OGH 10ObS61/23b

OGH10ObS61/23b22.6.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Arno Sauberer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Arnaud Berthou (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*, geboren * 1967, Betriebsleiter, *, vertreten durch die Kinberger-Schuberth-Fischer Rechtsanwälte-GmbH in Zell am See, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, 1080 Wien, Josefstädter Straße 80, vertreten durch Dr. Hans Houska, Rechtsanwalt in Wien, wegen Versehrtenrente, über den Rekurs und die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen den Beschluss und das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 26. April 2023, GZ 12 Rs 35/23 p‑21, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00061.23B.0622.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Sozialrecht, Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

I. Der Rekurs und die Rekursbeantwortung werden zurückgewiesen.

II. Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger erkrankte im April 2021 an Corona. Die Infektion fand mit hoher Wahrscheinlichkeit am 12. April 2021 im beruflichen Umfeld statt. Gesundheitliche Schäden, die auf die Infektion zurückzuführen wären, liegen beim Kläger nicht vor. Durch die Infektionserkrankung ist keine Minderung der Erwerbsfähigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt ab dem 24. April 2021 bzw ab dem Ende des durch die Erkrankung bedingten Krankenstands feststellbar.

[2] Mit Bescheid vom 7. Juni 2022 „stellte“ die beklagte Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, gemäß § 117 B‑KUVG iVm §§ 172 ff „fest“, dass „der Vorfall“ vom 24. April 2021 gemäß §§ 175 f ASVG nicht als Arbeitsunfall „anerkannt“ werde und „Leistungen gemäß §§ 173 ff ASVG“ nicht gewährt würden. Begründend führte sie aus, dass als Arbeitsunfälle gemäß § 175 ASVG Unfälle gelten würden, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereigneten, und ein solcher ursächlicher Zusammenhang nicht gegeben sei.

[3] In seiner dagegen erhobenen, auf „Anerkennung des Vorfalls vom 24. April 2021 als Arbeitsunfall“ und „Gewährung von Leistungen gemäß §§ 173 ff ASVG“ gerichteten Klage brachte der Kläger vor, an Corona erkrankt gewesen zu sein. Die Beklagte vermeine, dass kein Arbeitsunfall vorliege. Er habe jedoch nur Kontakt zu Arbeitskollegen gehabt und die Infektion habe nur in der Arbeit stattfinden können.

[4] Die Beklagte bestritt und beantragte die Abweisung der Klage. Der Kläger sei erst am 24. April 2021 positiv getestet worden und sei auch erst zu diesem Zeitpunkt erkrankt gewesen. Eine Infektion im Rahmen der zwölf Tage zurückliegenden Besprechung erscheine nicht plausibel.

[5] Im Schriftsatz vom 19. Jänner 2023 (ON 14) führte die Beklagte überdies aus, dass auch eine Anerkennung als Berufskrankheit ausscheide, weil der Kläger nicht in einem geschützten Unternehmen iSd Nr 38 der Anlage 1 zum ASVG tätig sei. Da es überhaupt an einer auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zurückgehenden Gesundheitsstörung mangle, könne eine Feststellung iSd § 82 Abs 5 ASGG nicht getroffen werden.

[6] Dem Protokoll der Tagsatzung vom 24. Jänner 2023 lässt sich entnehmen, dass der Kläger ein ergänzendes Vorbringen vorbereitet hatte, welches mit Zustimmung des Beklagtenvertreters dem Protokoll angeschlossen und zum Akt genommen wurde (ON 15.3 S 2). Anschließend replizierte der Beklagtenvertreter darauf und die Klagevertreterin bestritt, woraufhin die Verhandlung geschlossen wurde.

[7] Das Erstgericht wies das Klagebegehren „des Inhalts, es werde festgestellt, dass der Vorfall vom 24. April 2021 ein Arbeitsunfall gewesen und die beklagte Partei verpflichtet sei, Leistungen gemäß §§ 173 ff ASVG zu erbringen“ ab. Es stellte den eingangs gekürzt wiedergegebenen Sachverhalt fest und folgerte in rechtlicher Hinsicht, dass das Feststellungsbegehren mangels Vorliegens einer bestimmten auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführenden Gesundheitsstörung zum Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung erster Instanz abzuweisen gewesen sei. Das Unternehmen, bei dem der Kläger tätig sei, sei auch nicht iSd Nr 38 der Anlage 1 zum ASVG geschützt, sodass eine Anerkennung als Berufskrankheit ausscheide.

[8] Das Berufungsgericht ließ die Änderung des Klagebegehrens, es werde in eventu festgestellt, dass die Infektion mit dem SARS-CoV-2‑Virus eine Berufskrankheit sei, nicht zu und hob das angefochtene Urteil und das diesem vorangegangene Verfahren über das seiner Ansicht nach in der Verhandlung am 24. Jänner 2023 gestellte Eventualklagebegehren als nichtig auf; im Übrigen gab es der Berufung des Klägers nicht Folge und ließ die ordentliche Revision nicht zu.

