OGH 9ObA147/21i

OGH9ObA147/21i17.2.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer und Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Bernhard Gruber (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei C* P*, vertreten durch Dr. Gerhard Hiebler und Dr. Gerd Grebenjak, Rechtsanwälte in Leoben, gegen die beklagte Partei T* GmbH, *, vertreten durch Alix Frank Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 799,61 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3. Oktober 2019, GZ 6 Ra 62/19p‑13, mit dem das Urteil des Landesgerichts Leoben als Arbeits- und Sozialgericht vom 6. Mai 2019, GZ 23 Cga 10/19s‑9, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:009OBA00147.21I.0217.000

 

Spruch:

 

I. Das Verfahren wird fortgesetzt.

II. Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wie folgt zu lauten hat:

„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei den Betrag von 591,73 EUR samt 8,58 % Zinsen seit 15. Dezember 2018 binnen 14 Tagen zu bezahlen.

2. Das auf Zahlung von weiteren 207,88 EUR sA gerichtete Mehrbegehren wird abgewiesen.

3. Die beklagte Partei ist schuldig, der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Steiermark, Leoben, 405 EUR  an Aufwandersatz binnen 14 Tagen zu ersetzen.“

Die beklagte Partei ist weiters schuldig, binnen 14 Tagen der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Steiermark, Leoben, 255 EUR an Aufwandersatz für das Berufungsverfahren und der klagenden Partei die mit 251,10 EUR (darin 41,85 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger war bei der Beklagten von 6. 8. 2018 bis 14. 12. 2018 beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete durch unberechtigten vorzeitigen Austritt des Klägers. Von dem im Beschäftigungszeitraum erworbenen Urlaubsanspruch von 8,77 Arbeitstagen verbrauchte der Kläger zwei Tage. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses waren daher noch 6,77 Arbeitstage an Urlaubsanspruch offen.

[2] Der Kläger begehrt – unter Zugrundelegung seines monatlichen Bruttolohns von 2.227,18 EUR (unstrittig) – eine Urlaubsersatzleistung von 799,61 EUR sA für seinen bei Ende des Arbeitsverhältnisses noch offenen Urlaubsanspruch. § 10 Abs 2 UrlG, wonach bei vorzeitigem Austritt ohne wichtigen Grund kein Anspruch auf Urlaubsersatzleistung bestehe, verstoße gegen Art 31 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) und Art 7 Arbeitszeit-Richtlinie 2003/88/EG .

[3] Die Beklagte bestritt und beantragte unter Hinweis auf die gesetzlich unionsrechtskonforme Regelung des § 2 Abs 2 UrlG, das Klagebegehren abzuweisen. Jedenfalls habe die Berechnung der Urlaubsersatzleistung nur auf Basis des unionsrechtlichen Mindesturlaubs von vier Wochen zu erfolgen. Dem Kläger stünde daher allenfalls eine Urlaubsersatzleistung von 591,73 EUR zu.

[4] Das Erstgericht teilte den Rechtsstandpunkt des Klägers und gab dem Klagebegehren statt.

[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab. Der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs könne nicht entnommen werden, dass der in § 10 Abs 2 UrlG normierte Entfall des Anspruchs auf Urlaubsersatzleistung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Austritt des Arbeitnehmers ohne wichtigen Grund in Widerspruch zu Art 7 Abs 2 Arbeitszeit-Richtlinie bzw Art 31 Abs 2 GRC stünde.

[6] Die Revision wurde vom Berufungsgericht zugelassen, weil der hier maßgeblichen Rechtsfrage, inwieweit § 10 Abs 2 UrlG europarechtlichen Vorschriften entgegenstehe, eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zukomme.

[7] In seiner dagegen gerichteten Revision beantragt der Kläger die Abänderung des Berufungsurteils im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteils; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[8] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision des Klägers mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen zulässig und auch berechtigt.

[10] I. Aus Anlass des Rechtsmittelverfahrens legte der Oberste Gerichtshof zunächst dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor und setzte das Revisionsverfahren mit Beschluss vom 29. 4. 2020 bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus (9 ObA 142/19a).

[11] Da die Entscheidung des EuGH nunmehr vorliegt, war das Revisionsverfahren fortzusetzen.

[12] II.1.1. Mit Urteil vom 25. 11. 2021, C‑233/20 , hat der EuGH die Vorlagefragen wie folgt beantwortet:

„1. Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung in Verbindung mit Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, wonach eine Urlaubsersatzleistung für das laufende letzte Arbeitsjahr nicht gebührt, wenn der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin das Arbeitsverhältnis ohne wichtigen Grund vorzeitig einseitig beendet.

