European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00015.24I.0604.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Gegenstand der verbundenen Verfahren sind die Ansprüche der Klägerin auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld für ihren * 2018 in Wien geborenen Sohn L* und ihren * 2019 in den Niederlanden geborenen Sohn P*.
[2] Die Klägerin ist bosnische Staatsbürgerin. Sie lebte in der Zeit von 2. Juni 2017 bis 24. Juli 2018 in Wien, wo ihr Sohn L* geboren wurde. Ihr Gatte (und Vater ihrer Söhne) ist niederländischer Staatsbürger. Er lebt in den Niederlanden und ist dort auch erwerbstätig. Von 9. Februar 2018 bis 9. Juni 2018 bezog die Klägerin Wochengeld (für L*); im Anschluss befand sie sich bis 13. April 2019 in Karenz. Ab 24. Juli 2018 lebte sie mit L* bei ihrem Gatten in den Niederlanden.
[3] Im Zeitraum von 14. April 2019 bis 23. Juni 2019 war die (bereits mit P* schwangere) Klägerin wieder bei ihrem ursprünglichen Dienstgeber in Österreich beschäftigt, wobei sie während dieser Zeit 28 Urlaubstage konsumierte und knapp einen Monat im Krankenstand war. Von 24. Juni 2019 bis 14. Oktober 2019 bezog sie Wochengeld (für P*) und befand sich dann bis 18. August 2020 erneut in Karenz. Sie wohnte zwar zwischen 24. April 2019 und 16. Oktober 2019 in Wien; P* war aber nie in Österreich gemeldet. Seither lebt sie wieder bei ihrer Familie in den Niederlanden. Nach Ende der zweiten Karenz (18. August 2020) nahm die Klägerin ihre Erwerbstätigkeit in Österreich nicht wieder auf; nach dem Verbrauch von Resturlaub wurde das Dienstverhältnis mit 2. September 2020 einvernehmlich gelöst.
[4] Zum Zeitpunkt der beiden Karenzvereinbarungen (für L* und P*) hatte die Klägerin jeweils die Absicht, im Anschluss an die Karenz ihre Arbeit (in Österreich) wieder aufzunehmen. Ihr Dienstverhältnis in Österreich beendete sie, weil ihr Dienstgeber für die Dauer der Covid‑19-Pandemie sowohl eine Tätigkeit im „Home-Office“ als auch unbezahlten Urlaub ablehnte.
[5] Das Erstgericht wies die auf Gewährung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für L* (1 Cgs 66/20g des Erstgerichts) und P* (1 Cgs 30/20p des Erstgerichts) gerichteten Klagen im dritten Rechtsgang ab.
[6] Das Berufungsgericht gab den Klagen, abgesehen von einer Reduktion des Kinderbetreuungsgeldes für L* um 1.300 EUR (§ 24a Abs 4 KBGG), dagegen statt.
[7] In ihrer außerordentlichen Revision zeigt die Beklagte keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO auf.
Rechtliche Beurteilung
[8] 1. Die geltend gemachten Mängel des Berufungsverfahrens im zweiten Rechtsgang liegen nicht vor.
[9] 1.1. Die Beklagte hat in der Berufungsverhandlung vom 26. April 2022 erklärt, gegen die vom Berufungsgericht in Aussicht gestellte „Beweiswiederholung durch Verlesung“ keine Einwände zu erheben, sodass der mittelbaren Beweisaufnahme grundsätzlich nichts im Wege stand (vgl RS0112459). Dass die zuvor erfolgte Erörterung im Rahmen der Berufungsverhandlung im konkreten Fall den von § 488 Abs 4 ZPO geforderten Informationswert nicht erreicht bzw sie das Vorgehen des Berufungsgerichts überrascht habe, weil für sie (auch mit Blick auf die Beweisrüge der Klägerin) nicht klar gewesen sei, was Gegenstand der Überprüfung der erstgerichtlichen Beweise sein sollte (vgl RS0113504; RS0040339; RS0042217 [insb T2] ua), behauptet die Beklagte nicht.
[10] 1.2. Der von der Beklagten in diesem Kontext erkannte „Begründungsmangel“ liegt ebenfalls nicht vor. Die Entscheidung über eine Beweisrüge ist mängelfrei, wenn sich das Berufungsgericht mit ihr auseinandersetzt und dazu nachvollziehbare Überlegungen anstellt und im Urteil festhält (RS0043150; RS0043371). Dem genügt das Berufungsgericht, wenn es die (wesentlichen) Argumente der Beweisrüge der Klägerin (im zweiten Rechtsgang) wiedergibt und ausführt, diese als stichhältig zu erachten.
[11] 1.3. Soweit die Beklagte noch moniert, ihr sei das Protokoll über die Berufungsverhandlung vom 26. April 2022 entgegen § 207 Abs 1 ZPO (idF der ZVN 2022 [BGBl I 2022/61]) nicht zugestellt worden, übersieht sie, dass diese Bestimmung erst am 1. Mai 2022 in Kraft getreten ist (§ 619 Abs 2 Z 1 ZPO) und auf nach dem 30. April 2022 aufgenommene Protokolle anzuwenden ist (§ 619 Abs 2 Z 8 ZPO). Dass sie die Zustellung einer Protokollsabschrift begehrt hätte (vgl § 212 Abs 5, § 212a Abs 2 ZPO idF vor der ZVN 2022 iVm § 463 Abs 1 ZPO) behauptet sie nicht.
