European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0040OB00233.18W.0129.000
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 2.255,94 EUR (darin 375,99 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
In der nach dem Abfallwirtschaftsgesetz behördlich genehmigten Abfallentsorgungsanlage der Beklagten geriet dort gelagerter Gewerbemüll durch Selbstentzündung in Brand. Wegen der Rauchentwicklung musste der auf einer unmittelbaren Nachbarliegenschaft im Schichtbetrieb organisierte Fertigungsbetrieb der Klägerin mehrere Stunden lang eingestellt werden. Die Klägerin begehrt – gestützt auf § 364a ABGB per analogiam – den Ersatz von frustrierten Lohnkosten, des Mehraufwands für die Wiederinbetriebnahme der Produktion und entgangenen Gewinn.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Zwischenurteil des Berufungsgerichts, mit dem es dieses Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkannte.
Das Berufungsgericht begründete die Zulassung der ordentlichen Revision damit, dass die Judikatur zu § 364a ABGB schwanke und eine Klarstellung wünschenswert wäre, ob an älteren Entscheidungen festzuhalten sei.
Rechtliche Beurteilung
Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts ist die ordentliche Revision nicht nach § 502 Abs 1 ZPO zulässig. Allein das Fehlen von Rechtsprechung zu einer konkreten Fallkonstellation wirft noch keine erhebliche Rechtsfrage auf (RIS‑Justiz RS0102181 [T1, T12, T16]). Die Zurückweisung der ordentlichen Revision kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 letzter Satz ZPO):
1. Nach § 364 Abs 2 ABGB kann der Eigentümer eines Grundstücks dem Nachbarn die von dessen Grund ausgehenden Einwirkungen durch Abwässer, Rauch, Gase, Wärme, Geruch, Geräusch, Erschütterung und ähnliche insoweit untersagen, als sie das nach den örtlichen Verhältnissen gewöhnliche Maß überschreiten und die ortsübliche Benutzung des Grundstücks wesentlich beeinträchtigen. Nach § 364a ABGB ist jedoch, wenn die Beeinträchtigung durch eine behördlich genehmigte Anlage verursacht wird, der Grundbesitzer nur berechtigt, den Ersatz des zugefügten Schadens gerichtlich zu verlangen, auch wenn der Schaden durch Umstände verursacht wird, auf die bei der behördlichen Verhandlung keine Rücksicht genommen wurde.
2.1. Voraussetzung eines Anspruchs nach § 364a ABGB ist der Betrieb einer behördlich genehmigten Anlage (vgl RIS‑Justiz RS0010682). Der Nachbar hat also keine Möglichkeit, sich gegen eine von einer benachbarten behördlich genehmigten Anlage ausgehende Einwirkung der im § 364 Abs 2 ABGB bezeichneten Art mit Unterlassungsklage zur Wehr zu setzen (RIS‑Justiz RS0030294). Als Ersatz für diese Eigentumsbeschränkung (vgl RIS‑Justiz RS0010659; RS0010550) gewährt § 364a ABGB einen verschuldensunabhängigen nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch (RIS‑Justiz RS0010449).
2.2. Von den Nachbarn sind solche Immissionen hinzunehmen, die für den Betrieb der genehmigten Anlage typisch sind und auch nicht durch zumutbare Vorkehrungen hintangehalten oder verringert werden können (1 Ob 47/15s = RIS‑Justiz RS0010645 [T8]; vgl RS0010670). Soweit eine genehmigte Anlage vorliegt und sich deren Emissionen im Rahmen der Genehmigung halten, besteht lediglich ein Ausgleichsanspruch nach § 364a ABGB, jedoch kein Unterlassungsanspruch nach § 364 Abs 2 ABGB (RIS‑Justiz RS0010645 [T4]). Nicht aus der Emissionsneigung des Betriebs kommende Immissionen oder im Betrieb entstandene Gefahren anderer Art brauchen nicht geduldet zu werden; für sie gebührt daher auch kein (verschuldensunabhängiger) Ausgleich (8 Ob 95/04k = RIS Justiz RS0119688).
