OGH 2Ob214/19p

OGH2Ob214/19p27.2.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé sowie die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A***** P*****, vertreten durch Mag. Armin Zauner, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Wiener Linien GmbH & Co KG, Erdbergstraße 202, Wien 3, vertreten durch Dr. Ralph Mayer, Rechtsanwalt in Wien, wegen 11.519,03 EUR sA und Feststellung (Streitwert 6.000 EUR; Revisionsinteresse 5.759,51 EUR) über die Revision der beklagten Partei gegen das Teilzwischenurteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 27. September 2019, GZ 4 R 44/19y‑39, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 7. Februar 2019, GZ 34 Cg 46/17x‑35, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0020OB00214.19P.0227.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Teilzwischenurteil wird dahin abgeändert, dass im davon erfassten Umfang das Urteil des Erstgerichts als weiteres Teilurteil wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.341,52 EUR (darin enthalten 104,42 EUR USt und 715 EUR Pauschalgebühr) bestimmten Kosten des Verfahrens dritter Instanz binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung der Endentscheidung vorbehalten.

 

Entscheidungsgründe:

Der damals 74-jährige Kläger fuhr am 27. 1. 2017 in Wien mit einem Straßenbahntriebwagen der Type E2 auf der Linie 2 der Beklagten stadtauswärts. Er hatte damals eine gültige Jahreskarte der Beklagten. Beim Aussteigen bei der Haltestelle Josefstädter Straße (am Lerchenfelder Gürtel) um ca 21:50 Uhr stürzte der Kläger und verletzte sich.

Bei dieser im Bereich eines Gleisbogens angelegten Haltestelle hatte die Beklagte am Ende des Jahres 2015 die Randbordsteine ausgetauscht, um für den Straßenbahntriebwagen der Type ULF einen barrierefreien Einstieg zu schaffen. Dazu wurde dort, wo sich beim regulären Anhalten eines solchen Straßenbahntyps in der Station der vorderste Einstieg befindet, eine Bahnsteigkante errichtet. Zwischen Türmitte und Bahnsteigkante ist nach § 30 Abs 8 Straßenbahnverordnung 1999 (BGBl II 2000/76 idF BGBl II 2002/310; im Folgenden: „StrabVO“) ein Abstand von maximal 25 cm einzuhalten. Aufgrund des Raumbedarfs der Straßenbahn ist es aus technischer Sicht im Kurvenbereich nicht möglich, diesen Maximalabstand einzuhalten. Daher wurde im Kurvenbereich keine Bahnsteigkante, sondern eine im Vergleich zur Bahnsteigkante deutlich niedrigere Bahnsteigbegrenzung errichtet.

Die Bahnsteigbegrenzung dient zur Trennung der Verkehrsfläche von der „Fahrgastaufstellfläche“ oder einer Gehfläche. Dies soll einerseits das ungehinderte Einfahren der Straßenbahn in den Haltestellenbereich gewährleisten, andererseits eine Gefährdung der Fahrgäste durch das Einfahren der Straßenbahn hintanhalten.

Die Bahnsteigbegrenzung weist an der Unfallstelle gegenüber dem Gleisniveau der Straßenbahn eine Höhe von ca 4,5 cm auf und verfügt über eine rutschhemmende Oberfläche. Zwischen den Saumplatten des Gleises und der Bahnsteigbegrenzung besteht ein dunkelgrauer Randstreifen, der sich farblich von den Saumplatten und der Bahnsteigbegrenzung abhebt. Der Beginn der Bahnsteigbegrenzung ist beim Aussteigen deutlich sichtbar.

Es herrschte im Unfallzeitpunkt kein Tageslicht, es war trocken. Zur Beleuchtung der Haltestelle befanden sich Lichtstrahler an der Stützmauer der U-Bahnunterführung. Aufgrund der baulichen Abgrenzung von Gleis und Bahnsteigbegrenzung sowie der vorhandenen Beleuchtung ist die Haltestelle auch bei fehlendem Tageslicht für Benützer einer Straßenbahn aus verkehrstechnischer Sicht verkehrssicher.

