European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00130.18T.0122.000
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld anlässlich der am 23. 6. 2015 erfolgten Geburt ihrer Tochter M***** für den Zeitraum von 19. 8. 2015 bis 22. 6. 2016 in Höhe von 64,63 EUR täglich.
Die Vorinstanzen gaben dem Klagebegehren statt. Das Berufungsgericht ließ die Revision nicht zu.
Rechtliche Beurteilung
Die außerordentliche Revision der beklagten Partei ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
1.1 Nach der Rechtsprechung ist im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 von der Fiktion der (weiteren) Ausübung der Erwerbstätigkeit insbesondere dann auszugehen, wenn ein Beschäftigungsverhältnis lediglich vorübergehend (für die Zeit der Karenz) unterbrochen wird (RIS‑Justiz RS0130045).
1.2 § 24 Abs 2 KBGG, der gleichzeitig auch eine Definition des Begriffs der Beschäftigung iSd Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 enthält und in grenzüberschreitenden Fällen des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld zur Anwendung kommen soll, normiert die Gleichstellung von Zeiten der Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit (ua) mit Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung einer zuvor zumindest 182 Kalendertage andauernden Erwerbstätigkeit zum Zweck der Kindererziehung während Inanspruchnahme einer Karenz nach dem MSchG bis maximal zum Ablauf des zweiten Lebensjahres (10 ObS 117/14z, SSV‑NF 29/13 = EvBl 2016/4, 32 [Niksova] = DRdA 2016/3, 37 [Kunz] = ZAS 2016/5, 33 [Petric]).
1.3 Mit dem Einwand, im vorliegenden Fall sei keine vorübergehende Unterbrechung, sondern eine „Scheinkarenz“ gegeben, mit der die Gleichstellungsvoraussetzungen des § 24 Abs 2 KBGG nicht erfüllt und die Zuständigkeit Österreichs für Familienleistungen iSd VO (EG) 883/2004 nicht begründet werde, zeigt die Revisionswerberin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung auf:
1.4 Bei einer „Scheinkarenz“ wird die vorübergehende Unterbrechung der Tätigkeit zum Zweck der Kindererziehung nur vorgetäuscht, obwohl realiter von einer Beendigung der Tätigkeit auszugehen ist (Holzmann‑Windhofer in Holzmann‑Windhofer/Weißenböck, KBGG [2017] 155).
1.5 Nach den im vorliegenden Fall getroffenen Feststellungen hatte die Klägerin anlässlich der Geburt ihrer Tochter mit ihrem Arbeitgeber (B***** I***** GmbH & Co KG mit Sitz in Wien) am 7. 8. 2015 eine Karenzvereinbarung gemäß § 15 MSchG bis zum zweiten Lebensjahr des Kindes (sohin vom 19. 8. 2015 bis zum 22. 6. 2017) getroffen. Bis zumindest Anfang April 2017 hatte sie die Möglichkeit und auch die Absicht, ihre Beschäftigung wieder aufzunehmen. Am 1. 4. 2017 kündigte sie das Beschäftigungsverhältnis zum 22. 6. 2017, nachdem ihr Arbeitgeber ihren Wunsch nach (unbezahltem) Urlaub bis Dezember 2017 abgelehnt hatte. Mittlerweile ist die Klägerin wieder beim Unternehmen B***** I***** – wenngleich in einer in Deutschland gelegenen Niederlassung – beschäftigt.
Die Klägerin war bereits Ende Februar 2015 zum Vater ihres Kindes nach Belgien gezogen; dieser war von seinem deutschen Arbeitgeber bis Dezember 2017 dorthin entsendet. Die Mietwohnung in Wien wurde Ende Februar 2015 aufgelöst und das Mobiliar nach Brüssel versendet.
1.6 Entscheidend ist in diesem Fall, ob die Karenzvereinbarung nur zum Schein abgeschlossen worden war.
1.7 Das Berufungsgericht hat sich mit der Frage auseinandergesetzt und ist zum Schluss gekommen, dass die Karenzvereinbarung nicht nur zum Schein getroffen wurde, die vorübergehende Unterbrechung der Erwerbstätigkeit nicht nur vorgetäuscht war und die Klägerin nach Ende der Karenz in den Beruf zurückkehren wollte. Diese Beurteilung ist nicht korrekturbedürftig. Dagegen spricht auch nicht der Umstand, dass die Mietwohnung in Wien bereits 2015 aufgelöst worden war, war doch eine Karenzzeit bis Mitte 2017 zu erwarten.
