masse von 77.142 kg ergibt. Das Triebfahrzeug hat nach Anfahren bis zum Kontakt mit der Wagengruppe einen Weg von rund 4,25 m zurückgelegt. Das im Bereich des Abstoßvorganges vorherrschende Gefälle ergibt eine Beschleunigung der entkuppelten und entrollten Waggongruppe von etwa 0,025 m/sec. Es kann von einer Anfangsgeschwindigkeit der Waggongruppe im Bereich von 0,05 km/h ausgegangen werden. Nach 4,25 m, die die Waggongruppe vor dem "Abstoßen" gerollt war, hatte sie eine Geschwindigkeit von rund 1,2 km/h erreicht. Das Triebfahrzeug ist angefahren, als die Waggongruppe bereits etwa 3,3 m entrollt war, anschließend der Waggongruppe beschleunigend nachgefahren und mit einer Geschwindigkeit von im Mittel 9,7 km/h gegen die Waggongruppe gestoßen, die eine Geschwindigkeit von 1,2 km/h erreicht hatte, sodaß die Differenzgeschwindigkeit bei Anstoß 8,5 km/h betragen hat. Es ist davon auszugehen, daß beim Abstoßvorgang ein überaus heftiger Anstoß erfolgte. Die Beschleunigung beim Anstoß war 3,7 mal stärker als beim extremsten Demonstrationsversuch mit der Entrollstrecke von 1 m. Der Kläger war auf einen derartig heftigen Anstoß nicht gefaßt, sodaß er die auf ihn einwirkenden Kräfte nicht mehr abfangen und dem Stoß nicht mehr mit entsprechenden Ausgleichsbewegungen begegnen konnte und dadurch den Halt verlor. Eine genaue Rekonstruktion des Sturzvorganges ist nicht möglich. Ein seitliches Hinausstürzen ist auszuschließen. Auch wenn der Kläger Sicherheitshandschuhe getragen und sich mit den Händen am Geländer festgehalten hätte, wäre es möglich gewesen, daß er von der Heftigkeit des Anstoßes überrascht den Halt verloren hätte.

Der Kläger begehrt die Zuerkennung einer Integritätsabgeltung gemäß § 213 a ASVG im gesetzlichen Ausmaß. Die Beklagte beantragt die Abweisung des Klagebegehrens, weil keine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften vorliege. Die Verschubdienstregeln V 3 seien nicht Arbeitnehmerschutzvorschriften im Sinne des § 213 a ASVG. Dem Verschubleiter sei kein Verstoß gegen die Betriebsvorschriften nachzuweisen noch wäre ihm eine Gefährdung des Klägers als "Spitzenverschieber" erkennbar gewesen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt und sprach dem Kläger eine Integritätsabgeltung von S 1,058.400,-- zu.

In rechtlicher Hinsicht führte es aus, daß für den Betrieb von Eisenbahnen im wesentlichen die Betriebsvorschrift V 3 samt den Anlagen und den Zusatzbestimmungen gelte. Darin sei auch der genaue Ablauf des Verschubdienstes geregelt. Einerseits solle dadurch ein reibungsloser Ablauf des Nahverkehrs gewährleistet werden, andererseits solle ein Schaden bei der Bahn beschäftigter Personen ausgeschlossen werden. Die Vorschriften seien als Arbeitnehmerschutzvorschriften im Sinne des § 213 a ASVG anzusehen. Diese seien grob fahrlässig außer Acht gelassen worden, weil der Verschubleiter nicht das Zeichen Abstoßen geben hätte dürfen. Er hätte auf geeignete Weise entweder die wegrollenden Waggons anhalten lassen oder vorsorgen müssen, daß sich die Lokomotive vor dem Abstoßvorgang den entrollenden Waggons auf Berührung nähert. Erst dann hätte das Verschubsignal zum Beschleunigen der Waggons gegeben werden dürfen. Durch die Bestimmung, daß "Abstoßen" höchste Aufmerksamkeit und Vorsicht erfordere, sei der ohnehin dabei anzulegende Sorgfaltsmaßstab noch erhöht. Da für den Verschubleiter erkennbar gewesen sei, daß sein Verschubbefehl "Abstoßen" so verstanden werde, daß der Fahrschüler die Lokomotive bis zur üblichen Abstoßgeschwindigkeit beschleunige ohne auf das in der Zwischenzeit erfolgte Entrollen der Waggons Bedacht zu nehmen, sei die Abgabe des Befehles "Abstoßen" durch den Verschubleiter als ein grob fahrlässig zu qualifizierendes Verhalten zu werten.