[9] In der Tagsatzung vom 24. (richtig:) Jänner 2023 habe der Kläger (erkennbar) das Eventualbegehren erhoben, die erlittene Infektionskrankheit als Berufskrankheit festzustellen. Die Einbeziehung des (neuen) Versicherungsfalls der Berufskrankheit, der bislang nicht Gegenstand des vor dem Versicherungsträger durchgeführten Verfahrens gewesen sei, in das gerichtliche Verfahren sei unzulässig und es liege insofern der Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 6 ZPO vor. Hinsichtlich des Hauptbegehrens fehlten Ausführungen in der Berufung bzw gingen diese nicht vom festgestellten Sachverhalt aus, sodass sie nicht gesetzmäßig ausgeführt sei.

Rechtliche Beurteilung

[10] Dagegen richten sich der Rekurs und die außerordentliche Revision des Klägers, mit denen er die Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinn einer Stattgebung der Klage anstrebt; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

I. Zum Rekurs

[11] I.1. Der Rekurs ist mangels Beschwer unzulässig.

[12] I.2.1. Nach ständiger Rechtsprechung und überwiegender Lehre setzt jedes Rechtsmittel eine Beschwer, also ein Anfechtungsinteresse voraus, ist es doch nicht Sache der Rechtsmittelinstanzen, rein theoretische Fragen zu entscheiden (RIS‑Justiz RS0002495; RS0041770 [T25, T64, T80]). Kann ein Rechtsmittel seinen eigentlichen Zweck, die Rechtswirkungen der bekämpften Entscheidung durch eine Abänderung oder Aufhebung zu verhindern oder zu beseitigen, nicht (mehr) erreichen, fehlt das notwendige Rechtsschutzinteresse (RS0002495 [T43, T78]).

[13] I.2.2. Das erfordert grundsätzlich sowohl formelle als auch materielle Beschwer (RS0041868). Letztere liegt vor, wenn der Rechtsmittelwerber in seinem Rechtsschutzbegehren durch die angefochtene Entscheidung unmittelbar beeinträchtigt wird, er also ein Bedürfnis auf Rechtsschutz gegenüber der angefochtenen Entscheidung hat (RS0041746; RS0043815), weil in seine Rechtssphäre nachteilig eingegriffen wird (RS0118925).

[14] I.3.1. Das Berufungsgericht leitete eine Klageänderung (Erweiterung um ein Eventualklagebegehren) aus einer Anlage zum Protokoll der Tagsatzung vom 24. Jänner 2023 (ON 15.2) ab. Tatsächlich wurde lediglich ein (offenbar) von der Klagevertreterin schriftlich vorbereitetes „ergänzendes Vorbringen“ dem Protokoll als Anlage beigefügt und die Anfügung des schriftlichen Vorbringens als Anlage protokolliert.

[15] I.3.2. Ein Hinweis auf eine Erstattung des Vorbringens in der Verhandlung und auf eine Ausdehnung der Klage ist dem Protokoll – wie dies § 208 Abs 5 Satz 2 ZPO in diesem Fall vorsehen würde – hingegen nicht zu entnehmen. Die bloße Protokollierung, dass ein schriftlich vorbereitetes Vorbringen dem Protokoll als Anlage beigefügt oder zum Akt genommen wird, genügt dem § 208 Abs 5 ZPO demgegenüber nicht. Da die Beobachtung der für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (§ 211 Abs 2 ZPO), ist von einem mündlichen Vortrag des Inhalts der Anlage in der Tagsatzung somit nicht auszugehen.

[16] I.3.3. Im Hinblick auf den in § 176 ZPO verankerten Verfahrensgrundsatz der Mündlichkeit der Verhandlung vor dem erkennenden Gericht kann – sofern nicht eine Sondernorm besteht (zB § 396 ZPO) – in Schriftsätzen enthaltenes Vorbringen nur dann berücksichtigt werden, wenn es in der Verhandlung mündlich vorgetragen wurde (RS0036700). Nach der Rechtsprechung wird eine in einem Schriftsatz erklärte Klageausdehnung deswegen erst mit dem Vortrag des Schriftsatzes in der mündlichen Verhandlung wirksam (RS0034965). Gleiches muss im vorliegenden Fall gelten, in dem ein schriftlich vorbereitetes Vorbringen dem Protokoll zwar als Anlage beigefügt (und „zum Akt“ genommen), dessen Inhalt aber von der Partei nicht mündlich vorgetragen wurde.

[17] I.3.4. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts erfolgte eine Ausdehnung der Klage (um ein Eventualbegehren) daher gar nicht und wäre über ihre Zulässigkeit folglich auch nicht zu entscheiden gewesen.

[18] I.4. Entgegen der Rechtsansicht des Klägers war der Versicherungsfall der Berufskrankheit auch nicht Gegenstand seiner (ursprünglichen) Klage.

[19] I.4.1. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass im Verfahren vor der Beklagten darüber nicht abgesprochen wurde. Im Spruch des bekämpften Bescheids wurde die geltend gemachte Gesundheitsstörung vielmehr nur dem Versicherungsfall des Arbeitsunfalls zugeordnet.

