European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0020OB00230.15K.0119.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen, die im Umfang der Abweisung einer monatlichen Rente von 76 EUR als unbekämpft unberührt bleiben, werden im Übrigen dahingehend abgeändert, dass es zu lauten hat:
„Das Klagebegehren des Inhalts, die beklagten Parteien seien schuldig, der klagenden Partei eine monatliche Rente von 199 EUR ab 1. 3. 2013 zu zahlen, wobei die Haftung der zweitbeklagten Partei mit der im Unfallzeitpunkt bestehenden Versicherungssumme beschränkt ist, wird abgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig den beklagten Parteien die mit 3.398,50 EUR (darin 565,69 EUR USt) bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
Die klagende Partei ist ferner schuldig, den beklagten Parteien die mit 4.205,35 EUR (darin 251,73 EUR USt und 2.695 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Am 25. 2. 2010 ereignete sich ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker eines Motorfahrrades und der Erstbeklagte als Lenker und Halter eines bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW beteiligt waren.
Außer Streit steht, dass den Erstbeklagten das Alleinverschulden am Zustandekommen des Unfalls trifft und dass die Zweitbeklagte die Haftung für etwaige zukünftige unfallskausale Schäden im Rahmen der Versicherungssumme anerkannt hat.
Der Kläger, Jahrgang 1992, absolvierte von 2004 bis 2008 die Hauptschule und im Schuljahr 2008/2009 den polytechnischen Lehrgang mit teilweise sehr gutem Erfolg in Mathematik, Geometrischem Zeichnen und Technischem Werken. Er absolvierte auch zwei Ferialpratika als KFZ‑Techniker bei lokalen Firmen. Im Anschluss an den polytechnischen Lehrgang bis zum Unfall, also etwa für ein halbes Jahr, besuchte er eine Handelsakademie, allerdings nur, weil er in dem von ihm seit langem angestrebten Lehrberuf des KFZ-Technikers keine Lehrstelle gefunden hatte.
Beim Unfall erlitt er Verletzungen, die Dauerfolgen am linken Kniegelenk nach sich zogen. Die daraus resultierende Instabilität des Kniegelenks sowie Bewegungseinschränkung und Einschränkung bei Dauerbelastung lassen auf eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % schließen. Die KFZ-Techniker-Lehrausbildung wäre für den Kläger zu bewältigen gewesen. Nach ihrem Abschluss hätte der Kläger prognostisch gute und stabile Beschäftigungschancen gehabt. Bei Ausübung des Wunschberufes des Klägers kommt es berufstypisch zu Arbeiten vorwiegend im Stehen und Gehen, sowie häufig auch in knieender oder hockender Arbeitshaltung, was für den Kläger mit zunehmenden Schmerzen und frühzeitigem Gelenksverschleiß einhergegangen wäre. Welche andere beruflichen Tätigkeiten dem Kläger möglich und zumutbar sind, kann derzeit nicht festgestellt werden und hängt vom Ergebnis einer aus berufskundlicher Sicht anzuratenden Neu- bzw Umorientierung im Berufswunsch ab.
Im Oktober 2013 arbeitete der Kläger für eine Autotechnikfirma mit einem Monatslohn von 1.798,59 EUR brutto, das Arbeitsverhältnis wurde ohne Angabe von Gründen in der Probezeit aufgelöst.
Das Einstiegsgehalt eines KFZ-Technikers mit absolvierter Lehrabschlussprüfung ist mit bis zu 1990 EUR monatlich brutto anzunehmen.