Das Gericht der zweiten Instanz gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge und sprach aus, daß die Revision nach § 46 Abs 1 ASGG zulässig sei.

Es trat der Rechtsansicht des Erstgerichtes bei und führte noch aus, daß die Betriebsvorschrift V 3 ihre rechtliche Grundlage im Eisenbahngesetz 1975 habe. Die Betriebsvorschrift sei in Entsprechung des § 21 Abs 3 EisenbahnG 1957 erlassen worden, um das Verhalten der Bediensteten durch allgemeine Anordnungen zu regeln. Bedienstete, die trotz wiederholter Ermahnungen gewissen Bestimmungen des Eisenbahngesetzes oder den Bestimmungen der erlassenen Verordnungen zuwiderhandeln, begingen eine unter Sanktion stehende Verwaltungsübertretung. Die Betriebsvorschrift V 3 sei als positiv-rechtliche Arbeitnehmerschutzvorschrift im Sinne des § 213 a ASVG zu verstehen. Verschubarbeiten bedürfen wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit höchster Aufmerksamkeit. Bei Anlegung der sich aus den Betriebsvorschriften ergebenden Sorgfaltsmaßstäbe auf den verantwortlichen Verschubleiter erweise sich die Abgabe des Signals Abstoßen, obwohl im Zeitpunkt des Anfahrens des Triebfahrzeuges die Waggongruppe bereits etwa 3,3 m entrollt war unter den besonderen Verhältnissen eines Verschubvorganges als grobe Fahrlässigkeit, die einen Schadenseintritt in der Art des dann auch erfolgten Abwurfes des Klägers wegen des zu erwartenden heftigen Anstoßes wahrscheinlich machte.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen dahin abzuändern, daß das Klagebegehren abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die klagende Partei beantragt, der Revision der beklagten Partei nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Ergebnis nicht berechtigt.

Aktenwidrigkeit liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO). Darauf braucht somit nicht weiter eingegangen zu werden.

Rechtlich ist aber folgendes zu erwägen:

Gemäß § 213 a ASVG gebührt eine angemessene Integritätsabgeltung, wenn der Arbeitsunfall ..... durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde und der Versicherte dadurch eine erhebliche und dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Integrität erlitten hat.

Diese durch die 48. ASVG-Novelle (BGBl 1989/642) in den Leistungskatalog der gesetzlichen Unfallversicherung aufgenommene neue Leistung ist im Konkurrenzbereich zwischen ziviler Haftpflichtordnung und Sozialversicherung angesiedelt. Ihr Zweck ist es durch eine Geldleistung einen gewissen Ausgleich für körperliche Schmerzen, Leid, verminderte Lebensfreude, Beeinträchtigung des Lebensgenusses und ähnliche Ursachen seelischen Unbehagens, wie etwa dauernde Verunstaltung zu bieten. Damit wird ihre Verwandtschaft mit den immateriellen Schadenersatzansprüchen des ABGB deutlich (SSV-NF 6/61, 6/89 = DRdA 1993/31 [Ivansits]).

Voraussetzung der Integritätsabgeltung ist einerseits die Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften.

Darunter sind alle Normen des österreichischen Arbeitnehmerschutzes zu verstehen; nicht das gesamte Arbeitsrecht in seiner Funktion als Schutzrecht des Arbeitnehmers, sondern bloß jenes Segment an arbeitsrechtlichen Normen, das von der Lehre als Arbeitnehmerschutzrecht im engeren Sinn bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um öffentlich-rechtliche Arbeitsrechtsnormen, die dem Schutz des Lebens, der Gesundheit und der Sittlichkeit im Zusammenhang mit der Erbringung der Arbeitsleistung dienen, auf unmittelbaren staatlichen Eingriffen basieren und typischerweise als Sanktion die Verwaltungsstrafe vorsehen (Dörner, Die Integritätsabgeltung nach dem ASVG, 42; Schwarz/Löschnigg, Arbeitsrecht5, 855; SSV-NF 6/61, 6/89 mwN = DRdA 1993/31 [krit Ivansits]). Allgemeine Fahrregeln der Straßenverkehrsordnung etwa gehören demnach nicht zum Kreis der Arbeitnehmerschutzvorschriften, weil sie einen für jedermann geltenden Sorgfaltsmaßstab und von jedermann einzuhaltende Schutznormen darstellen, also prinzipiell nicht auf den Kreis der Arbeitnehmerschaft beschränkt sind (SSV-NF 6/61). Gleichfalls treffen die Kriterien von Arbeitnehmerschutzschriften auf interne Dienstanweisungen nicht zu (SSV-NF 6/89 = DRdA 1993/31).

