Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und es wird in der Sache selbst dahin zu Recht erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts einschließlich der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.051,30 EUR bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens sowie die mit 757,20 EUR bestimmten Kosten des Rekurses an den Obersten Gerichtshof binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger ist grundbücherlicher Eigentümer des Gst 70/2, das (richtig) im Westen an das Gst .288 angrenzt. Das Grundstück des Klägers wird als Parkplatz genutzt. Auf dem angrenzenden Gst .288, das einer Gesellschaft gehört, ist ein Haus errichtet. Im Jahr 1964 wurde an der Südwestgrenze des Gst .288 durch die Rechtsvorgänger der Gesellschaft ein Anbau errichtet, der sich auf dem Gst 70/2 befindet. An diesen Anbau schließt sich ein etwa 1,5 m breiter Grundstreifen an, der bis zu einem Betonfundament (auf dem Gst 70/2) reicht.
Im Jahr 1964 übertrugen die Großeltern des Klägers (unter anderem) das Gst .288 an ihre beiden Kinder (Mutter sowie Onkel des Klägers, der in der Folge durch seine Erben repräsentiert wurde). Im Jahr 1972 übergaben die Großeltern des Klägers das Gst 70/2 je zur Hälfte an die Eltern des Klägers. Mit Leibrentenvertrag vom 25. 9. 1992 übergaben die Eltern des Klägers ihre Eigentumsrechte am Gst 70/2 (Mutter und Vater) und Gst .288 (Mutter) an den Kläger. Zwischen den Miteigentümern kam es im Laufe der Jahre immer wieder zu Streitigkeiten über die Nutzung des strittigen Grundstreifens samt Anbau durch die Familie des Onkels des Klägers. Obwohl den Beteiligten bewusst war, dass der Grundstreifen zum Gst 70/2 gehört, wurde der Anbau und die Nutzung geduldet. Am 7. 11. 1978 wurde im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs eine „Benützungsregelung“ geschlossen, derzufolge „der Wohnraum der Süd-Westecke des Grundstücks samt dem davor liegenden Grundstücksstreifen“ von der Miteigentümergruppe der Familie des Onkels des Klägers übernommen wurde. Zudem wurde festgehalten, dass die Mutter des Klägers „alle notwendigen Erklärungen dahingehend abgeben wird, dass die beschriebene Grundfläche samt Wohnraum in das im gemeinsamen Eigentum stehende Haus (auf dem Gst .288) einbezogen wird. Sie übernimmt weiters die Verpflichtung, dass diese Erklärungen auch von ihrem Gatten abgegeben werden.“ Ob der Vater des Klägers die entsprechenden Erklärungen abgab, konnte nicht festgestellt werden. Mit Beschluss vom 15. 11. 1995 wurde dem Kläger gemäß § 352 EO die Exekution durch gerichtliche Versteigerung der Liegenschaft mit dem Gst .288 zum Zweck der Auseinandersetzung bewilligt. Die Versteigerungsbe-dingungen lauteten auszugsweise wie folgt: „Festgehalten wird, dass gemäß Pkt II a des gerichtlichen Vergleichs in das Haus und damit in das Gst .288 jener Teil der Grundstücksparzelle 70/2 einbezogen ist, auf welchem der Wohnraum an der Süd-Westecke des Hauses angebaut ist, einschließlich des in westlicher Richtung davor liegenden Grundstücksstreifens bis zu der dort auf dem Gst 70/2 errichteten Mauer. Die Kosten im Zusammenhang mit der allfälligen Abschreibung des Teiles des Gst 70/2 und Zuschreibung zum Gst .288 sind vom Ersteher zur Gänze zu tragen.“ Den Zuschlag erhielten die Kinder des Onkels des Klägers, die das Grundstück bis 2004 nutzten. Mit Kaufvertrag vom 3. 11. 2004 verkauften sie die Liegenschaft mit dem Gst .288 an die Gesellschaft, die jetzige Eigentümerin des Grundstücks ist.
