OGH 2Ob123/16a

OGH2Ob123/16a27.7.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Veith, Dr. Musger und Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Weixelbraun‑Mohr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei V***** GmbH, *****, vertreten durch Starlinger Mayer Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei K***** GmbH, *****, vertreten durch SchneideR'S Rechtsanwalts-KG in Wien, wegen 590.477,43 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 1. April 2016, GZ 2 R 34/16m‑34, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Endurteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 7. Jänner 2016, GZ 20 Cg 97/11h‑30, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0020OB00123.16A.0727.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 3.387,24 EUR (darin 564,54 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Die klagende Partei ist ein Elektrizitätsunternehmen und betreibt mehrere Wasserkraftwerke in Österreich. Sie ist als „Erzeugerin“ ua mit der beklagten Partei, einer „Verteilernetzbetreiberin“ im Sinne des Elektrizitätswirtschafts- und Organisationsgesetzes (ElWOG), vertraglich verbunden. Die in Kärnten gelegenen Wasserkraftwerke speisen den erzeugten Strom in das Netz der beklagten Partei auf den „Netzebenen 3 und 5“ ein.

„Erzeuger“ und „Entnehmer“ von elektrischer Energie verpflichten sich in den Netzanschlussverträgen, dem Netzbetreiber Entgelte zu bezahlen. Rechtliche Grundlage waren hierfür § 25 ElWOG 1998 und die aufgrund dieser gesetzlichen Regelung erlassenen Systemnutzungstarife-Verordnungen (SNT-VO). Im vorliegenden Fall ist die SNT‑VO 2010 (Novelle 2011) maßgebend. Darin waren für das von den Entnehmern und Erzeugern zu entrichtende „Netzverlustentgelt“ zwingende Tarife festgelegt. Das Netzverlustentgelt soll jene Kosten abgelten, die dem Netzbetreiber aus dem Zukauf jenes Stroms erwachsen, den er zum Ausgleich von technisch unvermeidbaren Verlusten des vom Einspeiser übertragenen Stroms benötigt.

Die beklagte Partei stellte der klagenden Partei für die Einspeisung in ihr Netz monatliche Netzverlustentgelte in Rechnung. Die klagende Partei bezahlte für das Jahr 2011 die ihr monatlich vorgeschriebenen Beträge unter dem Vorbehalt der Rückforderung.

Vor Einbringung der zugrunde liegenden Klage leitete die klagende Partei am 15. 4. 2011 das außergerichtliche Streitbeilegungsverfahren ein. Ihr Antrag wurde mit Bescheid vom 8. 6. 2011 abgewiesen.

Das ElWOG 1998 trat mit 3. 3. 2011 außer Kraft und wurde durch das ElWOG 2010 ersetzt.

Mit Erkenntnis vom 21. 6. 2011, G 3/11 ua, stellte der Verfassungsgerichtshof fest, dass § 25 Abs 1 Z 1 und 3, § 25 Abs 4 und § 25 Abs 12 ElWOG 1998 wegen Verletzung des Determinierungsgebots (Art 18 B-VG) verfassungswidrig gewesen seien. Mit weiterem Erkenntnis vom 27. 9. 2011, V 59/09 ua, hob der Verfassungsgerichtshof die SNT-VO 2006 (Novellen 2008 und 2009) und die SNT‑VO 2010 (samt Novelle 2011) als gesetzwidrig auf. Im Wesentlichen wurde dies damit begründet, dass die gesetzliche Grundlage dieser Verordnungen durch das Erkenntnis vom 21. 6. 2011 weggefallen sei. Die Aufhebung trat mit Ablauf des 31. 3. 2012 in Kraft. Die Anlassfallwirkung wurde gemäß § 139 Abs 6 zweiter Satz B‑VG auch auf die im Erkenntnis im Einzelnen bezeichneten Gerichtsverfahren erstreckt. Das gegenständliche Verfahren ist weder Anlassfall, noch wird es von der Ausdehnung der Anlassfallwirkung erfasst.

Mit der am 12. 7. 2011 eingebrachten Klage begehrte die klagende Partei , gestützt auf den Rechtsgrund der Bereicherung (§ 1435 ABGB) sowie „jeden erdenklichen anderen Rechtsgrund“ die Rückzahlung der Netzverlustentgelte für Jänner und Februar 2011 in der Gesamthöhe von 82.990,10 EUR sA. Des Weiteren begehrte sie die Feststellung, dass die klagende Partei nicht verpflichtet sei, an die beklagte Partei für die Einspeisung von Strom aus Wasserkraftwerken, die an das Netz der beklagten Partei angeschlossen seien, ein Netzverlustentgelt zu entrichten.