Gemäß § 21 Abs 3 EisenbahnG 1957 hat das Eisenbahnunternehmen das Verhalten seiner Bediensteten durch allgemeine Anordnungen, wie die Betriebsvorschrift V 3, zu regeln, die der Genehmigung durch die Behörde bedürfen. Diese ist zu erteilen, wenn nicht öffentlich-rechtliche Verkehrsinteressen entgegenstehen. Es handelt sich dabei aber nicht um staatliche Eingriffsnormen, sondern nur um, wenn auch mit Bescheid genehmigte Dienstvorschriften, die keine Verwaltungsstrafe als Sanktion vorsehen. Daß § 54 Abs 2 EisenbahnG 1957 das Zuwiderhandeln gegen die Bestimmungen der §§ 20, 27 und 37 als Verwaltungsübertretung unter Strafsanktion stellt, bedeutet nicht, daß auch die Verletzung der Bestimmungen der Betriebsvorschrift V 3 unter Strafsanktion steht, sondern nur, daß die Unterlassung der in § 21 EisenbahnG 1957 angeordneten Maßnahmen durch das Eisenbahnunternehmen Sanktionen nach sich zieht. Damit erfüllt die Betriebsvorschrift V 3 selbst aber nicht die Kriterien einer Arbeitnehmerschutzvorschrift.

Für den vorliegenden Fall maßgeblich ist vielmehr das bis zum Inkrafttreten des Arbeitnehmer(Innen)schutzgesetzes am 1.5.1995 geltende Arbeitnehmerschutzgesetz 1972 und die in seiner Ausführung erlassene allgemeine Arbeitnehmerschutzverordnung (AAV) sowie die gemäß § 33 Abs 1 lit a Z 10 Arbeitnehmerschutzgesetz 1972 als Bundesgesetz geltende allgemeine Dienstnehmerschutzverordnung (ADSchV). Letztere enthält in den §§ 102 und 103 Bestimmungen über den Verschiebebetrieb, die allerdings Arbeitnehmerschutzvorschriften im Sinne des § 213 a ASVG mit Strafsanktion (§ 33 Abs 7 Arbeitnehmerschutzgesetz 1972) sind.

Diese lauten im wesentlichen:

"§ 102 Abs 1: Der Fahr- und Verschiebebetrieb ist mit entsprechender

Umsicht so abzuwickeln, daß eine Gefährdung der Sicherheit der

Dienstnehmer hintangehalten wird. Hiebei ist bei in Bewegung

befindlichen Fahrzeugen insbesondere untersagt: ......... Fahrzeuge

bei größerer als Schrittgeschwindigkeit zu besteigen und zu verlassen.

Abs 7 ........ Soweit Wagen vom Triebfahrzeug geschoben werden, ist

............... die Spitze des Zuges mit einem Begleiter zu besetzen

und die Geschwindigkeit des Zuges so herabzusetzen, daß dieser vor einem auftauchenden Hindernis mit Sicherheit zum Stehen gebracht werden kann ....

Abs 8: ...... Mit dem Kuppeln der Fahrzeuge sind besondere

zuverlässige Dienstnehmer zu beauftragen, die hiebei mit der nötigen

Vorsicht vorzugehen haben. ...... Es ist dafür zu sorgen, daß das

anzukuppelnde Fahrzeug nur mit geringer Wucht auf die stehenden Fahrzeuge aufläuft. Das An- und Abkuppeln während der Fahrt ist verboten.

§ 103 Abs 1: Verschiebebewegungen dürfen erst ausgeführt werden, wenn

der Verschieber das Zeichen hiezu gegeben hat. Vor Abgabe dieses

Zeichens hat sich der Verschieber zu überzeugen, daß die

Verschiebebewegungen ohne Gefahr ausgeführt werden können. Beim

Verschieben dürfen Wagen nur abgestoßen werden, wenn sie nicht über

das vorgesehene Ziel hinauslaufen können......"