Im Anlassverfahren erhob der Kläger gegen die genannte Gesellschaft folgende Begehren:
„1. Es wird im Verhältnis der Streitteile festgestellt,
a) dass der Kläger Eigentümer jenes Teiles der Liegenschaft des Gst 70/2 ist, der zwischen dem auf dem Gst 70/2 gelegenen, etwa parallel zur etwa 2,5 m entfernten, gegen das Gst 70/2 gerichteten Gebäudekante des Hauses verlaufenden Betonfundament und der erwähnten Gebäudekante des Hauses gelegen ist, wobei die Gebäudekante ohne Berücksichtigung des bloß im Erdgeschoss befindlichen Anbaus an der Süd-Westecke des Hauses ermittelt wird;
in eventu
b) dass der Kläger Eigentümer des Teiles der Liegenschaft des Grundstücks 70/2 ist, der zwischen dem auf dem Gst 70/2 gelegenen, etwa parallel zur etwa 2,5 m entfernten gegen das Gst 70/2 gerichteten Gebäudekante des Hauses verlaufenden Betonfundament und der erwähnten Gebäudekante des Hauses gelegen ist, wobei aber der bloß im Erdgeschoss befindliche Anbau des Hauses nicht vom Eigentum des Klägers umfasst ist.
2. Die beklagte Partei ist schuldig, die Benutzung des unter 1a umschriebenen Grundstreifens, in eventu des in 1b umschriebenen Grundstreifens zu unterlassen.“
Das Erstgericht im Anlassverfahren wies das Hauptbegehren (Pkt 1a) ab und gab dem Eventualbegehren (Feststellung und Unterlassung) statt. Dabei ging es davon aus, dass der Grundstreifen zumindest bis zur Gebäudekante des redlich errichteten und von den Rechtsvorgängern des Klägers geduldeten Anbaus an das Haus im Eigentum des Klägers stehe.
Gegen dieses Urteil erhoben im Anlassverfahren beide Parteien Berufung. Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung des Erstgerichts. Zu der hier interessierenden Berufung des Klägers (gegen die Abweisung des Hauptbegehrens) vertrat es die Ansicht, dass von einer Redlichkeit der Rechtsvorgänger der beklagten Gesellschaft im Zeitpunkt der Errichtung des Anbaus keine Rede sein könne. Ein Eigentumserwerb der Rechtsvorgänger der beklagten Gesellschaft habe auch hinsichtlich jener Grundfläche auf dem Gst 70/2 nicht stattgefunden, auf dem sich der Anbau befinde. In diesem Umfang (Hauptbegehren) stehe der Klagsführung aber das Verbot der schikanösen Rechtsausübung entgegen. Die beklagte Gesellschaft habe sich im Verfahren erster Instanz auf eine gegen die guten Sitten verstoßende Klagsführung berufen. Bei einem geringfügigen Grenzüberbau könne der Schikaneeinwand des Bauführers berechtigt sein. Ausgehend von der aus den Lichtbildern abschätzbaren Größe der überbauten Fläche könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Anwendung des angeführten Rechtssatzes ausgeschlossen sei. Bei der Beurteilung des Schikaneeinwands komme der subjektiven Seite des Bauführers erhebliche Bedeutung zu. Im Anlassfall stehe dem Interesse des Klägers als Eigentümer des Gst 70/2 gegenüber, dass der bereits im Jahr 1964 errichtete Anbau von seinen Rechtsvorgängern geduldet worden und im Jahr 1978 eine Lösung der strittigen Frage dahin angestrebt gewesen sei, dass der Grundstücksstreifen dem Gst .288 zugeschlagen werde. Auch wenn sich kein Eigentumsrecht oder obligatorisches Nutzungsrecht der beklagten Gesellschaft am gesamten strittigen Grundstreifen ergebe, müsse eine Abwägung der unterschiedlichen Interessen bei Beurteilung des Überbaus doch zu einer Bejahung eines den Schikaneeinwand berechtigenden Missverhältnisses führen. Dabei schlage insbesondere der seit mehr als vier Jahrzehnten - auch vom Kläger - belassene Zustand des Anbaus zugunsten der beklagten Gesellschaft aus. Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung nicht zu lösen gewesen seien. Der Antrag des Klägers auf Abänderung des Zulässigkeitsausspruchs gemäß § 508 ZPO wurde zurückgewiesen.
