OGH 10ObS2/22z

OGH10ObS2/22z28.7.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dora Camba (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Alexander Leitner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*, Tschechische Republik, vertreten durch Claus & Berthold Rechtsanwaltspartnerschaft KG in Mistelbach, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Thurnher Wittwer Pfefferkorn & Partner Rechtsanwälte GmbH in Dornbirn, wegen Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 1. Dezember 2021, GZ 25 Rs 56/21 b‑41, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 29. Juli 2021, GZ 33 Cgs 127/20h‑30, teilweise bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00002.22Z.0728.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 69,80 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto aus Anlass der Geburt ihres Sohnes am 29. 3. 2018. Inhaltlich strittig ist insbesondere noch der Zeitraum von 1. 4. 2020 bis 30. 6. 2020, hinsichtlich dessen die beklagte Österreichische Gesundheitskasse ihre (internationale) Zuständigkeit bestreitet.

[2] Die Klägerin, tschechische Staatsbürgerin, hatte seit 21. 3. 2016 ihren Hauptwohnsitz in G*, Vorarlberg, wo sie auch gemeldet war. Sie arbeitete unselbständig erwerbstätig bis vor der Geburt ihres Sohnes bei der P* GmbH in G*. Sie bezog ab 2. 2. 2018 Wochengeld und ab 1. 3. 2018 Familienbeihilfe. Aus Anlass der Geburt ihres Sohnes beantragte die Klägerin bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten die Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto für den Zeitraum von 29. 3. 2018 bis 26. 7. 2020 (851 Tage, ca 2,3 Jahre). Mit ihrem Arbeitgeber, der P* GmbH vereinbarte die Klägerin eine Karenz von 29. 3. 2018 bis 28. 9. 2020 (2,5 Jahre). Nach Ende des Wochengeldbezugs am 25. 5. 2018 bezog die Klägerin ab 26. 5. 2018 Kinderbetreuungsgeld in Höhe von 14,53 EUR täglich bis 31. 3. 2020. Etwa zum Zeitpunkt der Geburt des Sohnes trennte sich die Klägerin vom Vater des Kindes und wohnte weiterhin in der Wohnung in G*, wo sie am 3. 4. 2018 auch den Sohn anmeldete.

[3] Mit E‑Mail vom 19. 11. 2019 informierte die Klägerin die Beklagte über ihren geplanten Umzug nach Tschechien und erkundigte sich wie folgt:

„[…] Betreff: Umzug – Mutterschaft

Ich habe österreichischen Mutterschaftsurlaub bis etwa Juli. Der Vater des Kindes lebt in der Tschechischen Republik, aber wir sind nicht zusammen. Im Januar möchte ich in die Tschechische Republik zurückkehren, wo ich gerne leben würde. Aber ich werde in Österreich arbeiten. Ich wollte fragen, ob ich bis Juli Anspruch auf Mutterschaftsurlaub aus Österreich habe, wenn ich umziehe. Danke [...]“

Die Beklagte antwortete der Klägerin mit E‑Mail vom 20. 11. 2019 wie folgt:

„[…] unter Berücksichtigung der gesetzlich möglichen Österreichischen Karenzdauer von 2 Jahren haben Sie vorerst bis 31. 3. 2020 Anspruch auf das Kinderbetreuungsgeld, auch wenn Sie nach Tschechien umziehen. Für den Zeitraum April bis Juli 2020 können wir noch keine Auskunft geben. Der Anspruch hängt davon ab, ob Sie das Dienstverhältnis in Österreich wieder beginnen und die Familienbeihilfe weiterbeziehen oder nicht. […]“

[4] Ab Anfang des Jahres 2020 beabsichtigte die Klägerin, nach Tschechien zurückzukehren und sich eine Arbeit in einem grenznahen Ort, L* oder M*, zu suchen. Im März 2020 fand sie eine neue Arbeitsstelle in M*, die etwa 20 km von ihrem nunmehrigen Wohnort in Tschechien entfernt ist. Wegen des Lockdowns konnte sie diese Arbeitsstelle erst im Mai 2020 (in Teilzeitauslastung) antreten. Am 27. 5. 2020 lösten die Klägerin und die P* GmbH das Dienstverhältnis der Klägerin einvernehmlich auf (Beil ./E). Der Familienbeihilfenbezug der Klägerin endete am 30. 6. 2020.