2. Der nationale Richter braucht nicht zu prüfen, ob der Verbrauch der Urlaubstage, auf die der Arbeitnehmer Anspruch hatte, für diesen unmöglich war.

[13] 1.2. In seiner Begründung führte der EuGH dazu zusammengefasst aus: Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die in der Richtlinie 2003/88 ausdrücklich gezogen werden (Rn 24). Art 7 Abs 1 der Richtlinie 2003/88 spiegelt das in Art 31 Abs 2 der Charta verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub wider und konkretisiert es (Rn 25). Deshalb darf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht restriktiv ausgelegt werden (Rn 26). Außerdem ergibt sich aus dem Wortlaut der Richtlinie 2003/88 und aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass es zwar Sache der Mitgliedstaaten sei, die Voraussetzungen für die Ausübung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festzulegen, sie dabei aber nicht bereits die Entstehung dieses sich unmittelbar aus der Richtlinie ergebenden Anspruchs von irgendeiner Voraussetzung abhängig machen dürfen (Rn 27). Insoweit ist auf den Zweck des durch Art 7 Abs 1 der Richtlinie 2003/88 jedem Arbeitnehmer eingeräumten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub hinzuweisen, der darin besteht, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen. Dieser Zweck, durch den sich der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von anderen Arten des Urlaubs mit anderen Zwecken unterscheidet, beruht auf der Prämisse, dass der Arbeitnehmer im Laufe des Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet hat (Rn 28). Außerdem stellt der Anspruch auf Jahresurlaub nur einen der beiden Aspekte des als unionssozialrechtliches Grundrecht verankerten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub dar. Dieses Grundrecht umfasst somit auch einen Anspruch auf Bezahlung und – als eng mit diesem Anspruch auf „bezahlten“ Jahresurlaub verbundenen Anspruch – den Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub (Rn 29). Wenn das Arbeitsverhältnis endet, ist es nicht mehr möglich, tatsächlich bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Um zu verhindern, dass dem Arbeitnehmer wegen dieser Unmöglichkeit jeder Genuss dieses Anspruchs, selbst in finanzieller Form, verwehrt wird, sieht Art 7 Abs 2 der Richtlinie 2003/88 vor, dass der Arbeitnehmer Anspruch auf eine finanzielle Vergütung hat (Rn 30). Ferner ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung, dass Art 7 Abs 2 RL 2003/88 für das Entstehen des Anspruchs auf eine finanzielle Vergütung keine andere Voraussetzung aufstellt als die, dass zum einen das Arbeitsverhältnis beendet ist und dass zum anderen der Arbeitnehmer nicht den gesamten Jahresurlaub genommen hat, auf den er bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch hätte (Rn 31). Somit ist der Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Hinblick auf den Anspruch auf eine finanzielle Vergütung nach Art 7 Abs 2 der Richtlinie 2003/88 nicht maßgeblich (Rn 32).

[14] 1.3. Dadurch, dass der Kläger im vorliegenden Fall während des Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet hat, hat er somit einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erworben, von dem ein Teil bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht verbraucht worden war. Die finanzielle Vergütung für nicht genommene Urlaubstage, die er vor dem Ende seines Arbeitsverhältnisses nicht verbrauchen konnte,dürfen ihm nicht allein deshalb verweigert werden, weil er sein Arbeitsverhältnis von sich aus beendet hat (Rn 33 f).

[15] 2.1. Aufgrund dieses Erkenntnisses des EuGH steht fest, dass der in § 10 Abs 2 UrlG normierte Entfall des Anspruchs auf Urlaubsersatzleistung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch (unberechtigten) Austritt des Arbeitnehmers ohne wichtigen Grund in Widerspruch zu Art 7 Abs 2 der Richtlinie 2003/88 , die für jeden Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen vorsieht, steht. Ist eine mit den Anforderungen dieser Richtlinie im Einklang stehende Auslegung und Anwendung der nationalen Regelung nicht möglich, ist eine unionsrechtswidrige nationale Regelung, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unangewendet zu lassen (RS0109951 [T3, T6, T7]; Mayr/Erler, UrlG³ § 10 UrlG Rz 7). Im horizontalen Rechtsverhältnis zu einem privaten Arbeitgeber kann sich der Arbeitnehmer zwar nicht unmittelbar auf die Richtlinie berufen, im Anwendungsbereich des Unionsrechts entfaltet das Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub nach Art 31 Abs 2 GRC aber unmittelbare Wirkung, sodass sich der Einzelne vor nationalen Gerichten einerseits direkt darauf stützen kann und andererseits nationale Gerichte verpflichtet sind, dieses Grundrecht direkt anzuwenden.