Im vorliegenden Amtshaftungsverfahren begehrte der Kläger Schadenersatz. Das Berufungsgericht im Anlassverfahren habe seiner Berufung (gegen die Abweisung des Hauptbegehrens) in rechtswidriger und unvertretbarer Weise nicht stattgegeben. Die Bestätigung der Abweisung des Hauptbegehrens wegen missbräuchlicher Rechtsausübung sei überraschend und unter Verletzung des Parteiengehörs erfolgt. Zudem habe das Berufungsgericht im Anlassverfahren die ergänzende Feststellung zur Größe des Überbaus ohne Berufungsverhandlung getroffen. Jegliche Feststellungen zu Nachteilen der beklagten Gesellschaft würden fehlen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht im Anlassverfahren sei berechtigt gewesen, die Feststellung zur Größe des Anbaus nachzuholen, weil sich dieser Umstand allein aus Urkunden ergeben habe. Die vom Berufungsgericht im Anlassverfahren vorgenommene Interessenabwägung sei jedenfalls vertretbar. Das Interesse der beklagten Gesellschaft sei eindeutig erkennbar im weiteren Dulden des Anbaus gelegen gewesen. Dabei habe es sich typisch um eine Einzelfallbeurteilung gehandelt.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und hob das angefochtene Urteil auf. Im Anlassverfahren habe die beklagte Gesellschaft den Vorwurf der Sittenwidrigkeit inhaltlich darauf gestützt, dass der Kläger die im gerichtlichen Vergleich von seiner Mutter angestrebte vertragliche Lösung gekannt und sich treuwidrig nicht daran gehalten habe. Umstände, aus denen sich ein Rechtsmissbrauch wegen krassen Missverhältnisses der wechselseitigen Interessen ergeben solle, seien nicht vorgebracht worden. Dementsprechend habe das Erstgericht im Anlassverfahren auch keine Feststellungen zur wechselseitigen Interessenlage getroffen. Im Berufungsverfahren sei die beklagte Gesellschaft auf den Einwand der Sittenwidrigkeit nicht mehr zurückgekommen. Das Berufungsgericht im Anlassverfahren sei daher in unvertretbarer Weise vom Sachvorbringen der beklagten Gesellschaft sowie von den Anfechtungsgründen in der Berufung abgegangen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts im Anlassverfahren ergebe sich aus den Feststellungen auch keineswegs ein so krasses Missverhältnis zwischen den Interessen der Streitteile, dass sich die Rechtsausübung des Klägers als rechtsmissbräuchlich erweise. Der Umstand, dass der Anbau jahrzehntelang bestanden habe, vermöge ein Interesse der beklagten Gesellschaft an der Beibehaltung dieses Zustands nicht zu begründen. Gründe, warum die beklagte Gesellschaft auf die weitere Duldung der Benützung angewiesen sei und ihr sonst gravierende Nachteile drohten, seien nicht ersichtlich. Auch die im Jahr 1978 angestrebte Lösung lasse nicht auf die Interessenlage der beklagten Gesellschaft schließen. Insgesamt sei die Sachentscheidung des Berufungsgerichts im Vorverfahren daher unvertretbar. Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil zur Frage, ob die erstmals im Berufungsverfahren vorgenommene Interessenabwägung iSd § 1295 Abs 2 ABGB noch vertretbar sei, höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs der Beklagten ist zulässig, weil die Beurteilung des Berufungsgerichts einer Korrektur durch den Obersten Gerichtshof bedarf. Dementsprechend ist der Rekurs auch berechtigt.