Der Ausstieg beim Straßenbahntriebwagen der Type E2 hat als unterste Stufe eine ausfahrbare Trittstufe, die gegenüber dem Gleisniveau eine Höhe von ca 25 cm aufweist, der Niveauunterschied gegenüber der Bahnsteigbegrenzung beträgt ca 20,5 cm. Die ausfahrbare Trittstufe weist eine Breite von ca 24 cm auf. Die Distanz zwischen der äußersten Kante der Trittstufe und der Bahnsteigbegrenzung beträgt ca 39 cm. Im oberen Türbereich der Straßenbahn ist ein Scheinwerfer angebracht, der den Türbereich beim Fahrgastwechsel hell ausleuchtet, dadurch wird auch die Bahnsteigbegrenzung beleuchtet. Durch das Aussteigen von Personen kommt es zu einer gewissen Schattenbildung durch den Körper.

Beim Schritt aus der Straßenbahn von der letzten Trittstufe auf die Bahnsteigbegrenzung muss unter Berücksichtigung einer Schuhlänge von 30 cm und einem Überragen der Trittstufe mit der Schuhspitze von 6 cm eine horizontale Distanz von ca 63 cm überwunden werden, damit der Schuh zur Gänze auf der Bahnsteigbegrenzung auftreffen kann. Durch den Höhenunterschied von ca 20,5 cm zwischen Trittstufe und Bahnsteigbegrenzung kommt es zu einem leichten Kippen des Körpers und damit zu einer geringfügigen Verkürzung des Schritts um ca 3 cm. Um von der untersten Ausstiegsstufe vollständig auf die Bahnsteigbegrenzung auftreten zu können, hätte der Kläger ein Schrittmaß von ca 66 cm einhalten müssen, wozu der Kläger ohne Problem in der Lage war.

Die mittlere Schrittlänge des Klägers betrug ca 56 cm. Unter Berücksichtigung des Höhenunterschieds würde dabei das Schuhende ca 10 cm vor der Gehsteigkante auftreffen.

Der Kläger saß im ersten Waggon und stieg bei der dritten Türe aus. Er stieg direkt auf die Kante der Bahnsteigbegrenzung, bekam das Übergewicht, machte noch einen oder zwei Schritte und stürzte mit nach vorne ausgestreckten Armen auf den Gehsteig und verletzte sich. Beim Aussteigen schaute er nach vor, aber nicht auf den Boden, sodass er die Begrenzung nicht wahrnahm.

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Zahlung von 11.519,03 EUR sA, und zwar 10.000 EUR an Schmerzengeld, den Rest an Haushaltshilfekosten, Heilungskosten und Fahrtkosten. Weiters begehrt er die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle zukünftigen unfallskausalen Schäden. Er stützt sein Begehren auf die schuldhafte Verletzung von Sorgfaltspflichten aus dem Beförderungsvertrag, von Verkehrssicherungspflichten und auf das EKHG. Er brachte vor, mangels Beleuchtung, Kennzeichnung oder eines sonstigen Hinweises habe er den Niveauunterschied zur Bordsteinkante im Bereich der Ausstiegsstelle nicht wahrnehmen können. Anders als weiter vorne, wo kaum ein Niveauunterschied bestehe und auch eine gelbe Markierung an der Bordsteinkante gezogen sei, klaffe an der Unfallstelle ein unzulässiger Abstand von 39 cm zwischen der äußersten Kante der Trittstufe und der Bahnsteigbegrenzung statt der nach § 30 Abs 8 StrabVO erlaubten 25 cm. Es wäre der Beklagten zumutbar gewesen, den erst kürzlich umgebauten Haltestellenbereich durch bauliche Maßnahmen wie im vorderen Bereich der Haltestelle, wo kein Niveauunterschied zwischen Trittbrett und der Bahnsteigkante bestehe, zu entschärfen oder den betreffenden Bereich zumindest ausreichend auszuleuchten und wie den vorderen Bereich der Haltestelle ebenfalls gelb zu markieren und entsprechend zu kennzeichnen.

