OGH 10ObS26/24g

OGH10ObS26/24g16.4.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Antonia Oberwalder (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag. N*, Schweiz, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, 1080 Wien, Josefstädter Straße 80, vertreten durch Dr. Hans Houska, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Februar 2024, GZ 23 Rs 52/23 b‑23, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00026.24G.0416.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Revisionsgegenständlich ist der Anspruch der Klägerin auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld für ihr am 31. August 2022 geborenes Kind im Zeitraum von 27. Oktober 2022 bis 30. August 2023. Die Klägerin ist österreichische Staatsbürgerin und in Österreich beschäftigt. Sie bezog von 2. Juli 2022 bis 26. Oktober 2022 Wochengeld und war anschließend bis 30. August 2023 in Karenz. Sie wohnt mit ihrer Familie in der Schweiz, in der auch der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen liegt.

[2] Mit Bescheid vom 27. März 2023 wies die beklagte Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau den Antrag der Klägerin vom 12. Februar 2023 auf Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für den Zeitraum von 31. August 2022 bis 30. August 2023 ab.

[3] Das Erstgericht wies das auf Zuerkennung von einkommensabhängigem Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum vom 27. Oktober 2022 bis 30. August 2023 im gesetzlichen Ausmaß gerichtete Klagebegehren ab.

[4] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge, sprach aus, dass das Klagebegehren dem Grunde nach zu Recht bestehe und verpflichtete die Beklagte zu einer vorläufigen Zahlung für diesen Zeitraum von 40 EUR täglich binnen 14 Tagen. Im Fall der Klägerin sei nach der VO (EG) 883/2004 (iVm Art 1 Abs 2 des Anhangs II des Freizügigkeitsabkommens mit der Schweiz) Österreich der für die Erbringung und damit auch für einen Export nach Art 67 VO (EG) 883/2004 zuständige Mitgliedstaat. Dem Anspruch stehe der Wohnsitz der Klägerin in der Schweiz wegen Art 7 VO (EG) 883/2004 nicht entgegen. Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

[5] Die dagegen erhobene außerordentliche Revision der Beklagten ist mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[6] 1. Die Beklagte steht in ihrem Rechtsmittel auf dem Standpunkt, dass ein Anspruch auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld nur bei einem Mittelpunkt der Lebensinteressen von Elternteil und Kind im Bundesgebiet bestehe. Für die Klägerin sei die Schweiz nach der VO (EG) 883/2004 für die Erbringung von Familienleistungen zuständig. In Fällen, in denen sich keine gleichartigen Leistungen gegenüber stünden, sei die VO (EG) 883/2004 und daher auch deren Art 5 und 7 nicht anwendbar. Andernfalls würden Inländer gegenüber Ausländern diskriminiert, weil diese die Voraussetzung des § 2 Abs 1 Z 4 KBGG iVm § 24 Abs 1 Z 1 KBGG erfüllen müssten, Ausländer hingegen nicht.

2. Dem ist nicht zu folgen:

[7] 2.1. Das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens ist eine zu koordinierende Familienleistung iSd Art 1 lit z und Art 3 Abs 1 lit j VO (EG) 883/2004 und ihrer Durchführungsverordnung (RS0122905 [T3, T4]). Zuständig für die Erbringung und damit auch für einen allfälligen Export von Familienleistungen nach Art 67 VO (EG) 883/2004 ist jener Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften gemäß Art 11 ff der VO (EG) 883/2004 anwendbar sind (10 ObS 12/23x Rz 14; 10 ObS 133/22i Rz 9; 10 ObS 36/21y Rz 21).

[8] 2.2. Nach Art 11 Abs 1 VO (EG) 883/2004 unterliegen Personen, für die die Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Für Personen, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben, sind dies die Rechtsvorschriften dieses Beschäftigungsstaats (Art 11 Abs 3 lit a VO [EG] 883/2004) und zwar unabhängig davon, wo die Person ihren Wohnsitz hat. Im Fall der Klägerin ist danach (iVm Art 1 Abs 2 des Anhangs II des Freizügigkeitsabkommens mit der Schweiz) somit Österreich der für die Erbringung und damit auch für einen Export nach Art 67 VO (EG) 883/2004 zuständige Mitgliedstaat.

[9] 2.3. Gemäß Art 7 VO (EG) 883/2004 dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ordnet der europäische Gesetzgeber damit an, dass der Anspruch weder dem Grunde noch der Höhe nach von einem Wohnsitz im Inland abhängig gemacht werden darf (10 ObS 2/22z Rz 22; 10 ObS 96/17s ErwGr 3.7). Übereinstimmend damit ordnet Art 67 VO (EG) 883/2004 an, dass eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats hat, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.