[16] 2.2. Kann – wie hier – eine nationale Regelung nicht im Einklang mit Art 7 der Richtlinie 2003/88 und Art 31 Abs 2 der GRC ausgelegt werden, ergibt sich aus Art 31 Abs 2 der GRC, dass das mit einem Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und seinem früheren privaten Arbeitgeber befasste nationale Gericht diese nationale Regelung nicht zu berücksichtigen hat (EuGH 6. 11. 2018 C‑684/16 , Max‑Planck‑Gesellschaft, Rn 81). Das nationale Gericht hat dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitnehmer für den nicht genommenen Jahresurlaub eine finanzielle Vergütung erhält (8 ObA 62/18b [Pkt. 3] unter Hinweis auf EuGH C‑569/16 und C‑570/16 , Stadt Wuppertal/Bauer, Willmeroth/Broßonn).

[17] 3. Auf dieser Grundlagehat der unberechtigt vorzeitig aus dem Arbeitsverhältnis ausgetretene Kläger grundsätzlich einen Anspruch auf Abgeltungseines zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht verbrauchten Urlaubsrests gemäß § 10 Abs 1 UrlG.Zu prüfen bleibt jedoch, ob der in § 10 Abs 2 UrlG unionsrechtswidrig normierte Urlaubsverfall nur den unionsrechtlichen Mindesturlaub von vier Wochen oder den gesamten nationalen Urlaubsanspruch nach § 2 Abs 1 UrlG – im Falle des Klägers von unstrittig 30 Werktagen (fünf Wochen) – betrifft.

Dazu hat der Senat erwogen:

[18] 4. Der Anwendungsbereich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC), was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, ist in Art 51 Abs 1 der GRC definiert. Danach gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Die Mitgliedstaaten sind an die GRC gebunden, wenn sie sekundäres Unionsrecht anwenden, insbesondere Verordnungen und Richtlinien vollziehen und umsetzen (vgl EuGH 26. 2. 2013 C‑617/10 , Akerberg Fransson, Rn 17 ff; 10 ObS 44/14i [Pkt. II.2.4.]; Holoubek/Oswald in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar2 Art 51 Rz 17).

[19] 5.1. Die Richtlinie 2003/88 legt zwar Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung fest, die von den Mitgliedstaaten zu beachten sind, doch haben diese gemäß Art 15 der Richtlinie das Recht, für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen. Somit steht die Richtlinie 2003/88 innerstaatlichen Bestimmungen nicht entgegen, die einen bezahlten Jahresurlaub vorsehen, der den durch Art 7 der Richtlinie garantierten Mindestzeitraum von vier Wochen übersteigt und unter den im nationalen Recht festgelegten Bedingungen für die Inanspruchnahme und Gewährung eingeräumt wird (EuGH 24. 1. 2012 C‑282/10 , Dominguez, Rn 47; EuGH 3. 5. 2012 C‑337/10 , Neidel, Rn 34 f; EuGH 20. 7. 2016 C‑341/15 , Maschek, Rn 38).

[20] 5.2. Soweit die Mitgliedstaaten nationale Rechtsvorschriften erlassen, mit denen den Arbeitnehmern ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub zuerkannt wird, der über die in Art 7 Abs 1 der Richtlinie vorgesehene Mindestdauer von vier Wochen hinausgeht, liegt keine Durchführung der Richtlinie 2003/88 im Sinn von Art 51 Abs 1 GRC vor (vgl EuGH 19. 11. 2019 C‑609/17 und C‑610/17 , Terveys- ja sosiaalialan neuvottelujärjestö (TSN) ry, Rn 54). Wenn im nationalen Recht daher mehr als die in der Richtlinie festgelegten vier Wochen Jahresurlaub vorgesehen sind, können die Mitgliedstaaten selbst entscheiden, ob sie für Arbeitnehmer, die diesen Urlaub während ihres Arbeitsverhältnisses nicht nehmen konnten, eine finanzielle Vergütung vorsehen, und sie können die Bedingungen für die Gewährung dieses zusätzlichen Anspruchs festlegen (vgl Mitteilung der EU-Kommission vom 24. 5. 2017, ABl C 2017/C 165/35).