1. Im Anlassverfahren haben beide Parteien gegen das Urteil des Erstgerichts Berufung erhoben. Die zugrunde liegende Amtshaftungsklage bezieht sich darauf, dass der Berufung des Klägers gegen die Abweisung des Hauptbegehrens nicht Folge gegeben wurde. Die Berufung der beklagten Gesellschaft im Anlassverfahren ist in die Betrachtung daher nicht einzubeziehen.
2.1 Der Kläger weist in seiner Rekursbeantwortung zutreffend darauf hin, dass im Amtshaftungsprozess die Prüfung der Vertretbarkeit einer Rechtsauffassung zur Gänze von den Umständen des Einzelfalls abhängt. Dies bedeutet, dass eine erhebliche Rechtsfrage nur dann vorliegt, wenn dem Berufungsgericht (im Amtshaftungsverfahren) eine gravierende Fehlbeurteilung unterlaufen ist (RIS-Justiz RS0110837; vgl auch RS0049912). Dies ist etwa dann der Fall, wenn bei der Beurteilung des haftungsrelevanten Organverhaltens ein falsches Prüfkalkül angelegt wurde.
Eine bei pflichtgemäßer Überlegung aller Umstände vertretbare Rechtsanwendung mag zwar rechtswidrig sein, stellt aber kein Verschulden iSd § 1 Abs 1 AHG dar (RIS-Justiz RS0050216). Dementsprechend kann in der Regel nur ein Abweichen von einer klaren Gesetzeslage oder ständigen Rechtsprechung, die unvertretbar ist und keine sorgfältige Überlegung erkennen lässt, einen Amtshaftungsanspruch zur Folge haben (RIS-Justiz RS0049912). Das Amtshaftungsverfahren ist aber nicht dazu da, eine Entscheidung, die innerhalb des Ermessensrahmens einer gerichtlichen Beurteilung geblieben ist, in einem nachfolgenden Amtshaftungsprozess einer neuen Prüfung zu unterziehen (RIS-Justiz RS0049955).
2.2 In seinem Aufhebungsbeschluss setzt sich das Berufungsgericht argumentativ nur mit der Richtigkeit der Entscheidung des Berufungsgerichts im Anlassverfahren auseinander und knüpft daran die Schlussfolgerung, dass die Entscheidung unvertretbar sei. Eine Prüfung nach dem Kalkül der Vertretbarkeit des Beurteilungsergebnisses hat in Wirklichkeit aber nicht stattgefunden.
3.1 Der Kläger führt in der Rekursbeantwortung mehrfach aus, dass die beklagte Gesellschaft im Anlassverfahren keinen Schikaneeinwand erhoben habe.
Es entspricht der Rechtsprechung, dass Schikane- bzw Rechtsmissbrauch nur über entsprechenden Einwand aufzugreifen ist (RIS-Justiz RS0016519). Dies folgt aus dem Grundsatz, dass auch ein sittenwidriger Vertrag grundsätzlich aufrecht bleibt und nur anfechtbar ist.
3.2 Im Schriftsatz vom 3. 7. 2009 (ON 12 im Anlassverfahren) hat die beklagte Gesellschaft eingewendet, dass das Begehren des Klägers gegen die guten Sitten und gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoße. Er sei selbst maßgebend an der Erledigung des Verfahrens, das zum gerichtlichen Vergleich geführt habe, beteiligt gewesen. Er sei auch bei der Verhandlung am 7. 11. 1978 anwesend gewesen. Es sei ihm daher bekannt und bewusst, dass die Grenze zwischen dem Gst 70/2 und dem Gst .288 entlang der östlichen Außenseite der Grenzmauer mit dem darauf errichteten Grenzzaun anerkannt sei. Zudem hat die beklagte Gesellschaft im Vorverfahren unter anderem darauf hingewiesen, dass bei dem in Rede stehenden Anbau großflächige Fenster und eine Türe eingebaut worden seien. Durch diese Türe gelange man auf die fragliche Grundstücksfläche. In der Verhandlung vom 14. 7. 2009 (ON 14) hat die beklagte Gesellschaft noch vorgebracht, dass auf dem strittigen Grundstreifen der Regenwasserkanal für ihr Objekt geführt werde.