Die beklagte Partei wandte ein, dass die durch den Verfassungsgerichtshof aufgehobenen Bestimmungen im gegenständlichen Verfahren (weil kein „Anlassfall“) weiterhin Anwendung fänden. Selbst bei Wegfall der entsprechenden Tarifbestimmungen stünde ihr als Gegenforderung ein Anspruch auf angemessenes Entgelt für ihre Leistungen (in Höhe des Tarifs) auf bereicherungsrechtlicher Basis zu.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung im Umfang der Abweisung des Leistungsbegehrens mit Teilurteil. Hinsichtlich des Feststellungsbegehrens hob es das erstinstanzliche Urteil auf.

Der Oberste Gerichtshof wies mit Beschluss vom 14. 3. 2013, 2 Ob 107/12t, die gegen das Teilurteil gerichtete außerordentliche Revision der klagenden Partei zurück.

Im zweiten Rechtsgang änderte die klagende Partei das Feststellungsbegehren zunächst dahin, dass es sich nur auf den Zeitraum vor Inkrafttreten der Systemnutzungsentgelte-Verordnung (SNE-VO) 2012 beziehe. Schließlich stellte sie mit Schriftsatz vom 22. 5. 2014 das Feststellungsbegehren in ein Leistungsbegehren um, mit dem sie die Rückzahlung der im Zeitraum März bis Dezember 2011 geleisteten Netzverlustentgelte in Höhe von insgesamt 590.477,43 EUR samt gestaffelten Zinsen geltend macht.

Sie brachte vor, das unionsrechtliche Gebot wirksamen Rechtsschutzes zwinge dazu, den vorliegenden Rechtsstreit an den Wirkungen der Aufhebung der SNT‑VO 2010 (Novelle 2011) durch den Verfassungsgerichtshof „teilhaben“ zu lassen. Seit der Entscheidung 8 Ob 7/13g sei klargestellt, dass die Geltendmachung effektiven Rechtsschutzes nach Art 47 der Grundrechte-Charta (GRC) auch der Geltendmachung eines zu diesem Unionsrecht akzessorischen materiellen Rechts bedürfe. Dieses materielle Recht werde nun mit dem in Art 17 GRC verankerten Eigentumsrecht „bekanntgegeben“, das auf den von der EMRK gewährten Garantien basiere. Ihm komme gemäß Art 52 Abs 3 Satz 1 GRC daher gleiche Bedeutung und Tragweite zu, wie sie von der EMRK verliehen werde. Der Schutz des Eigentums sei in Art 1 des 1. ZP zur EMRK verankert; dort zählten auch Ansprüche auf vermögensrechtliche Leistungen, Forderungen und Zahlungsansprüche zum Eigentum.

Die Verpflichtung der klagenden Partei zur Zahlung von Netzverlustentgelt betreffe ihre Vermögensposition und damit ihr Eigentum. Dabei müsse die Rückforderung von zu Unrecht vorgeschriebenen und eingehobenen Beträgen rechtlich gleich zu behandeln sein, wie die Pflicht zur Bezahlung dieser Beträge. Die Möglichkeit, auf einer rechtswidrigen (hoheitlichen) Grundlage bezahltes Netzverlustentgelt wieder zurück zu erlangen, sei daher von Art 1 des 1. ZP zur EMRK, damit aber auch von Art 17 GRC umfasst. Die klagende Partei müsse daher dieses Recht gemäß Art 47 GRC gerichtlich effektiv durchsetzen können. Auch Art 37 Abs 17 der Richtlinie 2009/72/EG gewähre ein subjektives Recht. Würde das Gericht die rechtswidrige Meinung vertreten, die SNT‑VO 2010 (Novelle 2011) sei der klagenden Partei gegenüber als Rechtsgrund für die Zahlung von Netzverlustentgelten mangels Anlassfallwirkung nicht weggefallen, sodass § 1435 ABGB nicht anwendbar sei, so würde es das in Art 47 GRC positivierte Gebot gerichtlichen effektiven Rechtsschutzes verletzen.