2.3. Die Frage, ob eine bestimmte Immission für den Betrieb einer bestimmen Anlage typisch ist, kann nur einzelfallbezogen beantwortet werden (RIS‑Justiz RS0112033). Maßgebend für die Typizität einer Emission ist nicht primär deren Regelmäßigkeit; die Ersatzpflicht gilt auch für Schäden, die dem Nachbarn durch einmalige Vorfälle entstehen (RIS‑Justiz RS0010674), wenn es sich um für den Betrieb der Anlage typische Emissionen handelt (vgl RIS‑Justiz
RS0010670) oder die Immission aus für den konkreten Betrieb typischen Verrichtungen herrührt (8 Ob 147/64 = SZ 37/75 = RIS‑Justiz RS0011933; krit Holzner in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.04 § 364a [2018] Rz 3; Winner in Rummel/Lukas, ABGB4 § 364a [2016] Rz 14).
3.1. Die ständige Rechtsprechung billigt den verschuldensunabhängigen Ausgleichsanspruch nach § 364a ABGB auch dann zu, wenn sich aus der Interessenlage ausreichende Anhaltspunkte für eine Analogie zu dieser Bestimmung ergeben (9 Ob 1/18i mwN). Dem Geschädigten muss ein Abwehrrecht genommen sein, das ihm nach dem Inhalt seines Eigentums „an sich“ zugestanden wäre (vgl RIS‑Justiz RS0010550). Auch die analoge Anwendung des § 364a ABGB setzt voraus, dass die Immission von der schadenverursachenden Anlage ausgeht und für deren Betrieb typisch ist (RIS‑Justiz
RS0010670); die Beweislast für die Typizität trifft den Geschädigten (vgl 2 Ob 193/01y).
Es ist maßgebend, ob der Eintritt des Schadens für den Haftpflichtigen ein objektiv kalkulierbares oder gar kalkuliertes Risiko bildete, das er zu seinem Nutzen eingegangen ist (vgl RIS‑Justiz RS0010670 [T7]; RS0010448 [T3]; RS0111420). Erfasst sind daher alle adäquaten Schäden, die aus dem besonderen Gefährdungspotenzial der Anlage resultieren (1 Ob 196/06i = RIS‑Justiz
RS0010670 [T4]; 4 Ob 200/17s; vgl Kerschner/Wagner in Klang3 § 364a ABGB [2011] Rz 316 mwN aus der Rsp). Eine adäquate Verursachung ist (nur) dann nicht anzunehmen, wenn ein Verhalten seiner Natur nach völlig ungeeignet erscheint, einen Erfolg nach der Art des eingetretenen herbeizuführen und nicht bloß eine außergewöhnliche Verkettung der Umstände vorliegt (5 Ob 190/11v; RIS‑Justiz RS0098939; Kerschner/Wagner aaO Rz 317 mwN aus der Rsp).
Ob im Einzelfall ein Schaden noch als adäquate Folge eines schädigenden Ereignisses anzusehen ist, betrifft im Allgemeinen keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO, weil dabei die Umstände des Einzelfalls maßgebend sind und der Lösung dieser Frage keine über den Anlassfall hinausgehende und daher keine erhebliche Bedeutung zukommt (RIS‑Justiz
3.2. Eine dem § 364a ABGB analoge Situation wird von der Rechtsprechung etwa in Fällen angenommen, in denen durch eine Bewilligung der Anschein der Gefahrlosigkeit und damit der Rechtmäßigkeit der bewilligten Maßnahme hervorgerufen und (infolge des mit einer behördlichen Genehmigung zunächst verbundenen Anscheins der Gesetzmäßigkeit und Gefahrlosigkeit der bewilligten Maßnahmen) die Abwehr faktisch erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht wird, so dass der Nachbar die Maßnahme praktisch hinnehmen muss (vgl RIS‑Justiz RS0010668; RS0106324; Winner in Rummel/Lukas, ABGB4 § 364a [2016] Rz 23 mwN aus der Rsp).