Entgegen den Ausführungen des Klägers hat die beklagte Gesellschaft mit diesen auch näher begründeten Ausführungen im Anlassverfahren einen Schikaneeinwand erhoben. Schikane bzw missbräuchliche Rechtsausübung ist nämlich nichts anderes als die sittenwidrige Ausübung eines Rechts. Unverständlich ist auch die Behauptung des Klägers, die Prüfung des Rechtsmissbrauchs durch das Berufungsgericht im Anlassverfahren sei für ihn unvorhersehbar gewesen. In Wirklichkeit hat schon das Erstgericht im Anlassverfahren zu dem von der beklagten Gesellschaft erhobenen Einwand des Rechtsmissbrauchs (unter Hinweis auf RIS-Justiz RS0123269) Stellung genommen. Auch wenn es - in Bezug auf die gesamte vom Klagebegehren erfasste Grundfläche - den Einwand der sittenwidrigen und damit auch der rechtsmissbräuchlichen Klagsführung für nicht berechtigt hielt, musste der Kläger doch auch mit einer entsprechenden Beurteilung durch das Berufungsgericht rechnen. Dabei musste ihm klar sein, dass sich diese Beurteilung auch nur auf den Grundstreifen mit dem Anbau beziehen kann.
4.1 Das Berufungsgericht geht in seinem Aufhebungsbeschluss weiters davon aus, dass Umstände, aus denen sich ein Rechtsmissbrauch ergebe, von der behauptungs- und beweispflichtigen beklagten Gesellschaft nicht vorgebracht worden seien, weshalb auch keine Feststellungen zur wechselseitigen Interessenlage vorliegen würden.
4.2 Für das Berufungsgericht im Anlassverfahren hat sich in erster Linie nicht die Frage gestellt, was die Parteien vorgebracht haben, sondern vielmehr, welche Feststellungen vom Erstgericht getroffen wurden. In diesem Zusammenhang kann sich allenfalls die Frage nach sogenannten überschießenden Tatsachenfeststellungen stellen. Solche Feststellungen dürfen nach der Rechtsprechung (nur) dann berücksichtigt werden, wenn sie sich im Rahmen des geltend gemachten Klagsgrundes oder der erhobenen Einwendungen halten (RIS-Justiz RS0040318; RS0037972).
4.3 Das Berufungsgericht im Anlassverfahren hat der hier allein maßgebenden Berufung des Klägers zufolge (bejahter) missbräuchlicher Rechtsausübung nicht Folge gegeben. Seine Entscheidung hat es mit der Geringfügigkeit des Grenzüberbaus begründet. Die Interessenabwägung hat es darauf gestützt, dass die Rechtsvorgänger des Klägers den 1964 errichteten Überbau geduldet hätten, und dass zur Beilegung der Streitereien unter den Miteigentümern der in Rede stehende Grundstreifen aufgrund des Vergleichs aus dem Jahr 1978 dem Gst .288 hätte zugeschlagen werden sollen.
Das Erstgericht im Anlassverfahren hat sowohl den Inhalt und das Zustandekommen des Vergleichs vom 7. 11. 1978 als auch die Errichtung des fraglichen Anbaus im Jahr 1964 und die Art und Weise der Nutzung des Grundstreifens ab diesem Zeitpunkt festgestellt. Da sich die beklagte Gesellschaft schon in erster Instanz im Anlassverfahren wiederholt auf diese Umstände berufen hat, kann von unzulässigen überschießenden Feststellungen keine Rede sein.
