OGH 4Ob15/24w

OGH4Ob15/24w23.5.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Schwarzenbacherals Vorsitzenden sowie den Vizepräsidenten Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Waldstätten und den Hofrat Dr. Stiefsohn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei * GmbH, *, vertreten durch die Saxinger Chalupsky & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wels, gegen die beklagte Partei * Aktiengesellschaft, *, vertreten durch die Singer & Kessler Rechtsanwälte OG in Wien, wegen 27.559,17 EUR sA und Räumung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 29. November 2023, GZ 38 R 179/23i‑47, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0040OB00015.24W.0523.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Bestandrecht

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die Vorinstanzen wiesen die auf offenen Bestandzins und Räumung gerichtete Klage ab, weil das Geschäftslokal wegen behördlich angeordneter Betretungsverbote im Zuge der COVID-19-Pandemie („Lockdowns“) im Frühjahr 2021 zeitweise gänzlich unbrauchbar gewesen sei.

Rechtliche Beurteilung

[2] Die außerordentliche Revision der Klägerin zeigt keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf und ist daher als unzulässig zurückzuweisen.

[3] 1. Nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung können Betretungsverbote aus Anlass der COVID-19-Pandemie zur gänzlichen Unbenutzbarkeit des Bestandobjekts iSd § 1104 ABGB und zum vollständigen Entfall der Zahlungspflicht des Bestandnehmers führen (vgl RS0133812, RS0021054 [T12]), wobei es diesfalls irrelevant ist, ob man das konkrete Bestandverhältnis als Geschäftsraummiete oder als Pacht qualifiziert (vgl 6 Ob 72/23s).

[4] Bei der Beurteilung der Brauchbarkeit kommt es stets auf die Umstände des Einzelfalls an (vgl RS0021054 [T5], RS0020926 [T3]), sodass diese – von Fällen auffallender, im Interesse der Rechtssicherheit aufzugreifender Fehlbeurteilung abgesehen – keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO aufwirft.

[5] 2.1 Die Vorinstanzen prüften bereits, ob die Beklagte, die österreichweit im Schuh-Einzelhandel tätig ist, unter sinngemäßer Anwendung der Entscheidungen zu Abholdiensten von Gastronomiebetrieben (vgl etwa 8 Ob 131/21d, 9 Ob 31/22g, 3 Ob 36/22y, 1 Ob 178/22s) verpflichtet gewesen wäre, in dieser Filiale einen „Click & Collect“-Service zu betreiben (dh im Internet bestellte Ware zur Abholung bereitzustellen, während bei „Click & Reserve“ Ware reserviert und in der Filiale anprobiert und bezahlt werden kann).

[6] Nach dieser Rechtsprechung steht dem – insoweit behauptungs- und beweispflichtigen (RS0021416 [T2]) – Bestandnehmer der Einwand offen, dass die Etablierung eines objektiv möglichen, bislang aber nicht betriebenen Liefer- oder Abholservices nicht (sofort) zumutbar gewesen wäre, wobei Unzumutbarkeit jedenfalls dann vorliege, wenn – etwa aufgrund des fehlenden Kundenkreises – ein nachhaltiges Verlustgeschäft zu erwarten gewesen wäre. Daher muss der Bestandnehmer behaupten und beweisen, dass die Möglichkeit eines Liefer- und Abholservices im konkreten Fall gar keinen verbleibenden Gebrauchsnutzen gebracht hätte.

[7] 2.2 Die Ansicht des Berufungsgerichts, dass die Beklagte bei einer Gesamtwürdigung der erstgerichtlichen Feststellungen Entsprechendes unter Beweis stellen habe können, bewegt sich innerhalb des ihm im Einzelfall notwendiger Weise zukommenden Beurteilungsspielraums.

[8] Die Revisionsausführungen lassen die Besonderheit der konkreten Filiale außer Acht, die in einem außerstädtischen Fachmarktzentrum und – in Einklang mit dem Bestandvertrag – als „Outletstore“ betrieben wird. Als solche war sie aber nie an das „E-Shop-“, das „Click & Reserve“- und das (erst später implementierte) „Click & Collect“-System der Beklagten angeschlossen, führte teilweise andere und beschädigte Ware und verrechnete jedenfalls andere Preise. Daher hätte man nach den Feststellungen für dieses Geschäftslokal ein eigenes „Click & Collect“-System implementieren und für jedes Paar Schuhe eine eigene Kennzeichnung vergeben müssen, was „kostenintensiv“ und nicht zuletzt aufgrund der reduzierten Preise „unwirtschaftlich“ gewesen wäre. In Zusammenschau mit dem festgestellten internen Zeit- und dem externen Kostenaufwand für die Einführungdes allgemeinen „Click & Collect“-Systems bei der Beklagten ist die Wertung des Berufungsgerichts, dass damit für diese Filiale ein nachhaltiges Verlustgeschäft und sohineine Unzumutbarkeit nachgewiesen worden sei, keineswegs unvertretbar.

