European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00133.22I.1122.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiete: Sozialrecht, Unionsrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Revisionsgegenständlich ist der Anspruch der Klägerin auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 12. Oktober 2020 bis 15. August 2021. Die Klägerin ging in den letzten 182 Tagen vor der Geburt des Kindes in der Schweiz einer Beschäftigung nach. Sie wohnt mit ihrer Familie in Österreich.
[2] Das Kind der Klägerin wurde am 2. Juli 2020 geboren und wohnt im gemeinsamen Haushalt mit seinen Eltern an der österreichischen Adresse, an denen die genannten Personen auch hauptwohnsitzlich gemeldet sind.
[3] Die Klägerin war in den letzten 182 Tagen vor der Geburt des Kindes in der Schweiz im Rahmen dreier Dienstverhältnisse als Musiklehrerin beschäftigt. Zur Erbringung der Arbeitsleistung fuhr die Klägerin in die Schweiz und kehrte am selben Tag wieder an ihren Wohnort zurück. Bis 15. August 2021 war die Klägerin in Karenz.
[4] Der zweite Elternteil war bis 15. August 2021 nach dem GSVG und ist seit 16. Oktober 2021 nach dem ASVG pflichtversichert.
[5] Mit Bescheid vom 12. Oktober 2021 lehnte die beklagte österreichische Gesundheitskasse den Antrag der Klägerin vom 30. Juli 2020 auf Zuerkennung des Kinderbetreuungsgeldes als Ersatz des Erwerbseinkommens für ihr Kind für den Zeitraum von 12. Oktober 2020 bis 15. August 2021 ab.
[6] Die Vorinstanzen wiesen das dagegen auf Zuerkennung von einkommensabhängigem Kinderbetreuungsgeld gerichtete Klagebegehren ab. Die Klägerin erfülle die Voraussetzungen des § 24 Abs 1 Z 2 KBGG nicht. Das Unionsrecht zwinge zu keinem anderen Ergebnis. Österreich sei iSd VO (EG) 883/2004 nicht der Beschäftigungsstaat der Klägerin, sondern jener des zweiten Elternteils. Österreich wäre zwar auch als allenfalls nachrangig zuständiger Mitgliedsstaat verpflichtet, einem Anspruchsteller mit Beschäftigung im vorrangig zuständigen Mitgliedsstaat das österreichische Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens zu zahlen. Die Koordinierungs- und Antikumulierungsbestimmungen des Art 68 VO (EG) 883/2004 kämen aber nicht zur Anwendung, weil ein Anspruch in der Schweiz nicht bestehe.
Rechtliche Beurteilung
[7] In der außerordentlichen Revision macht die Klägerin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO geltend.
[8] 1. Die Klägerin steht auf dem Standpunkt, dass Österreich nach der VO (EG) 883/2004 für die Gewährung von Familienleistungen (vorrangig) zuständig sei. Für die Anwendung der Prioritätsregeln des Art 68 VO (EG) 883/2004 komme es nicht darauf an, ob die Leistungen tatsächlich ausgezahlt würden. Ein Anspruch auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld bestehe, weil sie 182 Tage vor der Geburt des Kindes in der Schweiz erwerbstätig gewesen und die Beschränkung des § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG auf eine lediglich in Österreich sozialversicherungspflichtige Tätigkeit unionsrechtswidrig sei.
[9] 2.1. Das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens ist eine zu koordinierende Familienleistung iSd Art 1 lit z und Art 3 Abs 1 lit j VO (EG) 883/2004 und ihrer Durchführungsverordnung (DVO) 987/2009 (RIS‑Justiz RS0122905 [T3]). Zuständig für die Erbringung und damit auch für einen allfälligen Export von Familienleistungen ist jener Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften gemäß Art 11 ff der VO (EG) 883/2004 anwendbar sind (10 ObS 36/21y [Pkt 1.2.]; 10 ObS 148/14h SSV‑NF 29/59 [Pkt 3.1]). Nach Art 11 Abs 1 VO (EG) 883/2004 unterliegen Personen, für die die Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Für Personen, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben, sind dies die Rechtsvorschriften dieses Beschäftigungsstaats (Art 11 Abs 3 lit a VO [EG] 883/2004) und zwar unabhängig davon, wo die Person ihren Wohnsitz hat. Im Fall der Klägerin ist nach der Verordnung (iVm Art 1 Abs 2 des Anhangs II des Freizügigkeitsabkommens mit der Schweiz) somit die Schweiz der für die Erbringung und damit auch für einen Export nach Art 67 VO (EG) 883/2004 zuständige Mitgliedsstaat.
[10] 2.2.1. Aus der von der Klägerin für ihre Rechtsauffassung ins Treffen geführten Bestimmung des Art 68 VO (EG) 883/2004 könnte sich die Anwendbarkeit österreichischer Rechtsvorschriften allenfalls dann ergeben, wenn die Klägerin – wie sie in der Revision geltend macht – ihren Anspruch vom zweiten Elternteil ableiten könnte, der in Österreich erwerbstätig ist (was nach Art 11 Abs 3 lit a VO [EG] 883/2004 die Leistungszuständigkeit Österreichs für ihn begründet). Eine solche Ableitung wäre aufgrund der in Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO 987/2009 angeordneten „Familienbetrachtungsweise“ möglich, nach der für die Frage, ob ein Anspruch auf Familienleistungen besteht und in welcher Höhe dieser gebührt, die gesamte Situation der Familie vom zuständigen Träger zu berücksichtigen ist, auch wenn gewisse Sachverhaltselemente (zB Wohnsitz oder Beschäftigungsort) in einem anderen Mitgliedstaat liegen.