Die Beklagte wendete ein, die Haltestelle habe sich in einem verkehrssicheren Zustand befunden. Der Kläger habe den Unfall selbst verschuldet, weil er die Bordsteinkante übersehen oder auf diese derart sorglos getreten sei, dass er sogar das Gleichgewicht verloren habe und gestürzt sei. Der Unfall stelle für sie daher ein unabwendbares Ereignis dar und sei keinesfalls auf eine mangelhafte Beschaffenheit ihrer Einrichtungen zurückzuführen. Bei der betreffenden Kante handle es sich um keinen – nach der StrabVO auch gar nicht obligatorischen – Bahnsteig. Vielmehr sei wegen des kurvenartigen Verlaufs der Haltestelle nur eine Bahnsteigbegrenzung entsprechend den Richtlinien für Straßenbau in der zulässigen Höhe zwischen 3 und 5 cm errichtet worden.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es traf die wiedergegebenen Feststellungen und führte rechtlich aus, eine Verletzung von Verkehrssicherungspflichten liege nicht vor. Die Haltestelle sei vorschriftsgemäß errichtet worden. Wegen der Kurvenlage der Haltestelle habe kein Bahnsteig im Sinne der StrabVO, sondern nur eine Bahnsteigbegrenzung von 4,5 cm Höhe errichtet werden können. Die Ausstiegsstelle sei gut beleuchtet und der Höhenunterschied durch die dunkelgrauen Randstreifen gut sichtbar gewesen. Sie sei daher verkehrssicher, weshalb der Unfall auch nicht auf Fehler in ihrer Beschaffenheit, sondern ausschließlich auf die Sorglosigkeit des Klägers zurückzuführen sei. Von einem Fahrgast könne erwartet werden, dass er beim Aussteigen auf den Boden schaue.

Das Berufungsgericht bestätigte mit Teilurteil die Abweisung des Zahlungs- und Feststellungsbegehrens zur Hälfte. Im Übrigen sprach es mit Teilzwischenurteil aus, das Zahlungsbegehren bestehe dem Grunde nach zur Hälfte zu Recht. Mit Beschluss hob es hinsichtlich des Feststellungsmehrbegehrens das Urteil des Erstgerichts auf und verwies insoweit die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurück. Es ließ die ordentliche Revision gegen sein Urteil zu. Zum Aufhebungsbeschluss enthält die Entscheidung des Berufungsgerichts keinen Ausspruch, der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig.

Das Berufungsgericht führte in rechtlicher Hinsicht aus, wegen der allgemein bekannten unterschiedlichen Ausbauzustände von Haltestellen und der verschiedenen Bauarten der Straßenbahnwägen sowie der bei kurvenartigem Verlauf der Haltestellen nicht vermeidbaren unterschiedlichen Abstände sei nicht davon auszugehen, dass Fahrgäste aufgrund fehlgeleiteter Erwartungshaltungen mit einheitlichen Umständen rechnen könnten. Von ungewöhnlichen und an dieser Stelle nicht zu vermutenden Niveaudifferenzen, die eine besondere Kennzeichnung oder Warnpflicht auslösten, könne keine Rede sein. Der vorliegende Fall sei mit Entscheidungen, in denen bei Stürzen von Fahrgästen in den Spalt zwischen einem U-Bahn-Zug und dem Bahnsteig eine Haftung der Beklagten bejaht worden sei, nicht vergleichbar. Die Ausstiegsstelle sei verkehrssicher gewesen und habe den Anforderungen der StrabVO entsprochen. Eine Verletzung vertraglicher Verkehrssicherungspflichten liege nicht vor. Der zu überwindende Abstand von 39 cm sei aber so breit, dass Fahrgäste auch bei ausreichender Ausleuchtung relativ kurzfristig entscheiden müssten, ob sie einen größeren oder einen entsprechend kleineren Schritt beim Aussteigen setzen sollen, um entweder ganz auf den höher gelegenen Gehbereich oder – wenn ihnen eine Fuß- oder Schuhlänge zur Verfügung steht – ganz auf das tiefer liegende Gleisniveau zu treten. Das würden vor allem ältere oder gebrechliche Fahrgäste besonders in der Dunkelheit nicht ohne weiteres meistern. Die Beklagte habe völlig offen gelassen, ob und warum es ihr nicht möglich gewesen sein sollte, zumindest einen erheblich geringeren Abstand als 39 cm einzuhalten, was allenfalls ein gefahrloseres Aussteigen erwarten hätte lassen. Gleiches gelte für die in Punkt 8 Abs 2 der von der Beklagten herangezogenen Lichtraumvorschrift vorgesehene Höhenuntergrenze von 3 cm. Auch diesbezüglich bleibe offen, warum es nicht möglich gewesen sei, statt der ausgebauten Höhe von 4,5 cm diese geringere Höhe einzuhalten. Die Beklagte habe den Entlastungsbeweis nach § 9 EKHG somit gar nicht angetreten, weshalb sie nach dieser Bestimmung hafte. Weil der Kläger nicht vor die Füße geschaut habe, treffe ihn ein Verschulden, weshalb gemäß § 7 EKHG von der Haftung der Beklagten zur Hälfte auszugehen sei. Feststellungen zu den Schäden des Klägers fehlten. Mangels Spruchreife betreffend das nicht abgewiesene Feststellungsbegehren sei insoweit eine Aufhebung nötig.