Im Übrigen stütze die klagende Partei das Rückforderungsbegehren auch auf § 879 ABGB. Außerdem habe sie diese Zahlungen nur vorbehaltlich der Rechtskonformität der ihr zugrundeliegenden staatlichen Norm geleistet, weshalb sie auch nach § 1431 ABGB zur Rückforderung berechtigt sei.

Die beklagte Partei wandte ein, dass die Vorschreibung von Netzverlustentgelten das Eigentumsrecht der klagenden Partei nicht verletze und auch mit Unionsrecht im Einklang stehe. Die klagende Partei habe entgegen 8 Ob 7/13g in keiner Weise ausgeführt, inwiefern die SNT‑VO 2010 (Novelle 2011) Rechte, die sich aus der hier maßgeblichen Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie ergäben, verletzt habe, noch habe sie behauptet, dass diese Richtlinie ungültig sei. Die vom Obersten Gerichtshof genannten Voraussetzungen seien daher nicht erfüllt. Auch die Berufung auf Art 37 Abs 17 der Richtlinie gehe ins Leere. Dass die darin eröffnete Beschwerde auch zu dem gewünschten Ergebnis führe, werde durch diese Bestimmung nicht garantiert. Ein Anwendungsfall des § 879 ABGB liege nicht vor. Der mit Schreiben der klagenden Partei vom 15. 2. 2011 erklärte Vorbehalt der Rückforderung verhindere nur die erfolgreiche Einrede des Schuldanerkenntnisses durch Zahlung, eine darüber hinausgehende Rechtswirkung komme ihm nicht zu. Der Rechtsgrund für die Zahlungen sei nicht weggefallen. Hinsichtlich der am 21. 4. und 19. 5. 2011 bezahlten Entgelte in Höhe von insgesamt 77.671,51 EUR sei der Rückforderungsanspruch jedenfalls verjährt.

Das Erstgericht ließ die mit Schriftsatz vom (richtig) 22. 5. 2014 beantragte Klagsänderung (unbekämpft und daher rechtskräftig) zu und wies mit Endurteil das geänderte Klagebegehren ab.

Rechtlich erörterte es, dass die SNT-VO 2010 (Novelle 2011) mangels Erweiterung der Anlassfallwirkung durch den Verfassungsgerichtshof auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar bleibe. Das zu Unrecht auf den Wegfall des Zahlungsgrundes gestützte Rückforderungsbegehren müsse daher erfolglos bleiben. Soweit die klagende Partei in ihrer „materiellen Rüge“ geltend mache, in ihrem Recht auf Eigentum verletzt worden zu sein, sei ihr zu entgegnen, dass daraus eine Pflicht der nationalen Gerichte, die Anlassfallwirkung über den Anlassfall hinaus zu erweitern, nicht abgeleitet werden könne. Die Vorschreibung der Netzverlustentgelte sei nicht rechtswidrig gewesen, weshalb für die klagende Partei auch aus § 879 ABGB nichts zu gewinnen sei. Dies gelte auch für den Vorbehalt der Rückforderung.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Es führte aus, nach österreichischem Recht seien aufgrund der bloßen Pro‑futuro‑Wirkungen der Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs vom 21. 6. 2011, G 3–5/11, und vom 27. 9. 2011, V 59/09, trotz zwischenzeitlich erwiesener Verfassungs- bzw Gesetzwidrigkeit die den Rechtsgrund der Netzverlustentgeltzahlungen darstellenden Normen für die klagende Partei unangreifbar geworden. Ob das österreichische Recht damit der klagenden Partei effektiven Rechtsschutz gegen einen Eingriff in ihr Eigentum verwehre, könne aufgrund einer schlüssigen materiellen Rüge der klagenden Partei am Maßstab der Art 17 und 47 GRC geprüft werden, weil das ElWOG 1998 und die SNT-VO 2010 (Novelle 2011) in Umsetzung unionsrechtlicher Normen für den Elektrizitätsbinnenmarkt erlassen worden seien.