[5] Mit dem angefochtenen Bescheid vom 27. 5. 2020 wies die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung des Kinderbetreuungsgelds für den Zeitraum von 1. 4. 2020 bis 26. 7. 2020 ab. Sie widerrief die Zuerkennung des Kinderbetreuungsgelds für den Zeitraum von 1. 10. 2019 bis 31. 3. 2020 in Höhe von täglich 14,53 EUR und verpflichtete die Klägerin zum Rückersatz eines Betrags von 2.658,99 EUR.

[6] Mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrte die Klägerin die Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto in Höhe von 14,53 EUR täglich für den Zeitraum von 1. 4. 2020 bis 26. 7. 2020 sowie die Feststellung, dass sie nicht zum Rückersatz von Kinderbetreuungsgeld in Höhe von 2.658,99 EUR für den Zeitraum von 1. 10. 2019 bis 31. 3. 2020 verpflichtet sei. Sie sei wegen der Pandemie erst im Juli 2020 nach Tschechien übersiedelt, alle Anspruchsvoraussetzungen seien während des gesamten Bezugszeitraums erfüllt gewesen. Vom Vater des Kindes lebe sie getrennt.

[7] Die Beklagte wandte dagegen ein, dass die Klägerin und ihr Kind ab 1. 10. 2019 den Lebensmittelpunkt nicht mehr in Österreich gehabt hätten. Die Klägerin habe Familienbeihilfe nur bis 30. 6. 2020 bezogen.

[8] Das Erstgericht gab der Klage statt. Es traf noch folgende, von der Beklagten in der Berufung angefochtene Feststellungen: „Schließlich übersiedelte die Klägerin ua wegen des Pandemieausbruchs erst im Juli 2020 nach Tschechien. … In der bis zu ihrem tatsächlichen Umzug im Juli bleibenden Zeit fuhr die Klägerin noch ein paar Mal nach Tschechien.“ Rechtlich begründete es seine Entscheidung damit, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen der Klägerin und ihres Kindes während des Bezugszeitraums immer in Österreich gewesen sei.

[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise Folge. Es bestätigte das Urteil des Erstgerichts im Umfang der Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 1. 4. 2020 bis 30. 6. 2020 und der Feststellung, dass die Klägerin nicht zum Rückersatz des pauschalen Kinderbetreuungsgelds für den Zeitraum von 1. 10. 2019 bis 31. 3. 2020 in Höhe von 2.658,99 EUR verpflichtet sei. Im Umfang des Anspruchs der Klägerin auf Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 1. 7. 2020 bis 26. 7. 2020 hob es das Urteil des Erstgerichts auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an dieses zurück. Den Rekurs gegen den Aufhebungsbeschluss ließ das Berufungsgericht nicht zu.

[10] Das Berufungsgericht erachtete die in der Beweisrüge von der Beklagten begehrte Feststellung, dass die Klägerin bereits im Monat März 2020 (und nicht erst im Juli 2020) von Österreich nach Tschechien übersiedelt sei, als rechtlich nicht erheblich. Infolge eines Umzugs im März 2020 würde die Klägerin zur Grenzgängerin im Sinn des Art 1 lit f der VO (EG) Nr 883/2004, sodass der Anwendungsbereich der Verordnung eröffnet sei. Österreich sei zur Gewährung von Familienleistungen gemäß Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 zuständig, weil die Klägerin während des Bezugszeitraums durchgehend – bis Mai 2020 bei der P* GmbH in G* und ab Mai 2020 in M* – in Österreich unselbständig erwerbstätig gewesen sei. Die über die Dauer von zwei Jahren hinausreichende Karenz der Klägerin sei als einheitlicher Sachverhalt zu beurteilen und ändere nichts an der Zuständigkeit Österreichs, weil die Klägerin während der gesamten Karenz teilversichert gewesen sei. Auf eine von der Beklagten behauptete Erwerbstätigkeit des Vaters in Tschechien komme es nicht an, weil die Familienbetrachtungsweise bei der Klägerin als Alleinerzieherin nicht zur Anwendung gelange. Da die Klägerin bis Ende Juni 2020 die Familienbeihilfe bezogen habe, bestehe ihr Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt zu Recht. Hinsichtlich des restlichen Zeitraums 1. 7. bis 26. 7. 2020 seien die Anspruchsvoraussetzungen noch zu klären. Die Revision sei mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[11] Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten, mit der sie die Abweisung der Klage anstrebt.