Die Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Straßenbahnverordnung fehle und schon vor dem Hintergrund des Bestehens zahlreicher vergleichbarer „barrierefreier“ Haltestellen die Frage der dabei einzuhaltenden Sorgfalt in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausgehe.

Gegen das Teilzwischenurteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag auf Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt in der Revisionsbeantwortung, die Revision mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Die Revision ist wegen einer aufzugreifenden Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts zulässig, sie ist auch berechtigt.

Die Revisionswerberin macht zusammengefasst geltend, die Annahme der Gefährdungshaftung nach dem EKHG durch das Berufungsgericht sei unvertretbar, weil die Baulichkeiten in der Haltestelle den Vorschriften entsprochen hätten und verkehrssicher gewesen seien.

Rechtliche Beurteilung

Hierzu wurde erwogen:

1. Vertragliche Haftung:

Der Kläger hat die Haftung der Beklagten primär auf eine schuldhafte Verletzung des Beförderungsvertrags gestützt. Ein solcher lag im Unfallzeitpunkt vor, war doch der Kläger im Besitz einer gültigen Jahreskarte der Beklagten. Aus Beförderungsverträgen ergibt sich die vertragliche Nebenpflicht der Verkehrsunternehmen, die Sicherheit ihrer Fahrgäste zu gewährleisten und deren körperliches Wohlbefinden nicht zu verletzen (RS0021735). Zu dieser Pflicht gehört es, die Zu- bzw Abgänge zu bzw von den Verkehrsmitteln in einem Zustand zu erhalten, der das gefahrlose Ein- und Aussteigen der Fahrgäste gewährleistet. Dies gilt insbesondere für jene Teile einer Straße, von denen aus die Fahrgäste die Verkehrsmittel betreten bzw auf die sie beim Aussteigen gelangen (vgl 2 Ob 206/11z SZ 2012/82). Das Berufungsgericht hat eine Verletzung vertraglicher Verkehrssicherungspflichten verneint. Angesichts der Feststellung, dass die Haltestelle auch bei Nacht für die Benützer einer Straßenbahn aus verkehrstechnischer Sicht verkehrssicher ist, ist diese Beurteilung des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden.

2. Deliktische Verkehrssicherungspflichten, Schutzgesetzverletzung:

Der Kläger stützt seine Ansprüche ganz allgemein auf die Verletzung von (auch deliktischen) Verkehrssicherungspflichten und behauptet, die Haltestelle habe nicht den einschlägigen Vorschriften der StrabVO entsprochen.

2.1. Die maßgeblichen Normen der StrabVO in der im Unfallzeitpunkt geltenden Fassung lauten folgendermaßen:

Grundsätze

§ 3. Betriebsanlagen und Fahrzeuge müssen so beschaffen sein, dass sie den Anforderungen der Sicherheit und Ordnung genügen. Diese Anforderungen gelten als erfüllt, wenn Betriebsanlagen und Fahrzeuge gemäß den Bestimmungen dieser Verordnung und den von der Behörde erteilten Genehmigungen gebaut sind und betrieben werden.