Der Kläger begehrte eine monatliche Geldrente von 275 EUR ab 1. 3. 2013 und brachte dazu vor, er sei im Unfallszeitpunkt zwar noch Schüler gewesen, habe aber eine Lehre als KFZ-Techniker angestrebt. Er sei auf Arbeitssuche und habe daher bislang keinen konkreten Verdienstentgang. Aufgrund des Unfalls liege eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % vor, sodass ein späterer Verdienstentgang wahrscheinlich sei. Der Kläger sei daher durch seine Verletzung im Konkurrenzkampf um den Erwerb und Erhalt eines Arbeitsplatzes benachteiligt und müsse sich bei Arbeitsvorgängen mehr anstrengen. Das gelte für praktisch alle manuellen Berufe, wohingegen der Kläger für administrative Tätigkeiten in Anbetracht seiner Schulbildung nicht prädestiniert sei. Es stehe ihm daher eine abstrakte Rente nach der Piegler'schen Formel, somit die Hälfte der Minderung der Erwerbsfähigkeit, zu, was zum Klagsbetrag führe.
Die beklagten Parteien bestritten und brachten vor, dass der Kläger im Unfallszeitpunkt die Schule besucht habe und einen Beruf ergreifen habe wollen, der ihm im Hinblick auf seine Verletzung unzumutbar sei. Im Übrigen sei durch das Anerkenntnis der Zweitbeklagten ein zukünftiger konkreter Verdienstentgang ohnehin abgesichert, sodass die für eine abstrakte Rente geforderte Sicherungsfunktion nicht gegeben sei.
Das Erstgericht sprach eine monatliche Rente von 199 EUR zu und wies das Mehrbegehren in Höhe von monatlich weiteren 76 EUR (jeweils ohne Nennung eines Beginndatums) ab. Da der Kläger im Unfallszeitpunkt noch nicht im Erwerbsleben gestanden sei, komme es darauf an, ob ihm die Erlangung eines Arbeitsplatzes ohne den Unfall wahrscheinlich möglich gewesen wäre, während er nun schon bei der Arbeitssuche benachteiligt sei.
Das nur von den beklagten Parteien angerufene Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Das Erstgericht habe zu Recht die Entscheidung 2 Ob 234/08p herangezogen, in der einem Arbeitslosen eine abstrakte Rente gewährt worden sei. Eine solche stehe auch dann zu, wenn wie hier mit der Lehre noch nicht begonnen worden sei, aber der Wunsch bestanden habe, eine derartige zu absolvieren. Im vorliegenden Fall sei überdies die in 2 Ob 234/08p angestrebte Umschulung insoweit nicht notwendig, als der Kläger bereits den entsprechenden Beruf anstrebe. Auch der Fall 2 Ob 16/01v, in dem der Kläger zwar bereits die Zusage einer Lehrstelle gehabt aber die Lehre ebenfalls noch nicht begonnen habe, sei mit dem hier vorliegenden vergleichbar.
Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht erst nachträglich zu, weil sich seine Ausführungen nach Ansicht der Revisionswerber nicht mit den vom Obersten Gerichtshof zur abstrakten Rente entwickelten Rechtsgrundsätzen deckten und daher eine erhebliche Rechtsfrage vorliege.
Die beklagten Parteien machen in ihrer Revision geltend, dass die Rechtsprechung dem Verletzten nur ausnahmsweise eine abstrakte Rente gewähre. Es müsse ein enger Zusammenhang mit einem konkret und absehbar drohenden Verdienstausfall und Verlust der Erwerbsfähigkeit gegeben sein. Hier bestehe aber der bloße Berufswunsch des Klägers, der sich vor dem Unfall nicht im geringsten konkretisiert habe. Dass der Kläger nun diesen Beruf verletzungsbedingt nicht ausüben könne, begründe keinen Anspruch auf eine abstrakte Rente.
Der Kläger beantragt in seiner freigestellten Revisionsbeantwortung, der Revision keine Folge zu geben. Es liege auf der Hand, dass der Kläger aufgrund seiner Verletzungen schneller ermüde und gesunden Menschen gegenüber benachteiligt sei. Eine abstrakte Rente sei nicht von vorneherein ausgeschlossen, wenn der Verletzte noch nicht im Erwerbsleben stehe.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil die Vorinstanzen von der Judikatur zur „abstrakten“ Rente abgewichen sind; sie ist auch berechtigt.