Die klagende Partei habe der beklagten Partei auf der Grundlage der österreichischen Rechtsordnung in Erfüllung einer gültigen Verbindlichkeit durch Zahlung der Netzverlustentgelte für März 2011 bis Dezember 2011 rechtmäßig Eigentum am bezahlten Geld verschafft. Da Art 17 GRC nicht das Vermögen als solches schütze, könne sich die klagende Partei auf eine Verletzung dieses Grundrechts nur wegen eines Eingriffs in eine privatrechtlich gesicherte Vermögensposition berufen. Dabei komme es darauf an, ob die Forderung – im vorliegenden Fall die Forderung nach Erweiterung verfassungsgerichtlich anzuordnender Anlassfallwirkungen zur Beseitigung des Rechtsgrundes für geleistete Zahlungen – auf einer ausreichenden Grundlage im innerstaatlichen Recht beruhe. Nach diesem habe die beklagte Partei darauf vertrauen dürfen, dass sie im Fall der verfassungsgerichtlichen Aufhebung jener Normen, auf deren Grundlage sie das umstrittene Netzverlustentgelt erhalten habe, nur jene Netzverlustentgelte zurückzahlen müsse, auf die der Verfassungsgerichtshof die Anlassfallwirkung des normaufhebenden Erkenntnisses erstrecke. Die legitimen Erwartungen der beklagten Partei, die klagende Partei tilge mit ihren Zahlungen wirksam begründete Verbindlichkeiten, führten dazu, dass sich nicht die klagende Partei, sondern die beklagte Partei auf ihr Eigentum iSd Art 17 GRC bzw Art 1 des 1. ZP zur EMRK stützen könne. Die aufgehobenen Normen seien bis zum 31. 3. 2012 auch „gesetzes- und verfassungskonform“ gewesen, weshalb der diesbezügliche Vorbehalt der klagenden Partei nicht zur Rückforderung berechtige. Andernfalls käme dies einer im österreichischen Verfassungsrecht nicht vorgesehenen „Ermächtigung der Klägerin zur privatautonomen Erweiterung der Anlassfallwirkung von Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofs“ gleich.

Die ordentliche Revision sei zur Rechtsfrage zulässig, ob die unterlassene verfassungsgerichtliche Erweiterung der Anlassfallwirkung eines normaufhebenden Erkenntnisses einen Eingriff in das Eigentumsrecht nach Art 17 GRC darstelle, wenn aus diesem Grund ein auf der Grundlage einer gesetzwidrigen Verordnung geleistetes Entgelt nicht zurückgefordert werden könne.

Gegen das Berufungsurteil richtet sich die Revision der klagenden Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung , dem Rechtsmittel nicht Folge zu geben; da es „zu allen Fragen bereits eine Rechtsprechung des OGH gibt, wäre eine Zulassung der ordentlichen Revision [überdies] nicht geboten gewesen“.

Die Revision ist zulässig, weil es zum Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz nach Art 47 GRC einer weiteren Klarstellung durch den Obersten Gerichtshof bedarf. Das Rechtsmittel ist aber nicht berechtigt.

Die klagende Partei hält zunächst an den auf § 879 ABGB und die „Zahlung unter Vorbehalt“ gegründeten Anspruchsgrundlagen fest und macht überdies geltend, Rechtsunterworfene könnten schon infolge des Vorrangs des Unionsrechts nicht auf die Geltung nationalen Rechts vertrauen. Hätte die klagende Partei die Zahlungen nicht geleistet, stünde ihr gegen den Zahlungsanspruch der beklagten Partei das vom verfassungs- und unionsrechtlichen Eigentumsschutz umfasste Abwehrrecht zu. Aus demselben Grund dürfe demjenigen, der zunächst Zahlungen leiste, die Rückforderung nicht verwehrt werden. Es sei vielmehr gerade das verfassungs- und unionsrechtlich gewährleistete Eigentumsrecht, das im vorliegenden Fall die Erstreckung der Anlassfallwirkung gebiete. Nur dadurch könne die Vermögensposition der klagenden Partei geschützt werden.

Die beklagte Partei hält dem ua entgegen, dass mit der abstrakten Berufung auf die Verletzung von Art 17 GRC noch keine materielle Rüge iSv 8 Ob 7/13g ausgeführt worden sei. Die Verletzung eines konkreten aus dem Unionsrecht abzuleitenden materiellen Rechts habe die klagende Partei nicht geltend gemacht. Dies wäre auch gar nicht möglich gewesen, weil eine derartige Verletzung nicht vorliege. Die Ausdehnung der Anlassfallwirkung über den vom Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis hinausgehenden Umfang sei daher unionsrechtlich weder geboten noch zulässig.