3.3. Auch wenn erfahrungsgemäß eine Unterlassungsklage gegen gefährliche Tätigkeiten auf dem Grund des Nachbarn zu spät kommen muss, befindet sich der von einer Einwirkung Betroffene in einer ähnlichen Situation wie derjenige, dem eine Unterlassungsklage verwehrt ist, so dass auch hier eine analoge Anwendung des § 364a ABGB gerechtfertigt ist (RIS‑Justiz
RS0010573; vgl Winner in Rummel/Lukas, ABGB4 § 364a [2016] Rz 24 mwN aus der Rsp). Es wird daher auch in Fällen fehlender behördlicher Genehmigung eine Regelungslücke angenommen, die durch analoge Heranziehung der im § 364a ABGB (auch) enthaltenen Gefährdungshaftung geschlossen werden kann, wenn ein Immissionsschaden auftritt und einerseits der geschädigte Nachbar der Schadensgefahr ausgeliefert war und andererseits für den Haftpflichtigen der Eintritt des Schadens ein kalkuliertes Risiko darstellt, das er zu seinem Nutzen eingegangen ist (RIS‑Justiz RS0111420).
4.1. Im vorliegenden Fall steht fest, dass sich behördlich genehmigt gelagerter Gewerbemüll selbst entzündete. Weiters steht fest, dass infolge von im Gewerbemüll grundsätzlich enthaltenen „Fehlwürfen“ (zB Batterien, Unkrautvernichtungsmittel oder Rattengift) in Verbindung mit Feuchtigkeit die Gefahr einer solchen Selbstentzündung besteht, und dass sich diese Gefahr in der Vergangenheit bereits früher einmal (wenn auch mit weniger weitreichenden Folgen als nunmehr) verwirklicht hatte.
4.2. Das Berufungsgericht vertrat die Auffassung, dass im vorliegenden Fall durch die behördliche Genehmigung des Betriebs einschließlich der Lagerung von Gewerbemüll die faktische Vermutung deren Gefahrlosigkeit bestanden habe, und dass eine Unterlassungsklage praktisch aussichtslos gewesen und zu spät gekommen wäre. Dass die aus dieser Selbstentzündung des – den Gegenstand der Bewilligung und des Geschäftsbetriebs der Beklagten bildenden – gefahrenträchtigen Gewerbemülllagers adäquat resultierenden Folgen jedenfalls ein Fall der analogen Anwendung des § 364a ABGB und diese Immissionen auch im Einzelfall betriebstypisch sind (auch wenn der konkrete Auslöser des Brandes nicht feststellbar war), hält sich im Rahmen der aufgezeigten Rechtsprechung und des den Gerichten in diesem Zusammenhang eingeräumten Ermessensspielraums.
4.3. Der Sachverhalt zu 8 Ob 95/04k ist mit dem vorliegenden nicht zu vergleichen, weil dort die Rauchentwicklung zufolge eines Brandes zu beurteilen war, der von in einem Textilgeschäftslokal verlegten Elektroleitungen und dazugehörigen Leuchtkörpern verursacht wurde, womit es an der Anlageneigenschaft nach § 364a ABGB, aber auch an der Typizität gemangelt hat.
5. Die Beklagte hat selbst vorgebracht, dass der gewöhnliche Betrieb ihrer genehmigten Anlage unter anderem das Entgegennehmen von unbehandeltem gewerblichem Abfall, dessen Zwischenlagerung sowie die Verladung zum Abtransport umfasst, und sie hat hierzu den Genehmigungsbescheid vorgelegt. Die Berücksichtigung des Inhalts dieser Urkunden, deren Echtheit überdies zugestanden wurde, im Rahmen der rechtlichen Beurteilung erforderte nicht die amtswegige Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung (RIS‑Justiz
Der Lagerung von Abfällen innewohnende typische Gefahren waren sehr wohl Gegenstand des erstinstanzlichen Klagsvorbringens.
Die in der Revision teils als Mangelhaftigkeit, teils auch als Aktenwidrigkeit geltend gemachten Revisionsgründe liegen insgesamt nicht vor.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO. Die Klägerin hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen; der in zweiter Instanz ausgesprochene Kostenvorbehalt steht der Kostenentscheidung im Zwischenstreit über die Zulässigkeit der Revision nicht entgegen (RIS‑Justiz RS0129365 [T1–T3];
RS0123222[T8–T10]).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)