4.4 Die Größe des Gst 70/2 (910 m²) hat das Berufungsgericht im Anlassverfahren dem von der beklagten Gesellschaft vorgelegten Grundbuchsauszug entnommen. Der Klagsvertreter hat dazu die Übereinstimmung mit dem Original zugestanden und zur Richtigkeit auf sein Vorbringen verwiesen (ON 14, 5 im Anlassverfahren).
Eine im Verfahren vorgelegte Urkunde, deren Echtheit zugestanden wurde und die ihrem Inhalt nach unstrittig ist, kann nach der Rechtsprechung der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts ohne weiteres zugrunde gelegt werden (vgl RIS-Justiz RS0121557).
4.5 Das Verhältnis der Größe des strittigen Anbaus zur Gesamtgröße des Gst 70/2 hat das Berufungsgericht im Anlassverfahren aus der Lichtbilddokumentation (Beilage ./15) geschlossen.
Die Größe des fraglichen Grundstreifens (mit und ohne Anbau) lässt sich dem Akteninhalt selbst dann entnehmen, wenn auf die Lichtbilder nicht Bedacht genommen wird. Das Feststellungsbegehren bezieht sich auf jenen Teil des Gst 70/2, der sich zwischen dem Betonfundament und der Hauskante (ohne Berücksichtigung des Anbaus) befindet. Dieser Grundstreifen (samt Anbau) ist nach dem Feststellungsbegehren etwa 2,5 m breit. Zudem hat das Erstgericht im Anlassverfahren festgehalten, dass sich zwischen dem Haus (auf dem Gst .288) und dem als Parkplatz genutzten Grundstück des Klägers ein durch ein Betonfundament abgegrenzter und etwa 1,5 m breiter Grundstreifen befindet. Daraus folgt, dass der Anbau eine Breite von etwa 1 m aufweist. Nicht zweifelhaft kann sein, dass sich das in Rede stehende Größenverhältnis im Rahmen des von der beklagten Gesellschaft erhobenen Schikaneeinwands hält.
5. Das Berufungsgericht vertritt im Aufhebungsbeschluss darüber hinaus die Ansicht, dass die beklagte Gesellschaft im Berufungsverfahren auf den Einwand der Sittenwidrigkeit nicht mehr zurückgekommen sei. Das Berufungsgericht im Anlassverfahren sei daher von den Anfechtungsgründen in der Berufung abgegangen.
Das Berufungsgericht bezieht sich hier offenbar auf die Berufung der beklagten Gesellschaft im Anlassverfahren. Wie einleitend festgehalten wurde, betrifft die Amtshaftungsklage aber ausschließlich die Berufung des Klägers gegen die Abweisung des Hauptbegehrens. In Behandlung dieser Berufung gehörte die Auseinandersetzung mit dem von der beklagten Gesellschaft in erster Instanz erhobenen Schikaneeinwand zum Gegenstand der allseitigen Prüfung der Rechtsfrage durch das Berufungsgericht im Anlassverfahren (vgl RIS-Justiz RS0043326; RS0037610).
Unbeschadet dieser Überlegungen hat die beklagte Gesellschaft auch in ihrer Berufungsbeantwortung (ON 20 im Anlassverfahren) den Einwand der gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßenden Klagsführung aufrechterhalten und auf das fehlende rechtliche Interesse des Klägers in Bezug auf die Feststellungsklage hingewiesen. Dass die beklagte Gesellschaft den Grundsatz von Treu und Glauben mit dem Verbot der sittenwidrigen Ausübung eines Rechts gleichgesetzt hat, lässt sich ihrem Prozessvorbringen klar entnehmen.
6.1 Damit verbleibt die Frage, ob die vom Berufungsgericht im Anlassverfahren vorgenommene Interessenabwägung vertretbar erscheint. Dies ist zu bejahen.