Rechtliche Beurteilung

Hiezu wurde erwogen:

1. Ist eine Verordnung vom Verfassungsgerichtshof wegen Gesetzwidrigkeit aufgehoben worden, so sind gemäß Art 139 Abs 6 B-VG alle Gerichte und Verwaltungsbehörden an den Spruch des Verfassungsgerichthofs gebunden. Auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalls ist jedoch die Verordnung weiterhin anzuwenden, sofern der Verfassungsgerichtshof nicht in seinem aufhebenden Erkenntnis anderes ausspricht. Hat der Verfassungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis eine Frist gemäß Art 139 Abs 5 B-VG gesetzt, so ist die Verordnung auf alle bis zum Ablauf dieser Frist verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalls anzuwenden.

Für den vorliegenden Fall folgt aus dieser Rechtslage, dass die vom Verfassungsgerichtshof aufgehobene SNT-VO 2010 (Novelle 2011) weiterhin anzuwenden ist, weil sich der zu beurteilende Sachverhalt bereits vor dem Außerkrafttreten der aufgehobenen Verordnung mit 31. 3. 2012 konkretisiert hat und es sich beim vorliegenden Rechtsstreit auch nicht um einen Anlassfall im Sinne der zitierten Gesetzesbestimmung handelt (10 Ob 31/12z mwN; 2 Ob 107/12t; RIS-Justiz RS0054186).

2. Der Oberste Gerichtshof hat sich in der bereits mehrfach zitierten Entscheidung 8 Ob 7/13g SZ 2013/26 in einem gleich gelagerten Fall unter Berücksichtigung des einschlägigen Schrifttums eingehend mit den unionsrechtlichen Argumenten der (auch hier) klagenden Partei auseinandergesetzt. Er ist dabei zusammengefasst zu folgenden Ergebnissen gelangt, wobei zur besseren Orientierung – jeweils am Ende in Klammer – auf die Nummerierungen in dieser Leitentscheidung verwiesen wird:

2.1 § 25 ElWOG 1998 beruht samt der auf dieser Basis ergangenen SNT-VO 2010 (Novelle 2011) auf einer unionsrechtlichen Grundlage (Art 20 Abs 1 und Art 23 Abs 2 der Richtlinie 2003/54/EG ; vgl auch Art 32 Abs 1 und Art 37 Abs 6 der Richtlinie 2009/72/EG ), weshalb der Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta eröffnet ist (2.4).

Es stellt sich die von der klagenden Partei aufgeworfene Frage, ob sich aus dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art 47 GRC) eine Erstreckung der Anlassfallwirkung nach Art 139 Abs 6 B-VG auf Rechtsstreitigkeiten ableiten lässt, in denen vor Erlass der „normaufhebenden Entscheidung“ eine Klage eingebracht oder zumindest ein entsprechender außergerichtlicher Rechtsbehelf erhoben worden ist (3.1).

2.2 Aus der Entscheidung des EuGH zu C-228/92 , Roquette Frères , ist dies nicht ableitbar. Diese Entscheidung betrifft die Ungültigerklärung eines Unionsrechtsakts durch den EuGH. Eine solche Entscheidung liegt hier nicht vor (3.2 und 3.3).

2.3 Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz garantiert, dass einem Betroffenen ein effektiver Rechtsbehelf zur Verfügung steht. Ein solcher Rechtsbehelf muss im Lichte der Rechtsprechung des EuGH für alle auf EU-Ebene gewährten Rechte und Freiheiten zur Verfügung stehen. Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Art 47 Abs 1 GRC ist jedoch, dass ein unionsrechtlicher Bezug besteht. In den Schutzbereich fällt daher nur die Verletzung von (subjektiven) Rechten bzw Ansprüchen oder von Freiheiten, die durch Unionsrecht garantiert werden. Diese Rechte müssen sich entweder aus einem unionsrechtlichen Rechtsakt (jede Handlung oder Maßnahme bzw jeder Akt, der eine Rechtswirkung erzeugt) oder aber aus einem mitgliedstaatlichen Rechtsakt ergeben, der Unionsrecht umsetzt. Art 47 Abs 1 GRC gilt somit auch für Rechte, die sich aus Vorschriften der Mitgliedstaaten ergeben, sofern diese Vorschriften in Umsetzung von Unionsrecht ergangen sind (4.1).