[12] Die Klägerin hat bereits vor Freistellung eine Revisionsbeantwortung eingebracht, in der sie die Ab-, hilfsweise die Zurückweisung der Revision beantragt. Ein Vorgehen nach § 508a Abs 2 ZPO war daher nicht mehr erforderlich (2 Ob 159/16w ua; A. Kodek in Rechberger, ZPO5 § 508a Rz 4).

[13] Die Revision ist zur Klarstellung zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.

[14] Die Revisionswerberin macht geltend, dass Rechtsprechung zu grenzüberschreitenden Fällen mit Erwerbsunterbrechungen nach dem zweiten Geburtstag des Kindes fehle. Eine „gleichgestellte“ Zeit liege nach dem zweiten Geburtstag des Kindes gemäß § 24 Abs 3 KBGG nicht vor; die vor Einführung dieser Bestimmung ergangene frühere Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs sei nicht anwendbar. Im Zeitraum von 29. 3. 2020 bis 30. 6. 2020 gelange Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht zur Anwendung. Rechtsprechung zur Anwendung des § 24 Abs 3 KBGG „in Bezug“ auf Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 fehle. Aufgrund der auch hier anzuwendenden Familienbetrachtungsweise sei Tschechien zur Gewährung von Familienleistungen prioritär und Österreich nur nachrangig zuständig, denn der Vater des Kindes sei in Tschechien beschäftigt und das Kind habe seinen Wohnsitz seit 1. 3. 2020 in Tschechien gehabt. Nachrangige österreichische Familienleistungen könne die Klägerin aufgrund der höheren tschechischen Kinderbetreuungsgeldleistungen nicht fordern. Das Berufungsgericht sei zu diesem Thema zu Unrecht von einer unbeachtlichen Neuerung ausgegangen.

Dazu ist auszuführen:

Rechtliche Beurteilung

[15] 1. Voranzustellen ist, dass die Beklagte – wie sich bereits aus der Beweisrüge ihrer Berufung ergibt – die Behauptung, die Klägerin und ihr Kind hätten den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen bereits im Oktober 2019 nach Tschechien verlegt, nicht aufrecht erhält. Sie geht vielmehr von einer Übersiedelung der Klägerin und ihres Kindes mit 1. 3. 2020 nach Tschechien aus. Gründe, aus denen der Anspruch der Klägerin für den davor liegenden Zeitraum ab 1. 10. 2019 nicht zu Recht bestehen sollte (bzw der Rückforderungsanspruch der Beklagten zu Recht bestehen sollte), macht die Beklagte in ihrem Rechtsmittel nicht geltend.

2. Die Behauptung der Revisionswerberin, es fehle Rechtsprechung zu grenzüberschreitenden Fällen mit Erwerbsunterbrechungen nach dem zweiten Geburtstag des Kindes für den Anwendungsbereich des § 24 Abs 3 KBGG, trifft nicht zu:

[16] 2.1 Seit der vom Berufungsgericht ohnehin zitierten Entscheidung 10 ObS 117/14z (SSV‑NF 29/13), in der ein Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld zu beurteilen war, entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 von der Fiktion der (weiteren) Ausübung der Erwerbstätigkeit auch nach Ablauf des in § 24 Abs 2 und 3 KBGG genannten Zeitpunkts des Ablaufs des zweiten Lebensjahres des Kindes dann auszugehen ist, wenn ein Beschäftigungsverhältnis lediglich vorübergehend (für die Zeit der Karenz bzw des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld) unterbrochen wird, dem Grund nach aber fortbesteht und dies nach nationalem Recht zu einer Teilversicherung führt (RS0130045). Die Dauer des möglichen Bezugs von Kinderbetreuungsgeld während eines aufrechten Dienstverhältnisses – die ja zwei Jahre übersteigen kann – ist als ein einheitliches Sachverhaltselement anzusehen, das für eine durchgehende Fiktion der Ausübung der Erwerbstätigkeit spricht (10 ObS 117/14z).