Der zweite Tatbestand des § 1295 Abs 2 ABGB betrifft die sittenwidrige Ausübung eines Rechts. In diesem Zusammenhang wird in der Literatur und Rechtsprechung von „Schikane“ oder von „Rechtsmissbrauch“ gesprochen. Schikane (im engeren Sinn) liegt vor, wenn der Schädigungszweck den einzigen Grund der Rechtsausübung bildet. Eine missbräuchliche Rechtsausübung liegt vor, wenn zwischen den vom Handelnden verfolgten eigenen Interessen und den beeinträchtigten Interessen des anderen ein krasses Missverhältnis besteht (RIS-Justiz RS0026265; Karner in Koziol/Bydlinski/Bollenberger³ § 1295 ABGB Rz 22). Im Allgemeinen geben selbst relativ geringe Zweifel am Rechtsmissbrauch zugunsten des Rechtsausübenden den Ausschlag, weil diesem grundsätzlich zugestanden werden kann, dass er innerhalb der Schranken dieses Rechts handelt (RIS-Justiz RS0026205). Besteht ein begründetes Interesse des Rechtsausübenden, einen seinem Recht entsprechenden Zustand herzustellen, so wird die Rechtsausübung nicht schon dadurch zu einer missbräuchlichen, dass der sein Recht Ausübende unter anderem auch die Absicht verfolgt, mit der Rechtsausübung dem anderen Schaden zuzufügen (RIS-Justiz RS0026271). Beweispflichtig für die Schikane bzw den Rechtsmissbrauch ist derjenige, der sich auf diese Beschränkungen des ausgeübten Rechts beruft (RIS-Justiz RS0026265). Ob ein Rechtsmissbrauch vorliegt, ist grundsätzlich nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen (RIS-Justiz RS0110900; RS0026265).
6.2 Nach der Rechtsprechung kann bei einem geringfügigen Grenzüberbau der „Schikaneeinwand“ des Bauführers berechtigt sein, wenn eine Verhaltensweise des Grundnachbarn vorliegt, die das Interesse an der Wahrung und Verfolgung der sich aus der Freiheit des Eigentums ergebenden Rechte deutlich in den Hintergrund rückt (vgl RIS-Justiz RS0115858). Bei der Beurteilung des „Schikaneeinwands“ kommt der subjektiven Seite des Bauführers erhebliche Bedeutung zu. In diesem Sinn wertete der Oberste Gerichtshof im Fall eines bewusst rechtswidrigen Vorgehens die eigenmächtige Aneignung einer Fläche von 1,1 m² des Nachbargrundstücks als eine Fehlhandlung des Bauführers, die nicht dem Schikaneverbot unterliegt (vgl 1 Ob 239/08s mwN).
6.3 Das Berufungsgericht im Anlassverfahren ist von diesen Rechtsgrundsätzen ausgegangen.
Die Bejahung der Geringfügigkeit der fraglichen Grundstücksfläche, auf der sich der Anbau befindet (etwa 1 m breit), und die daran anknüpfende Schlussfolgerung, dass die dafür maßgebenden Rechtsgrundsätze anwendbar sind, ist in jedem Fall vertretbar.
Im Rahmen seiner Interessenabwägung stellte das Berufungsgericht im Anlassverfahren deutlich erkennbar dem Interesse des Klägers als Eigentümer, also auf Geltendmachung seiner Eigentümerposition, die weitere Duldung des Anbaus, also das Interesse der beklagten Gesellschaft am Bestehenbleiben des Anbaus und an der faktischen Nutzungsmöglichkeit, gegenüber. In den Vordergrund seiner Beurteilung rückte es die subjektive Komponente auf Seiten der beklagten Gesellschaft. In dieser Hinsicht berücksichtigte es neben der Duldung des 1964 errichteten Anbaus vor allem die von den betroffenen Miteigentümern intendierte Lösung der Streitigkeiten um die Nutzung des fraglichen Grundstreifens durch dessen eigentumsrechtliche Zuordnung zum Gst .288. Auch wenn diese Lösung aus formellen Gründen nicht wirksam zustande kam, spiegelt sie doch den Willen der damals (im Jahr 1978) betroffenen Eigentümer wider, den fraglichen Grundstreifen in das Gst .288 einzubeziehen.