2.4 Art 47 GRC ist damit akzessorisch zur Geltendmachung der Verletzung eines materiellen Rechts, das sich aus dem Unionsrecht ableiten lässt. Die Rechtsverletzung muss daher in Form einer materiellen Rüge behauptet werden. Dies bedeutet, dass vom Betroffenen eine schlüssige Behauptung aufgestellt werden muss, dass die durch Unionsrecht garantierten Rechte bzw Freiheiten verletzt wurden (4.1).

2.5 Eine schlüssige Behauptung, dass und wodurch sie in einem von den Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinien eingeräumten (subjektiven) Recht verletzt worden sei, hat die klagende Partei nicht aufgestellt. Konkret hat sie keine Richtlinienwidrigkeit behauptet und sich auch nicht darauf berufen, dass die zugrunde liegende Richtlinie im Sinn des Art 263 (iVm Art 277) AEUV ungültig sei. Insgesamt hat sie damit keine materielle Rüge in Bezug auf ein durch Unionsrecht garantiertes Recht erhoben, was für den Schutzbereich des Art 47 GRC aber notwendig wäre. Ihre Schlussfolgerung, dass das Beschwerderecht effektiv sein müsse, ist unionsrechtliche Konsequenz (nur) für den Fall, dass die Verletzung eines unionsrechtlich garantierten materiellen Rechts schlüssig dargelegt wird. Der effektive Rechtsschutz bezieht sich sodann auf die effektive Durchsetzung der materiellen Rüge (4.2).

2.6 Die klagende Partei kann sich damit nicht unter Hinweis auf unionsrechtliche Grundsätze auf die Erstreckung der Anlassfallwirkung des VfGH-Erkenntnisses vom 27. 9. 2011 berufen. Es bleibt damit bei der Anwendbarkeit der hier maßgebenden SNT‑VO 2010 (Novelle 2011). Entgegen der Ansicht der klagenden Partei ist mit der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs die Zahlungspflicht für sie mangels Anlassfallwirkung nicht weggefallen (5.1).

3. Der erkennende Senat ist der referierten Entscheidung im gegenständlichen Rechtsstreit bereits gefolgt (2 Ob 107/12t; vgl auch 1 Ob 256/12x; 8 Ob 29/13t SZ 2013/34; RIS-Justiz RS0128689). Auch in diesem hatte die klagende Partei keine materielle Rüge erhoben, was zur Zurückweisung der gegen das Teilurteil gerichteten außerordentlichen Revision führte. Im zweiten Rechtsgang, in dem sie die Rückforderung der für den Zeitraum März bis Dezember 2011 geleisteten Netzverlustentgelte geltend macht, hat sich die klagende Partei nun auf das in Art 17 GRC verankerte Eigentumsrecht als materielles Recht gestützt, zu dessen Verletzung Art 47 GRC akzessorisch sei. Damit entspricht sie jedoch – worauf die beklagte Partei zutreffend hinweist – abermals nicht den Anforderungen an eine schlüssige materielle Rüge:

3.1 Zwar trifft es zu, dass mit den „Rechten“ und „Freiheiten“, deren Verletzung Art 47 GRC voraussetzt, auch (und vor allem) Rechte und Freiheiten des Primärrechts, insbesondere der Grundrechte-Charta erfasst sind (Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union³ [2016] Art 47 Rn 6; Eser in Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 [2014] Art 47 Rn 16). Zum Katalog der „Freiheiten“ zählt auch der in Art 17 GRC verankerte Schutz des Eigentums, der somit (auch) als unionsrechtliches Grundrecht ausgestaltet ist.

3.2 Art 17 Abs 1 GRC lautet:

Jede Person hat das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist.

Nach allgemeiner Auffassung ist der Eigentumsbegriff in Art 17 Abs 1 GRC in einem weiten Sinn zu verstehen. Es können auch Rechte einbezogen sein, die in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen (zivilrechtlich und/oder verfassungsrechtlich) nicht ausdrücklich als „Eigentum“ namhaft gemacht bzw ausgestaltet sind. Erfasst werden alle vermögenswerten Rechte, aus denen sich im Hinblick auf die Rechtsordnung eine gesicherte Rechtsposition ergibt, die eine selbständige Ausübung dieser Rechte durch ihren und zugunsten ihres Inhabers ermöglicht. Existenz und Reichweite der Rechtsposition hängen damit von den einschlägigen Vorschriften des nationalen bzw des Unionsrechts ab (vgl EuGH C-283/11 , Sky Österreich GmbH, Rn 34 ff; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union³ [2016] Art 17 Rn 6; Bernsdorff in Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 [2014] Art 17 Rn 15). Auch private Forderungsrechte werden umfasst (Calliess in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV5 [2016] Art 17 Rn 6; Blauensteiner/Hanslik in Holoubek/Lienbacher, GRC‑Kommentar [2014] Art 17 Rz 14).