[17] 2.2 Daran hielt der Oberste Gerichtshof in den Entscheidungen 10 ObS 135/16z SSV‑NF 31/15 zu einer Anschlusskarenz nach § 17 Abs 1 BAGS‑Kollektivvertrag und 10 ObS 96/17s – hier auch unter Bezugnahme auf § 24 Abs 3 KBGG – zu einer Anschlusskarenz nach § 29 des Kollektivvertrags der oberösterreichischen Ordensspitäler fest. In 10 ObS 96/17s entschied der Oberste Gerichtshof überdies – unter Bezugnahme auf die Entscheidung 10 ObS 51/17y (SSV‑NF 31/48) –, dass die in § 24 Abs 2 KBGG enthaltenen Worte „vorübergehende Unterbrechung“ nur so verstanden werden können, dass damit die Karenzzeit an sich als vorübergehende Unterbrechung einer (zuvor zumindest sechs Monate andauernden) Erwerbstätigkeit angesprochen wird und weder ein Austritt nach § 15r Z 3 MSchG bei Inanspruchnahme einer Karenz nach den §§ 15a, 15c, 15d oder 15q MSchG noch ein vorzeitiger berechtigter Austritt wegen bei der Geburt erlittener Verletzungen (Dienstunfähigkeit nach § 26 Z 1 AngG) die Gleichstellung der Karenz mit der tatsächlich ausgeübten Erwerbstätigkeit aufheben soll.

[18] 2.3 In 10 ObS 103/18x (SSV‑NF 33/18) entschied der Oberste Gerichtshof, dass § 24 Abs 3 KBGG nicht geeignet ist, eine aus dem im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 bestehenden Widerspruch des § 24 Abs 2 KBGG zu Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 folgende Unionsrechtswidrigkeit zu beseitigen. Eine Zeit des Bezugs von Krankengeld ohne Entgeltfortzahlung im Zeitraum von 182 Tagen vor der Geburt des ersten Kindes ist daher als einer Beschäftigung im Sinn der kollisionsrechtlichen Beurteilung der Leistungszuständigkeit Österreichs gemäß Art 11 Art 2 VO (EG) 883/2004 gleichgestellte Zeit anzusehen, wenn es um die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug pauschalen Kinderbetreuungsgelds geht. Auch eine „freiwillige“ Verlängerung der gesetzlichen Karenz unter Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses nach der Geburt des ersten Kindes um neun Tage ist für den Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld als einer Beschäftigung gleichgestellte Zeit im Sinn des Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 anzusehen (10 ObS 104/21y).

3.1 Selbst dann, wenn man mit der (nunmehrigen) Behauptung der Beklagten davon ausginge, dass die Klägerin bereits im März 2020 in die Tschechische Republik verzogen wäre und den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen nicht mehr in Österreich hätte, bestünde ihr Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto für den Zeitraum April 2020 bis Juni 2020 zu Recht:

[19] 3.2 Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Klägerin durch einen Umzug in die Tschechische Republik zur Grenzgängerin im Sinn des Art 1 lit f VO (EG) 883/2004 würde, wodurch der Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 hier – ab März 2020 – überhaupt erst eröffnet würde, stellt die Revisionswerberin nicht in Frage.

[20] 3.3 Das Kind vollendete das zweite Lebensjahr am 29. 3. 2020. Der Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto reicht jedoch über das zweite Lebensjahr des Sohnes bis zum 26. 7. 2020 hinaus. In dieser Zeit bestand das Dienstverhältnis der Klägerin zu ihrem Dienstgeber in Vorarlberg infolge der Karenzvereinbarung aufrecht fort. Die Klägerin war gemäß § 28 KBGG bzw § 8 Abs 1 Z 1 lit f ASVG für die Dauer des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld (§ 28 Abs 3 KBGG) in der Krankenversicherung teilversichert, weil nach § 28 KBGG die Beklagte als Krankenversicherungsträger zuständig ist. Die Dauer des möglichen Bezugs von Kinderbetreuungsgeld während eines aufrechten Dienstverhältnisses ist nach der dargestellten Rechtsprechung als ein einheitliches Sachverhaltselement anzusehen, das für eine durchgehende Fiktion der Ausübung der Erwerbstätigkeit spricht. Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 soll kurzfristige Änderungen der Zuständigkeit bei vorübergehender Einstellung der Erwerbstätigkeit und kurzfristigem Bezug von Geldleistungen der sozialen Sicherheit (zB Krankengeld) gerade verhindern (10 ObS 114/17z). Wie ausgeführt ist die Karenz als vorübergehende Unterbrechung der Erwerbstätigkeit an sich anzusehen (10 ObS 135/16z). Für die Beurteilung der kollisionsrechtlichen Zuständigkeit Österreichs zur Gewährung pauschalen Kinderbetreuungsgeldes ist daher hier bis zur (vorzeitigen) einvernehmlichen Beendigung dieses Dienstverhältnisses am 27. 5. 2020 – auch über den Ablauf des zweiten Lebensjahres des Kindes hinaus – von einer (gemäß Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 ) Beschäftigung gleichgestellten Zeit auszugehen.