[10] Die Voraussetzung des § 2 Abs 1 Z 4 KBGG iVm § 24 Abs 1 Z 1 KBGG, wonach der Elternteil und das Kind den Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet haben müssen, wird – was die Beklagte grundsätzlich auch nicht bezweifelt – im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 durch deren Regeln überlagert (Sonntag in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG4 § 2 Rz 42). Aufgrund des Anwendungsvorrangs der VO (EG) 883/2004 steht der Umstand, dass die Klägerin und das Kind den Mittelpunkt der Lebensinteressen (nicht im Bundesgebiet, sondern) in der Schweiz haben, dem Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens somit nicht entgegen.

[11] 2.4. Die Frage, welcher von mehreren betroffenen Staaten aufgrund der Familienbetrachtungsweise des Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO 987/2009 nach Art 68 VO (EG) 883/2004 vorrangig oder nachrangig für die Erbringung von Leistungen zuständig sein könnte, stellt sich im vorliegenden Fall nicht.

[12] Die Familienbetrachtungsweise spielt schon nach dem Wortlaut des Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO 987/2009 nur bei der Anwendung von Art 67 und 68 VO (EG) 883/2004 eine Rolle (10 ObS 12/23x Rz 16; 10 ObS 133/22i Rz 11). Die Bestimmung des Art 68 VO (EG) 883/2004 wiederum legt– um Doppelleistungen zu vermeiden – für den Fall der Kumulierung von Anspruchsberechtigungen fest, welche Staaten vorrangig zuständig sind. Diese Prioritätsregeln gelten jedoch nur für den Fall, dass vergleichbare (gleichartige) Leistungen (aus dem Beschäftigungsstaat und dem Wohnmitgliedstaat) zusammentreffen (RS0122907 [T3]).

[13] Besteht hingegen in einem der beiden Staaten kein Anspruch auf eine mit dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Familienleistung, erfolgt die Anknüpfung nach der allgemeinen Regel zur Ermittlung des anzuwendenden Rechts nach Art 11 VO (EG) 883/2004 und ist der Anspruch daher ausschließlich aufgrund der Regelung über die Exportpflicht zu prüfen (10 ObS 12/23x Rz 16; 10 ObS 133/22i Rz 11).

[14] Die Beklagte steht in der Revision selbst auf dem Standpunkt, dass die Schweiz keine dem (einkommensabhängigen) Kinderbetreuungsgeld ähnliche Leistung gewährt, sodass die Koordinierungsregeln des Art 68 VO (EG) 883/2004 im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung gelangen.

[15] 2.5. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, das den Anspruch der Klägerin auf Kinderbetreuungsgeld nach der Regelung der VO (EG) 883/2004 über die Exportpflicht prüfte und aufgrund des Anwendungsvorrangs des Art 7 VO (EG) 883/2004 unabhängig vom Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in der Schweiz bejahte, entspricht daher der dargestellten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs.

[16] 3.1. Soweit die Beklagte aus der zitierten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ableitet, dass die VO (EG) 883/2004 (zur Gänze!) nicht anzuwenden sei, wenn einander keine gleichartigen Leistungen der betroffenen Mitgliedstaaten gegenüber stehen, ist dies nach dem Inhalt dieser Entscheidungen nicht nachvollziehbar, denen eine solche Aussage nicht zu entnehmen ist. Tatsächlich führte der Oberste Gerichtshof darin ausdrücklich aus, dass für die Erbringung und damit auch für einen allfälligen Export von Familienleistungen der nach Art 11 VO (EG) 883/2004 zu bestimmende Mitgliedstaat zuständig (10 ObS 12/23x Rz 14; 10 ObS 133/22i Rz 9) und nur die Anwendbarkeit der Prioritätsregeln des Art 68 VO (EG) 883/2004 vom Zusammentreffen gleichartiger Familienleistungen abhängig (10 ObS 12/23x Rz 16; 10 ObS 133/22i Rz 11) ist.

[17] 3.2. Entgegen der Rechtsansicht der Beklagten ist auch eine verfassungsrechtlich bedenkliche Inländerdiskriminierung nicht ersichtlich. Inländer werden nicht schon deswegen schlechter als Ausländer behandelt, bloß weil der Wohnsitz im Inland mit einem Wohnsitz in einem anderen, von der VO (EG) 883/2004 erfassten Staat gleichgestellt wird. Überdies können Inländer – wie im vorliegenden Fall die Klägerin – sich darauf genauso berufen.

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