3.3 Vor diesem Hintergrund lag es an der klagenden Partei, schlüssiges Vorbringen darüber zu erstatten,

worin der unionsrechtswidrige Eingriff in das Eigentumsrecht konkret bestand,

- welche Art von Eingriff (Eigentumsentziehung oder Eigentumsbeschränkung; Art 17 Abs 1 Satz 2 GRC) dadurch verwirklicht wurde, und

- welche konkrete Rechtsfolge an den Eingriff geknüpft sein soll.

Nur ein solcherart konkretes Vorbringen ermöglicht die aufgrund einer „materiellen Rüge“ vorzunehmende Prüfung, ob die behauptete Rechtsverletzung (hier des in Art 17 GRC verankerten Grundrechts) zumindest als möglich anzusehen ist (zu diesem Schlüssigkeitsmaßstab vgl Blanke in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV5 [2016] Art 47 Rn 6; auch Eser in Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 [2014] Art 47 Rn 17: „in vertretbarer Weise behauptet“).

3.4 Die klagende Partei erblickt nun den Eingriff darin, dass die für gesetzwidrig erkannte SNT-VO 2010 (Novelle 2011) auf den gegenständlichen Sachverhalt weiter anwendbar bleibt, weil der Verfassungsgerichtshof die Anlassfallwirkung seines „normaufhebenden Erkenntnisses“ nicht auch auf diesen Sachverhalt erstreckte. Eine konkrete und begründete Behauptung, warum eine konkrete Bestimmung der SNT-VO das Recht auf Eigentum nach Art 17 GRC verletzen sollte, stellt die klagende Partei jedoch nicht auf. Welche Art von Eingriff dadurch bewirkt worden sein soll, behauptet sie ebenfalls nicht. Unklar bleiben überdies die von ihr aus dem behaupteten Eingriff abgeleiteten Rechtsfolgen, vermag sie doch keine einzige konkrete nationale Rechtsnorm zu nennen, die wegen ihres unionsrechtswidrigen Inhalts (Eingriff in das Eigentumsrecht) und dem Vorrang des Unionsrechts im gegenständlichen Fall unangewendet bleiben müsste (vgl 4 Ob 98/09d; RIS-Justiz RS0109951 [T3, T6 und T7]).

3.5 Dies trifft insbesondere auf die SNT-VO 2010 (Novelle 2011) zu, auf welche sich die klagende Partei ausschließlich bezieht:

a) In diesem Zusammenhang ist zunächst klarzustellen, dass die Aufhebung dieser Verordnung als gesetzwidrig und des ihr zugrunde liegenden Gesetzes als verfassungswidrig ausschließlich auf der vom Verfassungsgesetzgeber vorgenommenen Ausgestaltung der Normenkontrolle durch den Verfassungsgerichtshof beruhte. Sie hatte aber keine Auswirkungen auf den Vorrang des Unionsrechts und die darauf beruhende Verpflichtung der Gerichte, entgegenstehendes nationales Recht nicht anzuwenden. Denn nach dem Grundsatz der doppelten Bedingtheit unterliegt der Gesetzgeber bei der Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben einer zweifachen Bindung, nämlich einerseits an das Unionsrecht und andererseits an den durch das nationale Verfassungsrecht gezogenen Rahmen. Die (faktische) Sanierung einer Verfassungswidrigkeit durch Setzung einer Frist (hier) nach Art 139 Abs 5 B-VG betrifft nur den Verstoß gegen das nationale Verfassungsrecht; am Anwendungsvorrang des Unionsrechts kann sie nichts ändern (4 Ob 168/12b mwN).

b) Die klagende Partei hat aber, wie erwähnt, nicht behauptet, dass die SNT-VO 2010 (Novelle 2011) unionsrechtswidrigen, weil das Grundrecht des Art 17 GRC beeinträchtigenden Inhalt (gehabt) hätte und die Zugehörigkeit der Verordnung zum Rechtsbestand im strittigen Zeitraum (RIS-Justiz RS0054001) ihrem Rückforderungsanspruch deshalb nicht entgegenstünde. Aus den Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofs geht dies jedenfalls nicht hervor (zu dessen Befugnissen im Zusammenhang mit der Prüfung von EU-Grundrechten vgl Brenn, VfGH versus Unionsrecht, ÖJZ 2012/121, 2012), weshalb sich die klagende Partei nicht bloß auf diese stützen kann.