Ein derartiger Wille hat nach den Feststellungen auch beim Kläger selbst bestanden. In den Bedingungen der von ihm im Jahr 1995 betriebenen freiwilligen Feilbietung wurde auf den Vergleich aus dem Jahr 1978 Bezug genommen und festgehalten, dass der gesamte in Rede stehende Grundstreifen in das Gst .288 einbezogen ist und die Kosten für die allfällige Ab- und Zuschreibung vom Ersteher zu tragen sind.
Die subjektiven Gründe, denen für die Beurteilung des „Schikaneeinwands“ erhebliche Bedeutung zukommt, sprechen somit klar für die beklagte Gesellschaft im Anlassverfahren. In dieser besonderen Konstellation ist die Auffassung, dass angesichts des geringfügigen Grenzüberbaus das Interesse an der Geltendmachung des Eigentumsrechts deutlich in den Hintergrund tritt und die Interessenabwägung zu Lasten des Klägers zu einem krassen Missverhältnis führe, in jedem Fall vertretbar.
6.4 Dem Berufungsgericht (im Amtshaftungsverfahren), das dem Berufungsgericht im Anlassverfahren zu Unrecht ein Abgehen vom Sachvorbringen und von den Anfechtungsgründen der beklagten Gesellschaft vorgeworfen und zudem ein unrichtiges Prüfkalkül angewendet hat, ist insgesamt eine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung unterlaufen.
7.1 Die Behauptung des Klägers, die im Anlassverfahren beklagte Gesellschaft beabsichtige, den Anbau abzureißen, muss unberücksichtigt bleiben, weil diese Frage nicht Gegenstand des Anlassverfahrens war.
Soweit der Kläger in seiner Rekursbeantwortung von einem „schuppenartigen Anbau“ spricht, weicht er von der ermittelten Sachverhaltsgrundlage ab. Nach den Feststellungen wurde der Anbau zunächst als Schuppen und später als Badezimmer genutzt. In den Versteigerungsbedingungen aus dem Jahr 1995 ist davon die Rede, dass es sich beim Anbau um einen Wohnraum handelt.
7.2 In der Rekursbeantwortung führt der Kläger schließlich noch aus, dass ein als berechtigt angenommener Schikaneeinwand nur dazu führen könne, dass der Anspruch auf Unterlassung der Nutzung der strittigen Grundfläche, nicht aber das Begehren auf Feststellung des Eigentums abgewiesen werde.
Die rechtliche Konsequenz eines berechtigten „Schikaneeinwands“ hat das Berufungsgericht im Anlassverfahren bereits dargestellt. Demnach wird das Recht des Liegenschaftseigentümers auf Räumung (hier auf Beseitigung bzw Entfernung) begrenzt.
Im gegebenen Zusammenhang ist der Kläger an sein Feststellungsbegehren im Anlassverfahren zu erinnern. Das (dem Kläger zuerkannte) Eventualbegehren ist in Bezug auf das Eigentum an der Grundfläche ident gefasst wie das Hauptbegehren. Auch das Eventualbegehren bezieht sich auf den Grundstreifen in der Bereite von etwa 2,5 m, und zwar vom Betonfundament auf dem Gst 70/2 bis zur Hauskante ohne Berücksichtigung des Anbaus. Die Einschränkung im Eventualbegehren bezieht sich ausschließlich auf den Anbau („wobei aber der bloß im Erdgeschoss befindliche Anbau des Hauses nicht vom Eigentum des Klägers umfasst ist“), also nur auf das Bauwerk selbst.
8. Insgesamt hält der Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts der Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof nicht stand. In Stattgebung des Rekurses war das abweisende Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.
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