[11] 2.2.2. Die Familienbetrachtungsweise spielt aber schon nach dem Wortlaut des Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO 987/2009 nur bei der Anwendung von Art 67 und 68 VO (EG) 883/2004 eine Rolle (10 ObS 173/19t SSV‑NF 34/35 [Pkt 2.4]; EuGH C‑32/18 , Moser, Rn 33, 34). Die Bestimmung des Art 68 VO (EG) 883/2004 , auf die sich die Klägerin in der Revision allein beruft, legt – um Doppelleistungen zu vermeiden – für den Fall der Kumulierung von Anspruchsberechtigungen fest, welche Staaten vorrangig zuständig sind. Diese Prioritätsregeln gelten jedoch nur für den Fall, dass für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Ansprüche auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind (10 ObS 36/21y [Pkt 1.2.]; 10 ObS 103/18x SSV‑NF 33/18 [Pkt 2.]; vgl EuGH C‑322/17 , Bogatu, Rn 24). Besteht hingegen in einem der beiden Staaten kein Anspruch auf eine mit dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Familienleistung, erfolgt die Anknüpfung nach der allgemeinen Regel zur Ermittlung des anzuwendenden Rechts nach Art 11 VO (EG) 883/2004 (EuGH C‑352/06 , Bosmann, Rn 26 [zur VO 1408/71 ]) und ist der Anspruch daher ausschließlich aufgrund der Regelung über die – hier nicht relevante (oben Punkt 2.1.) – Exportpflicht zu prüfen (Sonntag in Sonntag, KBGG3 § 2 Rz 54).
[12] 2.2.3. Die Klägerin stellt in der Revision nicht in Frage, dass die Schweiz keine dem Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens vergleichbare Leistung gewährt (s bereits 10 ObS 135/19d SSV‑NF 34/33 [Pkt 3.]; 10 ObS 35/11m SSV‑NF 25/39 [Pkt 3.4]). Da eine Familienbetrachtungsweise mangels Zusammentreffens vergleichbarer Ansprüche nicht zu erfolgen hat, kann die Klägerin ihre Ansprüche somit auch nicht von der Erwerbstätigkeit des zweiten Elternteils ableiten. Nach der allgemeinen Regel des Art 11 VO (EG) 883/2004 ist Österreich somit nicht verpflichtet, der Klägerin einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld zu gewähren (vgl EuGH C‑352/06 , Bosmann, Rn 27; C‑543/03 , Dodl und Oberhollenzer, Rn 48 [beide zur VO 1408/71 ]). Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass Österreich für ihre Ansprüche nach der VO (EG) 883/2004 nicht (vorrangig oder nachrangig) zuständig ist, ist demnach nicht zu beanstanden. Auf die in der Revision in diesem Zusammenhang thematisierte Frage, ob im Rahmen der Prioritätsregeln des Art 68 VO (EG) 883/2004 alle von mehreren Mitgliedstaaten gewährten gleichwertigen Leistungen und nicht nur solche zu berücksichtigen sind, die tatsächlich ausgezahlt werden, kommt es nicht entscheidend an, weil im vorliegenden Fall mit dem einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistungen weder gewährt noch ausgezahlt wurden.
[13] 2.3.1. Damit ist der vorliegende Sachverhalt aber mit jenem vergleichbar, in dem Österreich zur Erbringung der Leistung nach der VO (EG) 883/2004 nicht zuständig ist, weil beide Elternteile einer Beschäftigung im Ausland nachgingen und lediglich der Wohnort in Österreich liegt. In solchen Fällen werden vom Obersten Gerichtshof solche Beschäftigungszeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt wurden, auch unter Bedachtnahme auf das Primärrecht (s EuGH C‑95/18 ua, van den Berg, Giesen und Franzen, Rn 64) für die Erfüllung der von § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG gestellten Voraussetzungen nicht herangezogen (10 ObS 164/19y SSV‑NF 34/48; 10 ObS 135/19d SSV‑NF 34/33; 10 ObS 160/19f SSV‑NF 34/34; 10 ObS 120/19y SSV‑NF 33/70; in diesem Sinn auch Kovács, Die Koordinierung von Familienleistungen, ZAS 2022/10, 59 [63]; Sonntag, Aktuelle Probleme des Kinderbetreuungsgeldes und des Familienzeitbonus, ZAS 2022/9, 51 [57]).
[14] 2.3.2. Die von der Klägerin in der Revision für die Begründung ihres Standpunkts herangezogene Entscheidung 10 ObS 148/14h, nach der die Beschränkung des § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG auf eine lediglich in Österreich (und nicht auch in einem anderen EU‑Mitgliedstaat) ausgeübte sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit als unionsrechtswidrig zu qualifizieren und daher unbeachtet zu lassen ist (s RS0130428), ist hingegen nicht einschlägig, weil eine solche Sachverhaltsgleichstellung iSd Art 5 VO (EG) 883/2004 voraussetzen würde, dass die österreichischen Rechtsvorschriften nach der VO (EG) 883/2004 (vorrangig oder auch bloß nachrangig) zur Anwendung gelangen.
[15] 2.3.3. Die Verneinung des Anspruchs auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld durch die Vorinstanzen, weil die Klägerin in den letzten 182 Tagen unmittelbar vor der Geburt des Kindes nicht eine in Österreich sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit ausübte, entspricht somit der dargestellten höchstgerichtlichen Rechtsprechung.
[16] 3. Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision somit zurückzuweisen.
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