I. Verdienstentgang umfasst nicht nur die Verringerung oder den Verlust des Erwerbseinkommens, sondern unter Umständen auch Einbußen wegen verzögertem Eintritt ins Berufsleben oder Beeinträchtigung des beruflichen Aufstiegs ( Apathy/Riedler , Bürgerliches Recht III 5 [2015] Rz 14/9; Danzl in KBB 4 [2014] § 1325 Rz 13). Konkreter Verdienstentgang und „abstrakte Rente“ sind dabei allerdings streng zu unterscheiden; sie dürfen nicht verquickt werden (2 Ob 177/99i; RIS-Justiz RS0030747 [T4, T5]). Es ist daher auch zwischen konkretem Verdienstentgang für die Zukunft und der „abstrakten Rente“, die erst ab Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz und nicht für die Vergangenheit gewährt werden kann (2 Ob 176/09k ZVR 2011/36 [ Ch. Huber ]; RIS-Justiz RS0030857, RS0030734), zu differenzieren.
II. Verdienstentgang für die Zukunft:
Zwar ist grundsätzlich für jeden Ersatzanspruch wegen Aufhebung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit Voraussetzung, dass der Berechtigte zur Zeit des Unfalls seine Erwerbsfähigkeit im Erwerbsleben eingesetzt hat, ein durch die Beeinträchtigung herbeigeführter Vermögensnachteil kann aber auch in Zukunft eintreten, obwohl der Verletzte zur Zeit des Unfalls nichts verdiente und vielleicht auch nicht beabsichtigte, etwas zu verdienen (RIS-Justiz RS0030484).
Der Ersatzanspruch ist dann gegeben, wenn angenommen werden muss, dass der Verletzte Erwerb gesucht und gefunden hätte (RIS-Justiz RS0030440). Anspruch auf Verdienstentgang hat er insoweit, als er nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge unter Berücksichtigung seines allgemeinen Gesundheitszustands, seiner Interessen an einer beruflichen Tätigkeit und Eignung hiezu, sowie der Verhältnisse am Arbeitsmarkt (3 Ob 372/53 SZ 26/155) einen künftigen Beruf gesucht und gefunden hätte, auch wenn er zum Zeitpunkt des Unfalls nicht im Erwerbsleben stand (1 Ob 256/01f).
Den Anspruchsteller trifft die Beweislast dafür, dass er künftig einen Beruf gesucht und gefunden hätte (2 Ob 200/11t). In diesem Sinn wurde auch in 2 Ob 16/01v zum Verdienstentgangsbegehren eines Schülers, der die Zusage einer konkreten Lehrstelle samt Weiterbeschäftigungsoption nachweisen konnte, ausgesprochen, dass beim Verdienstentgang als Variante des positiven Schadens darauf abzustellen sei, dass der Verdienst zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit erzielt worden wäre.
III. „Abstrakte Rente“:
Dagegen soll die „abstrakte Rente“ nach ihrer grundsätzlichen Zweckbestimmung dem Verletzten einen Ausgleich dafür bieten, dass er sich zur Vermeidung eines konkreten Verdienstentgangs physisch oder psychisch mehr anstrengen muss als früher, und ihn in die Lage versetzen, für den infolge seiner Verletzung zu befürchtenden Fall späteren Arbeitsplatzverlusts schon jetzt durch Rücklagen einen Deckungsfonds zu schaffen (RIS-Justiz RS0030797).
Sie ist restriktiv zu handhaben (RIS-Justiz RS0030912) und auch nach der neueren Judikatur des erkennenden Senats nur innerhalb der engen Grenzen der bisherigen Rechtsprechung zuzusprechen (2 Ob 143/03y SZ 2003/106 = ZVR 2004/18; 2 Ob 67/05z ZVR 2007/32). Durch ihren Zuspruch werden überdies spätere konkrete Verdienstentgangsansprüche verwehrt (2 Ob 67/05z).