[12] 2. In ihrer Rechtsrüge teilt die Beklagte zwar die Ansicht des Berufungsgerichts, wonach die von der Klägerin in den Niederlanden für ihre Söhne bezogenen Leistungen („Kinderopvangtoeslag“ und Kindergeld [„Kinderbijslag“]) auch mit dem einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld (zur Pauschalvariante vgl 10 ObS 55/23w) nicht vergleichbar seien. Sie leitet daraus aber ab, dass die Voraussetzungen für eine Koordinierung nach Art 68 VO (EG) 883/2004 nicht vorliegen. Daraus folgert sie, dass das Unionsrecht (gar) nicht zur Anwendung gelange und es somit auch die Voraussetzung des § 24 Abs 1 Z 1 iVm § 2 Abs 1 Z 4 KBGG, also den Mittelpunkt der Lebensinteressen des Elternteils und des Kindes in Österreich, nicht überlagern könne.
[13] 2.1. Der Oberste Gerichtshof hat in letzter Zeit mehrfach betont, dass die Ansicht, die VO (EG) 883/2004 sei nicht anzuwenden, wenn einander keine gleichartigen Leistungen gegenüber stehen, nicht zutrifft. In diesem Fall scheidet mangels zu koordinierender Leistungen zwar die Anwendung der Prioritätsregeln des Art 68 VO (EG) 883/2004 , nicht aber die Anwendung der VO (EG) 883/2004 an sich und vor allem nicht der Regelung über die Exportpflicht nach ihrem Art 67 aus (10 ObS 26/24g ua). In der hier vorliegenden Konstellation, wenn also keine vergleichbaren Leistungen gewährt werden, erfolgt die Anknüpfung nach den allgemeinen Bestimmungen der Art 11 ff VO (EG) 883/2004 und der Regelung über die Exportpflicht des Art 67 VO (EG) 883/2204 (10 ObS 2/24b Rz 13; 10 ObS 133/22i Rz 11; 10 ObS 12/23x Rz 16 ua).
[14] 2.2. Dass unter dieser Prämisse ein Anspruch auf Leistungen nach Art 7 VO (EG) 883/2004 weder dem Grunde noch der Höhe nach von einem Wohnsitz im Inland abhängig gemacht werden darf (10 ObS 26/24g Rz 9; 10 ObS 2/22z Rz 22 ua) und (für die Zeiten des Aufenthalts der Klägerin in den Niederlanden) die Voraussetzung des § 2 Abs 1 Z 4 KBGG insoweit überlagert werden (10 ObS 2/24b Rz 14; 10 ObS 123/23w Rz 16 mwN ua), stellt die Beklagte nicht in Abrede.
[15] 3. Die notwendige lückenlose Aneinanderreihung von Zeiten der Beschäftigung und dieser gleichgestellter Zeiten iSd § 24 Abs 2 KBGG iVm Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 („Gleichstellungskette“; jüngst 10 ObS 64/23v Rz 19 mwN) bestreitet die Beklagte (nur) mit dem Argument, im Anlassfall sei von einer bloßen Scheinkarenz auszugehen.
[16] 3.1. Eine „Scheinkarenz“ iSd § 24 Abs 3 KBGG liegt dann vor, wenn die vorübergehende Unterbrechung der (Erwerbs-)Tätigkeit zum Zweck der Kindererziehung nur vorgetäuscht wird, obwohl realiter von einer Beendigung der Tätigkeit auszugehen ist (10 ObS 64/23v Rz 23; 10 ObS 60/21b Rz 12 ua). Das hat der Oberste Gerichtshof in einem Fall verneint, in dem die Mutter bereits vor der Geburt zum Vater ihres Kindes nach Belgien verzogen war, bis rund zwei Monate vor dem Ende der Karenzzeit (die Möglichkeit und auch) die Absicht hatte, ihr Beschäftigungsverhältnis in Österreich wieder aufzunehmen, es dann aber noch vor Wiederaufnahme der Tätigkeit kündigte, weil ihr Dienstgeber einen unbezahlten Urlaub in Anschluss an die Karenz ablehnte (10 ObS 130/18t [ErwGr 1.5. und 1.7.]). Die einzelfallbezogene (vgl 10 ObS 179/21b Rz 13) Beurteilung des Berufungsgerichts, (auch) hier liege keine Scheinkarenz vor, entspricht den Grundsätzen dieser Rechtsprechung.
[17] 3.2. Wenn die Beklagte von einem nur pro forma aufrecht erhaltenen Dienstverhältnis ausgeht, findet das in den Feststellungen keine Grundlage.
[18] 4. Mit ihren Ausführungen, auch bei P* lägen die Voraussetzungen des § 24a Abs 4 KBGG vor, weicht die Beklagte vom festgestellten Sachverhalt ab, nach dem die Klägerin in den Niederlanden alle Untersuchungen während der Schwangerschaft und nach der Geburt fristgerecht nach dem niederländischen Gesundheitssystem durchgeführt hat.
[19] Soweit die Beklagte diese Tatsachenfeststellung erstmals in der Revision als aktenwidrig bekämpft, ist das unbeachtlich, weil sie in ihrer Berufungsbeantwortung keine dahingehende Rüge erhoben hat (RS0041773 [T7]). Abgesehen davon kann in der Übernahme von Feststellungen durch das Berufungsgericht schon begrifflich keine Aktenwidrigkeit liegen (RS0043240; RS0043347 [T12]).
[20] Dass das niederländische Untersuchungssystem nicht mit dem in Österreichisch etablierten System nach der MuKiPassV 2002 vergleichbar ist (vgl RS0133136), behauptet die Beklagte nicht (mehr).
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