Haltestellen

§ 30.

(2) Haltestellen sollen Bahnsteige aufweisen sowie Wetterschutz und Sitzmöglichkeiten bieten.

(8) Der waagrechte Abstand zwischen Bahnsteigkante und Fahrzeugfußboden oder Trittstufen muss möglichst klein sein; er darf im ungünstigsten Fall in der Türmitte 0,25 m nicht überschreiten.

(9) Die Höhen von Bahnsteigen, Fahrzeugfußböden und Fahrzeugtrittstufen sind so aufeinander abzustimmen, dass die Fahrgäste bequem ein- und aussteigen können. Der Bahnsteig soll nicht höher liegen als der Fahrzeugfußboden in seiner tiefsten Lage; die Bahnsteigoberfläche muss rutschhemmend sein.

(10) Bahnsteigkanten müssen deutlich erkennbar sein. An sonstigen Bahnsteiggrenzen ist der Gefahr des Abstürzens von Personen vorzubeugen.

...“

 

2.2. Das Erstgericht hat in seinen Tatsachenfeststellungen die Bahnsteigbegrenzung im Bereich der vom Kläger benützten Ausstiegstür nicht als „Bahnsteigkante“, sondern als „Bahnsteigbegrenzung“ bezeichnet. Damit hat das Erstgericht die baulichen Gegebenheiten zunächst in tatsächlicher Hinsicht beschrieben. Insoweit es damit aber auch schon eine rechtliche Beurteilung im Hinblick auf die Einordnung nach § 30 Abs 10 StrabVO treffen wollte, wäre der Oberste Gerichtshof daran nicht gebunden.

2.3. Aus § 30 Abs 10 StrabVO ergibt sich, dass zwischen „Bahnsteigkanten“ und „sonstigen Bahnsteiggrenzen“ zu unterscheiden ist. Da hier der Höchstabstand von 0,25 m nach § 30 Abs 8 StrabVO nicht eingehalten wurde, könnte die Haltestelle nur dann den Vorschriften der Verordnung entsprechen, wenn im Bereich, wo der Kläger ausstieg, keine „Bahnsteigkante“ sondern eine „sonstige Bahnsteiggrenze“ vorläge. Die StrabVO enthält jedoch keine Definitionen dieser Begriffe.

Die Beklagte stützt sich dazu auf die als Beilage ./3 auszugsweise vorgelegte „Lichtraumvorschrift für die Wiener Straßenbahn“, Ausgabe vom 1. 12. 2017. Deren P 8.2 liefert zwar eine mögliche Erklärung für die spezielle Bauweise des Bahnsteigs. Bei dieser Lichtraumvorschrift handelt es sich aber bloß um betriebsinterne technische Regeln, die – wie sonstige Betriebsvorschriften – nur dann als Schutznormen zugunsten der Fahrgäste qualifiziert werden könnten, wenn sie behördlich genehmigt worden wären (RS0027539). Dafür fehlt aber jeder Anhaltspunkt (vgl die Genehmigungsvermerke auf Seite 1 der Beilage ./3). Auf den Inhalt dieser Vorschrift muss daher nicht näher eingegangen werden, weil sie für die Auslegung der StrabVO nicht maßgeblich ist.

Dagegen, hier eine „sonstige Bahnsteiggrenze“ anzunehmen, spricht schon der Umstand, dass bei dem gegebenen Niveauunterschied von 4,5 cm nicht die in § 30 Abs 10 StrabVO erwähnte „Gefahr des Abstürzens von Personen“ besteht. Es gibt keinen Grund, den gleisseitigen, wenngleich nicht sehr großen Niveauunterschied nicht als „Bahnsteigkante“ anzusehen. Nach Ansicht des Senats entspricht die Ausführung der Haltestelle somit nicht § 30 Abs 8 StrabVO.