Nach den Feststellungen des vorliegenden Falles war die Beschleunigung beim Anstoß der Verschiebelok auf die entrollenden Waggons 3,7 mal stärker als beim extremsten Demonstrationsversuch. Die Differenzgeschwindigkeit zwischen der auf 9,7 km/h beschleunigten Lok und den mit 1,2 km/h entrollenden Waggons beim Anstoß betrug 8,5 km/h, sodaß die Vorschrift, daß das (anzukuppelnde) Fahrzeug nur mit geringer Wucht auf ("stehende") Fahrzeuge auflaufen darf (§ 102 Abs 8 ADSchV) einerseits wegen der zu hohen Geschwindigkeit und andererseits wegen der entrollenden Waggons, welche gefahrenträchtige Situation eine entsprechende Umsicht zur Ausschaltung einer Gefährdung der Sicherheit von Dienstnehmern (§ 102 Abs 1 ADSchV) erfordert hätte, verletzt wurde.

Weitere Voraussetzung für die Zuerkennung einer Integritätsabgeltung ist anderseits, daß der Arbeitsunfall durch grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde. Die grobe Fahrlässigkeit muß also im Hinblick auf die Verletzung des Arbeitnehmerschutzes, nicht hingegen hinsichtlich der Herbeiführung des Unfalls gegeben sein (SSV-NF 9/51 = DRdA 1996/30 [Mosler, 329]).

Die Gesetzesmaterialien weisen zum Begriff des groben Verschuldens auf die bisher ergangene Judikatur zu § 334 ASVG hin (SSV-NF 6/61).

Grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 334 Abs 1 ASVG ist demnach dem

Begriff der auffallenden Sorglosigkeit im Sinne des § 1324 ABGB

gleichzusetzen (SSV-NF 8/64). Sie ist dann anzunehmen, wenn eine

ungewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht

vorliegt, die den Eintritt eines Schadens nicht nur als möglich,

sondern als wahrscheinlich erscheinen läßt. Sie erfordert, daß ein

objektiv besonders schwerer Sorgfaltsverstoß auch subjektiv

schwerstens vorzuwerfen ist. Es sind jeweils die Umstände des

Einzelfalles zu prüfen. Das Zuwiderhandeln gegen

Unfallverhütungsvorschriften für sich allein reicht zur Annahme

grober Fahrlässigkeit nicht aus. Entscheidende Kriterien für die

Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades sind auch nicht die Zahl der

übertretenen Vorschriften, sondern die Schwere der Sorgfaltsverstöße

und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintrittes. Dabei ist im

wesentlichen zu prüfen, ob ganz einfache und naheliegende

Überlegungen nicht angestellt wurden (SSV-NF 6/89 = DRdA 1993/31

[Ivansits]; SSV-NF 9/9, 9/51 = DRdA 1996/30 [Mosler]).

Unter Anlegung dieser Kriterien kann auch ein einmaliger Aufmerksamkeitsfehler im Zuge einer zur Routine gewordenen Tätigkeit bereits als grob fahrlässig bezeichnet werden (SSV-NF 9/51 = DRdA 1996/30 [Mosler]). Es kommt zwar nicht auf seine beträchtlichen Folgen an (SVSlg 17.036), aber auf die Umstände, unter denen er begangen wurde.