3.6 Die klagende Partei meint nun, aus Art 47 GRC als Rechtsfolge ableiten zu können, dass die Anlassfallwirkung des rein nationalen Verfassungserkenntnisses auf den vorliegenden Sachverhalt ausgedehnt wird. Sie verweist auf das „verfassungs- und unionsrechtlich gewährleistete Eigentumsrecht“, dessen Schutz nur auf diesem Weg ermöglicht werden könne.

Aus Art 47 GRC ergibt sich eine derartige Rechtsfolge aber gerade nicht, wie der Oberste Gerichtshof in 8 Ob 7/13g durch seine Ausführungen zur Entscheidung des EuGH zu C-228/92 , Roquette Fréres , bereits klargestellt hat (vgl oben 2.2). Die gewünschte Rechtsfolge ist aus Art § 47 GRC demnach keinesfalls ableitbar.

4. Zusammenfassend ist zu diesem Punkt somit festzuhalten, dass die klagende Partei mit ihrer Behauptung, durch den Fortbestand der SNT-VO (Novelle 2011) bis zum 31. 3. 2012 werde ihr in Art 17 GRC gewährleistetes Eigentumsrecht verletzt, keine schlüssig begründete materielle Rüge, wie sie für den Schutzbereich des Art 47 GRC notwendig wäre, ausgeführt hat. Eine nähere inhaltliche Befassung mit Art 17 GRC ist daher nicht geboten. Die vom Berufungsgericht formulierte Zulassungsfrage stellt sich nicht.

5. Soweit sich die klagende Partei in erster Instanz auf ein ihr in Art 37 Abs 17 RL 2009/72/EG (Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie) eingeräumtes sub‑ jektives Recht stützte, bezog sie sich wieder nur auf eine Regelung, die die Durchsetzbarkeit von materiellen Rechten in einem „geeigneten Verfahren“ gewährleisten soll. In der Revision kommt sie darauf ohnedies nicht mehr zurück.

6. Der Oberste Gerichtshof hat bereits in der in diesem Rechtsstreit ergangenen Entscheidung 2 Ob 107/12t– allerdings ohne nähere Begründung (§ 510 Abs 3 ZPO) – festgehalten, dass kein Anwendungsfall des § 879 ABGB vorliegt. Die klagende Partei wiederholt in ihrem Rechtsmittel ungeachtet dessen (großteils wörtlich) ihr damaliges Revisionsvorbringen. Sie vertritt weiterhin die Auffassung, eine auf gesetzwidriger Verordnung beruhende Vereinbarung sei unerlaubt und müsse daher nichtig sein.

Die Vorschreibung des Netzverlustentgelts im vorliegenden Fall erfolgte unmittelbar aufgrund der SNT‑VO 2010 (Novelle 2011). Folgte man der Rechtsansicht der klagenden Partei, so wäre die in Punkt 1. dargelegte Verpflichtung der Gerichte, eine aufgehobene Verordnung auf vor dem Außerkrafttreten konkretisierte Sachverhalte weiter anzuwenden, obsolet. Der Ausspruch der Verfassungs- oder Gesetzwidrigkeit gilt eben nicht absolut, sondern nur für die davon erfassten (Anlass- oder „Quasianlass“-)Fälle. Die Voraussetzungen des § 879 ABGB (Gesetz- oder Sittenwidrigkeit) liegen demnach hier nicht vor.

7. Aus demselben Grund versagt auch die mit der „Zahlung unter Vorbehalt der Gesetzes- bzw Verfassungskonformität“ begründete Rückforderung nach § 1431 ABGB. Nur bei Zahlung einer Nichtschuld kann das unter Vorbehalt Geleistete zurückgefordert werden (RIS-Justiz RS0033576). Diese Voraussetzung liegt hier nicht vor.

8. Der Revision muss ein Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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