2.4. Daraus ist für den Kläger aber nichts gewonnen. Die erörterten Normen der StrabVO sind – wie schon aus deren § 3 ersichtlich ist – Schutzgesetze iSd § 1311 ABGB, die die Sicherheit der Fahrgäste bezwecken und deren Schädigung beim Betrieb von Straßenbahnen hintanhalten sollen.

Wird ein Schadenersatzanspruch auf die Verletzung eines Schutzgesetzes gestützt, dann hat der Geschädigte den Schadenseintritt und die Verletzung des Schutzgesetzes als solche zu beweisen. Für Letzteres reicht der Nachweis aus, dass die Schutznorm objektiv übertreten wurde. Den Nachweis, dass ihm die objektive Übertretung des Schutzgesetzes nicht als schutzgesetzbezogenes Verhaltensunrecht anzulasten ist, ihn somit an der Übertretung dieses Schutzgesetzes kein Verschulden traf, hat jedoch der Schädiger zu erbringen (RS0112234 [T1]).

Hier ist dem Kläger der Beweis seines Schadens und der objektiven Schutzgesetzverletzung gelungen. Der Beklagten ist jedoch der Beweis mangelnden Verschuldens gelungen, steht doch fest, dass es aufgrund des Raumbedarfs der Straßenbahn aus technischer Sicht im Kurvenbereich nicht möglich war, den Maximalabstand nach § 30 Abs 8 StrabVO einzuhalten.

Die Beklagte haftet daher auch nicht aus Schutzgesetzverletzung oder Verletzung deliktischer Verkehrssicherungspflichten.

3. Haftung nach dem EKHG:

3.1. Das Aussteigen ist ein mit dem Betrieb der Eisenbahn zusammenhängender Vorgang (2 Ob 35/64; RS0058170; RS0029840 SZ 37/34; vgl auch RS0058321; RS0022569 [T6]). Ein Unfall beim Aussteigen begründet daher nach § 5 EKHG die Haftung des Betriebsunternehmers, wenn ihm nicht der Entlastungsbeweis nach § 9 EKHG gelingt. Nach dieser Bestimmung ist die Ersatzpflicht ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit noch auf einem Versagen der Verrichtungen der Eisenbahn beruhte. Die Beweislast für das Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses trifft den Betriebsunternehmer; allfällige Zweifel gehen daher zu seinen Lasten (2 Ob 262/06b mwN; RS0058926, RS0058979, RS0058992).

3.2. Der Kläger meint, im Abstand von 39 cm zwischen der äußersten Kante der Trittstufe und der Bahnsteigbegrenzung liege ein Fehler in der Beschaffenheit iSd § 9 Abs 1 EKHG.

Die Begriffe „Fehler in der Beschaffenheit“ und „Versagen der Verrichtungen“ umfassen im Wesentlichen technische Defekte des Fahrzeugs (RS0114049 [T2, T5]). Die besonderen Haftungsregeln des EKHG erfassen bei Eisenbahnen (wozu gemäß § 1 Z 1 lit c EisbG 1957 iVm § 2 Abs 1 EKHG auch Straßenbahnen gehören) nicht bloß die Betriebsmittel, sondern den gesamten technischen Betrieb. Der Betrieb der Eisenbahn umfasst die gesamte technische Organisation (2 Ob 108/12; RS0058147). Unfälle, die nur durch Anlagen ohne Bezug auf den Betrieb der Eisenbahn verursacht werden, scheiden zwar als Betriebsunfall aus. Dies gilt aber nicht, wenn der Unfall auf einem Fehler in der Beschaffenheit der Anlage oder einem Versagen ihrer Verrichtungen beruht (vgl 2 Ob 23/87 SZ 61/1 mwN [Herabhängen eines Fahrleitungsdrahts]; RS0058197). Gehaftet wird etwa auch für einen Unfall nach Ablösen eines Bremsklotzes eines Eisenbahnwaggons (2 Ob 36/89).