2.1 Auch mit dem (Eventual‑)Vorbringen, die Vorinstanzen hätten von Amts wegen ermitteln müssen, ob die – während ihrer Karenzzeit in Belgien lebende – Klägerin dort nicht doch Anspruch auf Familienleistungen gehabt hätte, die auf das österreichische Kinderbetreuungsgeld angerechnet hätten werden müssen, wird keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt:
Das Gericht hat im sozialgerichtlichen Verfahren gemäß § 87 Abs 1 ASGG die Pflicht, selbst alle Tatsachen von Amts wegen zu erwägen und zu erheben, die für die begehrte Entscheidung erforderlich sind und die zum Beweis dieser Tatsachen notwendigen Beweise von Amts wegen aufzunehmen (RIS‑Justiz RS0042477). Wenn sich daher aus dem Vorbringen der Parteien, aus Beweisergebnissen oder dem Inhalt des Akts Hinweise auf das Vorliegen bestimmter entscheidungswesentlicher Tatumstände ergeben, ist das Gericht verpflichtet, diese in seine Überprüfung einzubeziehen (RIS‑Justiz RS0086455). Die Verpflichtung des Sozialgerichts zur amtswegigen Beweisaufnahme bezieht sich aber nicht auf anspruchsvernichtende Umstände, für die der Sozialversicherungsträger behauptungspflichtig ist, wenn er solche Behauptungen nicht aufgestellt hat (RIS‑Justiz RS0109126 [T1]).
2.2 Wie die beklagte Partei in ihrer Klagebeantwortung vorbringt, hat ihre Anfrage an die zuständigen belgischen Behörden das Ergebnis erbracht, dass die Klägerin in Belgien Anspruch auf eine anlässlich der Geburt geleistete Einmalzahlung sowie auf eine monatliche Familienunterstützungsleistung (entsprechend der österreichischen Familienbeihilfe) hatte; dieses Vorbringen wurde von der Klägerin außer Streit gestellt. Dass diese Leistungen mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeldgesetz nicht vergleichbar und daher nicht anrechenbar sind (siehe RIS‑Justiz RS0122907), steht nicht mehr in Frage.
2.3 Dass die Klägerin Anspruch auch auf andere – dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare und daher anrechenbare – belgische Familienleistungen gehabt hätte, wurde von der beklagten Partei im erstinstanzlichen Verfahren nicht behauptet. Wenn das Berufungsgericht davon ausgegangen ist, dass sich weder aus dem Vorbringen der Parteien noch aus dem Inhalt des Akts Anhaltspunkte für eine solche Familienleistung ergäben, weshalb weitere Recherchen entbehrlich gewesen seien, hält sich dies im Rahmen der dargestellten Rechtsprechung.
2.4 Die zur Frage der Anrechnung geltend gemachte Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens hat das Berufungsgericht bereits verneint, sodass der angebliche Verfahrensverstoß nicht mehr erfolgreich vor dem Obersten Gerichtshof geltend gemacht werden kann (RIS‑Justiz RS0042963). Dieser Grundsatz kann auch nicht durch die Behauptung umgangen werden, das Berufungsverfahren sei mangelhaft geblieben, weil das Berufungsgericht der Mängelrüge nicht gefolgt sei (RIS‑Justiz RS0042963 [T58]).
2.5 Das Revisionsvorbringen, nachträglich habe sich herausgestellt, dass die Klägerin Anspruch auch auf die dem Kinderbetreuungsgeld ähnliche Leistung des belgischen „Erziehungsgelds“ gehabt hätte, weshalb ihr nach fiktiver Anrechnung dieser Leistung nur eine Ausgleichszahlung in Höhe von 54,65 EUR täglich gebühre, verstößt gegen das auch in Sozialrechtssachen geltende Neuerungsverbot (RIS‑Justiz RS0042049).
Die außerordentliche Revision ist daher zurückzuweisen.
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