[20] Dem Kläger ist zwar zuzustimmen, dass auch ausgesprochen wurde, dass Leistungen „gemäß §§ 173 ff ASVG“ nicht gewährt würden. Dieser Teil des Spruchs ist aber völlig unbestimmt (vgl RS0084069 [T1]) und betrifft nur Leistungen, nicht jedoch die Frage, ob sich diese auf das Vorliegen (nur) eines Arbeitsunfalls oder (auch) einer Berufskrankheit ergeben. Auch im Zusammenhang mit der – im Zweifel zur Deutung des Spruchs heranzuziehenden (RS0049680 [T1]) – Begründung des Bescheids ist eine Zuordnung zum Versicherungsfall der Berufskrankheit nicht zu erkennen. In der Begründung des Bescheids wird vielmehr lediglich das Vorliegen eines Arbeitsunfalls angesprochen (und verneint). Hinweise darauf, dass im Verwaltungsverfahren auch der Versicherungsfall der Berufskrankheit gegenständlich war, was auf einen darauf bezogenen Entscheidungswillen des Versicherungsträgers schließen lassen könnte (vgl 10 ObS 141/22s Rz 16 und 21) sind dem Akt nicht zu entnehmen und werden vom Kläger auch nicht behauptet.

[21] I.4.2. Mit seiner Klage begehrte der anwaltlich vertretene Kläger ebenso nur die Anerkennung als Arbeitsunfall und die Gewährung von „Leistungen gemäß §§ 173 ff“. In der Klagserzählung wendete er sich gegen den gegenständlichen Bescheid und thematisierte übereinstimmend damit inhaltlich ausschließlich den Versicherungsfall des Arbeitsunfalls. Eine Geltendmachung des Versicherungsfalls der Berufskrankheit ist daraus aber nicht im Ansatz ersichtlich.

[22] Soweit sich der Kläger im Rekurs auf § 82 Abs 5 ASGG stützt, ergibt sich daraus nur, dass ein auf einen Arbeitsunfall oder auf eine Berufskrankheit gestütztes Leistungsbegehren ein entsprechendes Eventual-Feststellungsbegehren einschließt. Das konkret erhobene Begehren auf „Anerkennung des Vorfalls als Arbeitsunfall“ war aber ohnedies in diesem Sinn zu verstehen (RS0084069 [T8]). Eine Erweiterung des der Klage zugrunde liegenden Versicherungsfalls des Arbeitsunfalls auf jenen der Berufskrankheit kann daraus hingegen nicht abgeleitet werden.

[23] I.5.1. Aus dem Gesagten ergibt sich somit, dass das Berufungsgericht eine nicht (wirksam) vorgetragene Klageänderung nicht zugelassen und das Urteil bzw das diesem vorangegangene Verfahren hinsichtlich eines nicht geltend gemachten (auf eine Berufskrankheit bezogenen) Eventualbegehrens als nichtig aufgehoben hat.

[24] I.5.2. Die Zurückweisung eines nicht gestellten Klagebegehrens beeinträchtigt die Rechtssphäre des Klägers nicht (vgl jüngst 10 ObS 101/22h Rz 19). Ebenso wenig können die Nichtzulassung der nicht erfolgten Klageausdehnung durch das Berufungsgericht und die Aufhebung von Verfahrensteilen, die ein nicht gestelltes Eventualbegehren betreffen, für den Kläger nachteilige Wirkungen entfalten; insbesondere wird die künftige Geltendmachung einer Gesundheitsstörung als Folge der behaupteten Berufskrankheit dadurch nicht beeinträchtigt. Ob die Entscheidung des Berufungsgerichts in diesem Punkt bestehen bleibt oder ersatzlos behoben wird, hat auf die Rechtssphäre des Klägers letztlich vielmehr keinen Einfluss, sodass er dadurch nicht materiell beschwert ist.

[25] I.5.3. Der Mangel der Beschwer ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten (RS0041770 [T67]) und führt zur Zurückweisung des Rechtsmittels (RS0041770). Da der Zivilprozessordnung die Beantwortung eines jedenfalls unzulässigen Rechtsmittels fremd ist (10 Ob 3/16p; 8 ObA 5/15s; 6 Ob 137/06z), war auch die Rekursbeantwortung der Beklagten zurückzuweisen.

II. Zur außerordentlichen Revision

[26] II.1. Der Kläger macht in der außerordentlichen Revision geltend, dass nach einer Infektion mit dem Corona‑Virus Langzeitschäden bzw bestimmte Dauerfolgen nicht auszuschließen seien und daher ein Arbeitsunfall zu bejahen sei.

[27] II.2. Damit geht er – wie schon in der Berufung – nicht vom festgestellten Sachverhalt aus, nach dem gesundheitliche Schäden, die auf die Infektion zurückzuführen wären, beim Kläger (im maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung erster Instanz) nicht vorliegen. Der Kläger setzt sich auch mit der diesbezüglichen Argumentation des Berufungsgerichts nicht auseinander. Die Rechtsrüge ist daher nicht gesetzmäßig ausgeführt (RS0043603), sodass es der außerordentlichen Revision schon deswegen nicht gelingt, eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzuzeigen.

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