[9] 2.3 Für die Beurteilung der vertragsgemäßen Nutzungsmöglichkeit kommt es auf das konkrete Bestandobjekt und nicht auf das übrige geschäftliche Umfeld an (3 Ob 184/21m [Rz 21]). Dass andere Einzelhandelsgeschäfte im Fachmarktzentrum der Klägerin „Click & Collect“ anboten, mag für die – hier ohnedies bejahte – objektive Eignung sprechen, kann aber die Argumente der Vorinstanzen zur subjektiven Unzumutbarkeit für die Beklagte und deren Geschäft nicht widerlegen.

[10] Soweit die Klägerin beanstandet, dass die Vorinstanzen weitere wirtschaftliche Faktoren wie den Wertverlust der Ware und die Kundenbindung nicht beachtet hätten sowie für die Rentabilität Relationen anzustellen und längere Betrachtungszeiträumeheranzuziehen seien, ist ihr entgegenzuhalten, dass es hier einzig um die Brauchbarkeit des konkreten Bestandobjekts während zweier (wenige Wochen dauernder) „Lockdown“-Perioden geht.

[11] Selbst wenn man zudem eine Wirtschaftlichkeit unterstellt, lässt die Klägerin den Zeitfaktor unberücksichtigt. Nach den Feststellungen wurde erst kurzfristig bekannt, dass „Click & Collect“ im Einzelhandel gestattet sein werde. Dem Argument der Vorinstanzen, dass hier eine Unzumutbarkeit schon aus der unzureichenden Umsetzungszeit resultiert, hätte die Beklagte doch erst ein System implementieren und sodann die Ware dieser Filiale einzeln einspeisen müssen, kann die Revision nichts Stichhaltiges entgegensetzen (vgl auch 3 Ob 36/22y [Rz 24]).

[12] 2.4 Inwiefern „staatliche Unterstützungsmaßnahmen“ – die für den klagsgegenständlichen Zeitraum weder dem Grund noch der Höhe nach konkretisiert wurden – für die hier strittige Zumutbarkeit eines „Click & Collect“-Systems relevant wären, lässt die Revision ebenso offen.

[13] 3. Schließlich verneinten die Vorinstanzen auch eine vertragliche Verpflichtung zum Betrieb eines „Click & Collect“-Systems in Zeiten behördlicher Betretungsverbote.

[14] Ob ein Vertrag im Einzelfall richtig ausgelegt wurde, stellt aber nur dann eine erhebliche Rechtsfrage dar, wenn infolge einer wesentlichen Verkennung der Rechtslage ein unvertretbares Auslegungsergebnis erzielt wurde (RS0042936).

[15] Ein solches zeigt die Klägerin weder mit ihrem Hinweis auf die im Bestandvertrag vereinbarte grundsätzliche Betriebspflicht auf (in concreto „zu den üblichen Geschäftszeiten“; vgl auch 3 Ob 36/22y [Rz 26]), noch auf das in der Präambel vorgesehene Prinzip der „Aufrechterhaltung einer hohen Attraktivität des Fachmarktzentrums zur wechselseitigen Nutzung von Kundenströmen“, das „eine ständige Leistungsbereitschaft der Bestandnehmer“ sowie „eine laufende Anpassung an geänderte Kundenbedürfnisse“ voraussetze. Selbst wenn man daraus Verhaltenspflichten der Beklagten ableiten will, ist die Rechtsansicht der Vorinstanzen vertretbar, dass sie nicht schon im Frühjahr 2021, kurz nachdem „Click & Collect“ im Einzelhandel für zulässig erklärt wurde, verpflichtet gewesen wäre, diese Möglichkeit in einem überwiegend geschlossenen Fachmarktzentrum aus Eigenemneu einzuführen.

[16] 4. Die behaupteten Mangelhaftigkeiten des Berufungsverfahrens wurden geprüft und liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

[17] Im Übrigen kann weder die Beweiswürdigung mit Revision bekämpft werden (vgl RS0069246 [T2], RS0043371), noch eine verneinte Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens (vgl RS0042963). Wenn zu einem bestimmten Thema Tatsachenfeststellungen getroffen wurden, mögen diese auch von den Vorstellungen des Rechtsmittelwerbers abweichen, liegen schließlich keine rechtlichen Feststellungsmängel vor (vgl RS0053317 [insb T1]).

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