European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0060OB00116.21H.0623.000
Spruch:
1. Dem Revisionsrekurs der klagenden Partei wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Rekursgericht die neuerliche Entscheidung über den Rekurs unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.
Die Kosten des Revisionsrekursverfahrens sind weitere Kosten des Rekursverfahrens.
2. Der Revisionsrekurs der beklagten Partei wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei hat die Kosten ihres unzulässigen Rechtsmittels selbst zu tragen.
Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Revisionsrekursbeantwortung selbst zu tragen.
Begründung:
[1] Der Kläger erwarb von der beklagten Autohändlerin im Jahr 2014 einen PKW, der mit einem Dieselmotor ausgestattet ist. Wegen behaupteter Abgasmanipulationen ficht er den Kaufvertrag wegen Irrtums an, macht Gewährleistung, Schadenersatz sowie laesio enormis geltend und begehrt die Aufhebung des Kaufvertrags und die Rückzahlung des Kaufpreises abzüglich eines Benützungsentgelts.
[2] Das Erstgericht unterbrach das Verfahren bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über den vom Obersten Gerichtshof zu 10 Ob 44/19x gestellten Antrag auf Vorabentscheidung. Das vorliegende Verfahren betreffe einen vergleichbaren Sachverhalt, weshalb sich auch die selben Rechtsfragen stellten.
[3] Das Rekursgericht wies den (nur) vom Kläger gegen diese Entscheidung erhobenen Rekurs zurück. Es vertrat die Auffassung, die auf Art 267 AEUV beruhende Vorlagebefugnis der Gerichte dürfe nach der Rechtsprechung des EuGH nicht durch Regelungen des nationalen Verfahrensrechts eingeschränkt werden. Daraus folge, dass es auch bei einer Unterbrechung eines Verfahrens wegen eines bereits anhängigen Vorabentscheidungsverfahrens dem Rechtsmittelgericht verwehrt sei, dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens ohne Abwarten der Entscheidung des EuGH aufzutragen.
[4] Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu, weil es von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen sei.
[5] Gegen diese Entscheidung richten sich die Revisionsrekurse beider Parteien, und zwar jener des Klägers mit dem erkennbaren Antrag, die Entscheidung dahin abzuändern, dass die Beschlüsse der Vorinstanzen ersatzlos behoben und dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens aufgetragen werde; hilfsweise wird beantragt, dem Rekursgericht die Sachentscheidung über den Rekurs aufzutragen. Jener der Beklagten beantragt, dem Rekursgericht die Sachentscheidung über den Rekurs aufzutragen.
[6] Der Kläger erstattete eine Revisionsrekursbeantwortung mit dem Antrag, den Revisionsrekurs der Beklagten abzuweisen.
Rechtliche Beurteilung
[7] Der Revisionsrekurs des Klägers ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig; er ist auch berechtigt.
[8] Der Revisionsrekurs der Beklagten ist unzulässig.
[9] I. Zum Revisionsrekurs der Beklagten:
[10] 1. Die Beklagte begründet ihre Beschwer durch die Zurückweisung des Rekurses des Klägers damit, dass im Falle einer „Abweisung des Rekurses“ der Kläger die Kosten des Rekursverfahrens auf Seiten der Beklagten hätte tragen müssen.
[11] 2. Nach ständiger Rechtsprechung vermag jedoch das alleinige Interesse an einer für den Rekursgegner günstigeren Kostenentscheidung der zweiten Instanz eine Beschwer nicht zu begründen (RS0002396 [insb T28]), weshalb der Revisionsrekurs der Beklagten als unzulässig zurückzuweisen war.
[12] 3. Der Kläger hat auf die Unzulässigkeit des Revisionsrekurses der Beklagten in seiner Revisionsrekursbeantwortung nicht hingewiesen. Er hat daher die
Kosten seiner
Rechtsmittelbeantwortung selbst zu tragen (vgl RS0035962; RS0035979).
[13] II. Zum Revisionsrekurs des Klägers:
[14] 1. Nach § 192 Abs 2 ZPO können die nach den §§ 187 bis 191 ZPO erlassenen Anordnungen, soweit sie nicht eine Unterbrechung des Verfahrens verfügen, durch ein Rechtsmittel nicht angefochten werden. Ein Rekurs gegen eine Entscheidung, mit der ein Verfahren unterbrochen wird, ist daher grundsätzlich zulässig (RS0037003; vgl RS0037071).
[15] 2. Die (unmittelbar) auf Art 267 AEUV beruhende Vorlagebefugnis aller Gerichte darf nicht durch Regelungen des nationalen Verfahrensrechts eingeschränkt werden (EuGH C‑210/06, Cartesio ), was zur Unzulässigkeit eines gegen das Vorabentscheidungsersuchen erhobenen Rekurses führt (RS0106043).
[16] 3. Nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, die sich mit den Argumenten des Rekursgerichts bereits auseinandergesetzt hat, lässt sich daraus aber nicht ableiten, dass auch die Unterbrechung wegen eines von einem anderen Gericht gestellten Vorabentscheidungsersuchens unanfechtbar wäre (4 Ob 35/20f; 7 Ob 239/18z; 4 Ob 71/16v).
[17] 3.1 Zwar kann eine Unterbrechung aus Anlass eines in einem anderen Verfahren gestellten Vorabentscheidungsersuchen zweckmäßig und in diesem Fall auch „geboten“ sein, wenn dieselben Erwägungen betreffend Auslegungszweifel gemeinschaftsrelevanter Vorschriften auch für eine andere Rechtssache gelten (4 Ob 71/16v; RS0110583); eine von diesen Umständen unabhängige generelle Unterbrechungspflicht besteht jedoch nicht (RS0114648). Maßgebend dafür sind – wie auch sonst bei der Unterbrechung nach § 190 ZPO – die Umstände des Einzelfalls.
[18] 3.2 Ob die Voraussetzungen für eine Verfahrensunterbrechung vorliegen, ist daher einer Überprüfung im Rechtsmittelweg zugänglich; dies gilt insbesondere für die Frage, ob die Vorlagefragen tatsächlich für die rechtliche Beurteilung im vorliegenden Rechtsstreit entscheidungsrelevant sind (7 Ob 239/18z). Gerade dies dient in besonderem Maße der Prozessökonomie, führt doch eine Unterbrechung regelmäßig zu einem Verfahrensstillstand von erheblicher Dauer.
[19] 3.3 Dennoch ergibt sich daraus auch bei Erfolg des Rechtsmittels keine Bindung an eine der Auslegung des EuGH widersprechende Auslegung des Unionsrechts durch das Rechtsmittelgericht. Vielmehr steht es dem vorinstanzlichen Gericht weiterhin frei, das Unionsrecht in jeder ihm zutreffend erscheinenden Weise auszulegen, dessen Vorrang zu gewährleisten und in diesem Zusammenhang gegebenenfalls auch selbst ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten (4 Ob 35/20f; 4 Ob 71/16v).
[20] 3.4 Einen Widerspruch zu der vom EuGH geforderten eigenständigen Befugnis des Erstgerichts, ein Vorabentscheidungsersuchen zu beschließen, zeigt das Rekursgericht somit nicht auf. Es hat daher bei der Anwendung des § 192 Abs 2 ZPO zu bleiben.
[21] 4. Das Rekursgericht wird unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund über den Rekurs des Klägers zu entscheiden haben.
[22] 5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
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