Nach diesen in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien kommt es nach Ansicht des erkennenden Senats nicht entscheidend darauf an, dass die Haltestelle sämtlichen Vorschriften der StrabVO entspricht: Ein technischer Defekt der Straßenbahn lag hier nicht vor. Selbst nach der zu Eisenbahnen ergangenen, zitierten Rechtsprechung kann hier von einem Fehler in der Beschaffenheit nicht gesprochen werden. Denn nach den Feststellungen war die Haltestelle für Benützer einer Straßenbahn aus verkehrstechnischer Sicht verkehrssicher. Mit einem herabhängenden Fahrleitungsdraht oder einem abgelösten, im Gras liegenden Bremsklotz eines Eisenbahnwaggons ist die – verkehrssichere – bauliche Gestaltung der Haltestelle im vorliegenden Fall nicht vergleichbar.

3.3. Weiter ist zu prüfen, ob ein für die Beklagte haftungsbefreiendes unabwendbares Ereignis gemäß § 9 EKHG vorliegt.

Für die Sorgfaltspflicht des Betriebsunternehmers, die die Haftung nach § 9 EKHG ausschließt, gilt zwar ein strenger Maßstab (RS0058278; RS0058206). Dennoch betont die ständige Rechtsprechung, dass diese

Sorgfaltspflicht nicht überspannt werden darf, soll eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Erfolgshaftung vermieden werden (RS0058278 [T5]; RS0058425 [T3]; RS0058411 [T3]).

Für die Einhaltung der gebotenen Sorgfalt durch die Beklagte sprechen folgende Umstände: Es ist keineswegs ausgemacht, dass ein „erheblich geringerer Abstand als 39 cm“ (aber doch mehr als 25 cm, die technisch in der Kurve nicht eingehalten werden können) das Sturzrisiko reduzieren würde, zumal die durchschnittliche Schrittlänge von verschiedenen Menschen durchaus variieren kann. Dazu kommt, dass – gerichtsbekannt – im Streckennetz der Beklagten gleichzeitig verschiedene Straßenbahntypen eingesetzt werden, sodass auch dadurch der Abstand zwischen Ausstiegskante der Straßenbahn und Bahnsteiggrenze verschieden groß sein kann. Mit den zu Abständen bei der Wiener U-Bahn ergangenen Entscheidungen (2 Ob 265/06v: U4, 24 cm Spaltbreite zwischen Bahnsteigkante und Einstieg; vgl auch 2 Ob 262/06b) ist – wie schon das Berufungsgericht insoweit zutreffend erkannt hat – der vorliegende Fall nicht vergleichbar, weil hier nicht der – viel gefährlichere – Sturz in den Gleistrog der U-Bahn droht, zumal es nur um 14 cm als Differenz zu den nicht möglichen 25 cm Maximalabstand geht.

Was den Höhenunterschied von den festgestellten 4,5 cm zu den vom Berufungsgericht als möglich erachteten 3 cm betrifft, verweist die Beklagte zutreffend darauf, dass bei noch geringerer Höhe die Gefahr besteht, dass der Niveauunterschied nicht mehr wahrgenommen wird, was einerseits die Stolpergefahr erhöht und andererseits die Funktion der Abgrenzung zwischen Fahrraum der Straßenbahn und Aufstell- und Bewegungsraum für Personen mindert.

Im Sinne dieser Erwägungen ist daher entgegen der Beurteilung des Berufungsgerichts für die Beklagte von einem unabwendbaren Ereignis iSd § 9 EKHG auszugehen, weshalb die Beklagte dem Kläger auch nach dem EKHG nicht haftet.

4. Es ist demnach im Umfang des den Gegenstand des Revisionsverfahrens bildenden halben Zahlungsbegehrens das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.

5. Im fortgesetzten Verfahren ist das Erstgericht – abweichend von § 499 Abs 2 ZPO – betreffend die Entscheidung über das Feststellungsmehrbegehren an die Rechtsansicht des Höchstgerichts gebunden (RS0042279 [T3]).

6. Die Kostenentscheidung gründet sich für das Verfahren in dritter Instanz auf § 43 Abs 1 und § 50 ZPO. Der Kostenvorbehalt betreffend das übrige Verfahren gründet sich auf § 52 ZPO.

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