[21] 3.4.1 Bereits ab Mai 2020 übte die Klägerin bei einem neuen Dienstgeber in Österreich wiederum eine unselbständige Erwerbstätigkeit aus, sodass sich die internationale Zuständigkeit Österreichs zur Gewährung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld für die weitere Dauer dieser Beschäftigung aus Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 ergibt. Dass das genaue Datum der Aufnahme der Erwerbstätigkeit der Klägerin bei ihrem neuen Dienstgeber nicht feststeht, schadet nicht, weil selbst im Fall eines Übergangs der internationalen Zuständigkeit die Beklagte gemäß Art 59 Abs 1 DVO (EG) 987/2009 verpflichtet wäre, das Kinderbetreuungsgeld bis 31. 5. 2020 zu leisten.

[22] 3.4.2 Der Oberste Gerichtshof hat bereits in der Entscheidung 10 ObS 96/17s ausgeführt, dass Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, gemäß Art 7 VO (EG) 883/2004 nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden dürfen, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Der europäische Gesetzgeber ordnet an, dass der Anspruch weder dem Grunde noch der Höhe nach von einem Wohnsitz im Inland abhängig gemacht werden darf. Art 7 VO (EG) 883/2004 betrifft § 24 Abs 2 KBGG, insoweit diese Regelung als Kollisionsregelung diskriminierende Anspruchsvoraussetzungen schafft, die zum Entzug des Kinderbetreuungsgeldes wegen des Wohnorts in einem anderen Mitgliedstaat führen. Nichts anderes kann für § 24 Abs 3 KBGG gelten, weil der innerstaatliche Gesetzgeber zwar den Beschäftigungsbegriff des Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 definieren kann, nicht jedoch durch eine solche Definition die zwingenden Zuständigkeitsregeln der VO (EG) 883/2004 verändern kann (vgl nur 10 ObS 101/18b SSV‑NF 33/8 mwH). Zu diesen Zuständigkeitsregeln zählt Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 ebenso wie Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 . Wie § 24 Abs 2 KBGG hat daher auch § 24 Abs 3 KBGG insofern unangewendet zu bleiben, als er gegen zwingende unionsrechtliche Zuständigkeitsregelungen verstößt (vgl RS0109951 [T3]).

[23] 4.1 Die Revisionswerberin argumentiert, dass sich der Wechsel der internationalen Zuständigkeit daraus ergebe, dass der Vater des Kindes in Tschechien beschäftigt sei und dass das Kind seinen Wohnsitz ab 1. 3. 2020 in Tschechien gehabt habe. Für beide Behauptungen fehlt es aber an einer Grundlage in den für den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen. Selbst wenn man im Sinn der Behauptungen der Revisionswerberin davon ausginge, dass auch das Kind mit der Klägerin bereits ab 1. 3. 2020 nach Tschechien übersiedelt wäre, hätte dies wie dargelegt wegen Art 7 VO (EG) 883/2004 keine andere rechtliche Beurteilung zur Folge.

[24] 4.2 Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt kann die Beklagte die von ihr behauptete nachrangige Zuständigkeit auch nicht auf die sogenannte „Familienbetrachtungsweise“ (Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009) stützen. Diese stellt nämlich lediglich im Ergebnis eine spezielle Ausprägung der Sachverhaltsgleichstellung im Sinn des Art 5 VO (EG) 883/2004 dar (10 ObS 148/14h SSV‑NF 29/59; Felten in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Art 60 DVO (EG) 987/2009 Rz 1). Die Anwendung der „Familienbetrachtungsweise“ kann daher nicht eine internationale Zuständigkeit begründen: Vielmehr hat umgekehrt der – zunächst zu bestimmende – zuständige Träger die Familienbetrachtungsweise anzuwenden, was hier aber, wie das Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend ausführt, für die zur Gewährung von Familienleistungen zuständige Beklagte nicht erforderlich ist.

[25] 4.3 Die Beklagte hat erstmals in der Berufung geltend gemacht, dass der Klägerin ab Juni 2020 aufgrund der höheren tschechischen Kinderbetreuungsgeldleistungen keine österreichischen Ausgleichszahlungen zustünden, sodass sie ab Juni 2020 keinen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld habe. Darauf ist das Berufungsgericht zutreffend wegen des auch im Rechtsmittelverfahren in Sozialrechtssachen geltenden Neuerungsverbots (RS0042049) nicht eingegangen.

[26] Der Revision war daher nicht Folge zu geben.

[27] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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