Eine „abstrakte Rente“ gebührt daher, wenn der Arbeitsplatz des Verletzten wegen der Unfallfolgen gefährdet ist. Dann muss geprüft werden, ob die Verletzung den Betroffenen bei der Suche oder Vermittlung eines neuen Arbeitsplatzes tatsächlich schlechter stellt (RIS-Justiz RS0030666). Um den Zuspruch einer solchen Rente zu begründen, muss der Kläger konkrete Umstände behaupten und beweisen, die den Verlust seines Arbeitsplatzes und eine damit verbundene Einkommenseinbuße wahrscheinlich machen (RIS-Justiz RS0030815).
Einschlägige Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs betreffen im Hinblick auf die von der Judikatur entwickelten Voraussetzungen in aller Regel berufstätige Verletzte (vgl zB 2 Ob 194/06b, 2 Ob 133/02a, 2 Ob 9/00p, 2 Ob 27/95; RIS-Justiz RS0030672).
Lediglich in der bereits von den Vorinstanzen genannten Entscheidung 2 Ob 234/08p SZ 2009/58 = ZVR 2010/46 ( Ch. Huber ) wurde der Zuspruch einer abstrakten Rente an einen Arbeitslosen im Hinblick auf dessen konkrete Situation nicht ‑ wie das Berufungsgericht es darlegte ‑ bereits gewährt, sondern lediglich nicht von vorneherein ausgeschlossen und ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Sicherungsfunktion der abstrakten Rente vorliegen könnten, wenn der Kläger aufgrund des erlittenen Dauerschadens im Konkurrenzkampf mit gesunden Mitbewerbern um die Erlangung und Bewahrung eines Arbeitsplatzes, den er ansonsten mit Wahrscheinlichkeit erlangt hätte, bei gleicher Qualifikation benachteiligt wäre. Dort war der Kläger aber bereits einige Jahre berufstätig gewesen, hatte lediglich wegen mangelnder Aufstiegschancen sein Arbeitsverhältnis (einvernehmlich) aufgelöst und einige Wochen als Hilfsarbeiter gearbeitet, worauf er vor dem Unfall nur deshalb einige Tage arbeitslos war, weil er das Arbeitsverhältnis wegen der bevorstehenden Geburt seines Kindes aufgelöst hatte, und nach Genesung von den zwischenzeitlich erlittenen Unfallverletzungen eine Umschulung in Richtung Buchhalter anstrebte. Allein dass der Unfall just nach ein paar Tagen Arbeitslosigkeit eintrat, sollte, wie Huber es in seiner Glosse ZVR 2010, 105 (106) formulierte, kein „abschließendes K.o.-Kriterium“ für den Zuspruch einer abstrakten Rente sein.
Dieser Fall kann aber mit dem hier vorliegenden, in dem der Kläger noch überhaupt nicht berufstätig war und sich nicht einmal in einer Berufsausbildung befand, sondern lediglich einen bestimmten Berufswunsch hatte, den er nach den Feststellungen zwar „bewältigen“ hätte können, für den er aber zumindest gleich nach seinem Schulabschluss keine Lehrstelle gefunden hatte, sodass er vorübergehend eine weiterführende Schule besuchte, nicht gleichgesetzt werden.
Da die „abstrakte Rente“ aber ‑ wie ausgeführt ‑ eine Ausnahme für Härtefälle bleiben muss (RIS-Justiz RS0030747; RS0030912), in denen der Verletzte trotz seines Dauerschadens ansonsten leer ausgehen müsste, und es dem Kläger hier im Hinblick auf das (einem Feststellungsurteil gleichkommende) Anerkenntnis der beklagten Parteien unbenommen bleibt, in der Zukunft konkret entstehenden Verdienstentgang (auch) im Sinne der Ausführungen zu Pkt. II. geltend zu machen, scheidet der Zuspruch einer „abstrakten Rente“ in seiner Situation aus, weil es schon an ihrer Sicherungsfunktion fehlt ( Danzl in KBB 4 [2014] § 1325 Rz 21; RIS‑Justiz RS0030882, RS0030614).
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 Abs 1 ZPO, im Rechtsmittelverfahren iVm § 50 Abs 1 ZPO.
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