Für die Beurteilung des Verschuldens ist ein objektiver, jedoch nach der Betriebshierarchie typisierender Maßstab anzulegen (SSV-NF 9/3, 9/51 mwN = DRdA 1996/30 [Mosler]). Da der für die Einhaltung der Dienstnehmerschutzvorschriften Verpflichtete zwar in aller Regel der Dienstgeber ist, muß in erster Linie dessen Verschulden maßgeblich sein (SSV-NF 8/111, 9/51 = DRdA 1996/30 [Mosler]). Da aber nach § 213 a ASVG die erhebliche und dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Integrität durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht worden sein muß, kommt es für die Anspruchsbegründung nicht darauf an, daß nachgewiesen wird, welche bestimmte Personen den Unfall grob fahrlässig verursacht haben, sondern nur, ob Arbeitnehmerschutzvorschriften grob fahrlässig im Rahmen des von Dienstgeber zu vertretenden und ihm zuzuordnenden Bereiches verletzt wurden. Wer im einzelnen den Eintritt des Arbeitsunfalles zu verantworten hat, braucht im Verfahren um die Gewährung einer Integritätsabgeltung sohin nicht geklärt zu werden. Dies wird vorallem dann Bedeutung haben, wenn die Verschuldensanteile bei mehreren an der Verursachung des Arbeitsunfalles bzw der Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften mitbeteiligten Personen sich nicht bestimmen lassen, sodaß dann auch bei fahrlässiger Schadenszufügung Solidarhaftung nach § 1302 ABGB eintreten kann (Koziol, Haftpflichtrecht I 295 f). Dies hat jedoch lediglich für einen allfälligen Regreßanspruch Bedeutung. Die Unaufklärbarkeit der Zurechnung des Verschuldens kann nämlich im Verfahren um die Gewährung einer Integritätsabgeltung nicht zu Lasten des Versicherten gehen. Es ist daher hier lediglich zu beurteilen, ob die Verletzung bestimmter Arbeitnehmerschutzvorschriften im Einzelfall (SSV-NF 9/51 = DRdA 1996/30 [Mosler]) grob fahrlässig erfolgte. Für ein solches grobes Verschulden sprechen unter anderem auch die Kumulierung der Verletzung von Arbeitnehmervorschriften und die besondere Gefahrensituation aufgrund schwieriger Bedingungen (DRdA 1996/30 [Mosler]).

Prüft man den vorliegenden Fall auf der Grundlage der dargelegten Erwägungen und unter Heranziehung der oben dargestellten Bestimmungen der allgemeinen Dienstnehmerschutzverordnung, dann erweist sich die Annahme grober Fahrlässigkeit durch die Vorinstanzen als zutreffend:

Durch die ungenügende Koordinierung und Beachtung der bei dem Verschubvorgang einzuhaltenden allgemein einleuchtenden Vorsichtsmaßnahmen durch alle an diesem Vorgang beteiligten Personen (Verschubleiter, Lokführer, Fahrschüler) kam es trotz der dargestellten in der allgemeinen Dienstnehmerschutzverordnung vorgesehenen erhöhten Sorgfaltspflicht dazu, daß der Abstoßvorgang der Waggons durch die Lok mit einer Beschleunigung erfolgte, die rund 3,7 mal stärker war als beim extremsten Demonstrationsversuch. Ohne daß eine Zuordnung des Verschuldens zu einzelnen Personen erfolgen kann und muß, ist ein besonders schwerer Sorgfaltsverstoß nicht nur durch die dargestellte Zuwiderhandlung gegen die zitierten Schutzvorschriften, sondern auch durch die Unterlassung einfachster und naheliegendster Überlegungen (Bremsen, Abbrechen des Verschubvorganges, geringere Beschleunigung, Beschleunigung erst bei Annäherung) entstanden, der im Bewußtsein, welche Massekräfte beim Aufprallen mit einer unüblichen hohen Beschleunigung auftreten können und in Kenntnis des Umstandes, daß sich der Kläger an der Spitze der abzustoßenden entrollenden Waggons befand, auch die hohe Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintrittes im konkreten Fall erkennen ließ.

Dabei braucht nicht mehr erörtert und geprüft zu werden, ob den primär für die Einhaltung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verpflichteten Dienstgeber auch ein gewisses Organisationsverschulden dadurch trifft, daß er den Verschubvorgang bei entrollenden Waggons und dem Gefälle von 2,7 bis 3 Promille in der die allgemeine Dienstnehmerschutzverordnung ausführende interne Dienstanweisung V 3 allenfalls ungenügend geregelt hat (§ 13 V 3) oder ob über die schon vorliegende Verletzung der Arbeitnehmerschutzvorschriften hinaus auch noch dem in § 13 V 3 vorgesehenen Entrollschutz nicht das genügende Augenmerk zugewendet wurde.

Die Vorinstanzen haben daher zu Recht den Anspruch des Klägers auf Integritätsabgeltung bejaht.

Soweit die Revisionswerberin in ihrem Rechtsmittel davon ausgeht, daß der Kläger beim Anprall seine Position nicht hätte verändern dürfen und ihm sohin ein Mitverschulden unterstellt, sind ihre Ausführungen in den Feststellungen nicht begründet.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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