[21] 6. Art 7 Abs 2 der Richtlinie 2003/88 räumt dem Arbeitnehmer einen Mindesturlaubsanspruch von vier Wochen ein. Da das UrlG dagegen dem Arbeitnehmer einen Urlaubsanspruch von fünf bzw sechs Wochen gewährt, geht die innerstaatliche Rechtslage über die unionsrechtlich erforderlichen Mindestansprüche hinaus und ist insoweit günstiger als das Unionsrecht. Um den unionsrechtlichen Vorgaben des EuGH (C‑233/20 ) zur Auslegung des Art 7 Abs 1 der Richtlinie 2003/88 im Anlassfall gerecht zu werden und dafür Sorge zu tragen, dass der Kläger für den zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses offenen Resturlaub eine finanzielle Vergütung erhält, genügt es daher nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, § 10 Abs 2 UrlG (nur) insoweit unangewendet zu lassen, als dem Kläger auf Grundlage des nach Art 7 Abs 2 der Richtlinie 2003/88 unionsrechtlich garantierten Mindesturlaubs von vier Wochen eine Urlaubsersatzleistung für seinen zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht verbrauchten Jahresurlaub erhält. Nach Ansicht des EuGH sind abweichende Regelungen zulasten der Arbeitnehmer zulässig, soweit davon nur der über den in Art 7 der Richtlinie 2003/88 normierten Mindesturlaubsanspruch von vier Wochen hinausgehenden Teil betroffen ist. Art 7 der Richtlinie 2003/88 steht etwa einer nationalen Regelung nicht entgegen, die zwar mehr als vier Wochen Urlaub, aber keine finanzielle Vergütung für den Fall vorsieht, dass ein in den Ruhestand tretender Arbeitnehmer diese zusätzlichen Urlaubsansprüche krankheitsbedingt nicht mehr vor Antritt seines Ruhestands verbrauchen kann (EuGH 3. 5. 2012 C‑337/10 , Neidel, Rn 36; Drs, Neuere Rechtsprechung zur Arbeitszeit-Richtlinie – Urlaubsrecht, in Kietaibl/Resch, Arbeitsrechtlicher Schutz aus unionsrechtlichen Vorgaben, 93). Eine finanzielle Abgeltung des über den vierwöchigen Mindesturlaub hinausgehenden Urlaubsteils ist daher unionsrechtlich nicht geboten.

[22] 7. Diese Rechtsauffassung wird auch im Schrifttum überwiegend vertreten (Erler, Urlaubsersatzleistung gebührt auch bei unberechtigtem Austritt, ecolex 2016, 854 [857]; differenziert ders in Der Urlaubsbegriff im Unionsrecht und dessen Auswirkungen auf das österreichische und deutsche Urlaubsrecht [Dissertation Johannes Kepler Universität Linz] 114 ff; Ludvik, Urlaubsverfall bei Austritt des Arbeitnehmers ist unionsrechtskonform – § 10 Abs 2 UrlG im Lichte der EuGH-Judikatur, ASoK 2019, 325, 332; ders,Urlaubsverfall bei Arbeitnehmeraustritt – Der Urlaubsverfall austretender Arbeitnehmer ist unionsrechtswidrig – gilt das auch für den nationalen Urlaubsteil?, ASoK 2022, 2 [7]; Rudkowski in Schlachter/Heinig, Europäisches Arbeits- und Sozialrecht², § 12 Rz 16).

[23] 8. Die dem Kläger gebührende Urlaubsersatzleistung errechnet sich daher auf Basis des unionsrechtlichen Mindesturlaubs von vier Wochen wie folgt: 20 Urlaubstage (Arbeitstage) : 365 x 128 Tage (Beschäftigungszeitraum) = 7,01 Urlaubstage – 2 Tage verbraucht = 5,01 Tage x 118,11 Euro = 591,73 Euro.

[24] 9. Da sich die Revision des Klägers damit teilweise als berechtigt erweist, sind die Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinn einer teilweisen Klagsstattgabe im Umfang von 591,73 Euro brutto sA abzuändern. Das darüber hinausgehende Mehrbegehren ist abzuweisen.

[25] 10. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 43, 50 ZPO in Verbindung mit dem Aufwandersatzgesetz und der Aufwandersatzverordnung. Der begehrte Zuschlag nach TP 3 Anm 5 zu den Kosten der Revision war zuzusprechen, weil die Anregung zur Einholung einer Vorabentscheidung eingehend rechtlich begründet war. Ein ERV-Zuschlag gemäß § 23a erster Satz RATG in Höhe von 4,10 EUR gebührt nur für verfahrenseinleitende, nicht jedoch für fortgesetzte Schriftsätze, unter denen nicht auch Rechtsmittel zu verstehen sind (RS0126594; daher nur 2,10 EUR).

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