Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.754,72 EUR (darin 459,12 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Der am 1. 4. 1962 geborene Kläger war aufgrund einer Einverständniserklärung seiner Mutter in Pflege und Erziehung durch die beklagte Stadt vom 29. 6. 1972 bis 2. 7. 1976 in einem Kinderheim. Die Obsorge verblieb bei seiner Mutter. Während seines Aufenthalts im Kinderheim wurde er Opfer von Gewalt durch die Erzieher.
Ab 2006 war der Kläger in psychotherapeutischer Behandlung. Im Jänner 2013 kam das therapeutische Gespräch auf das Thema seiner Heimunterbringung zwischen 1972 und 1976 und er erinnerte sich zu diesem Zeitpunkt an die näheren Umstände, die von ihm als Missbrauch und Demütigungen erlebt worden waren.
Dem Kläger wurde mit Schreiben einer Opferhilfeorganisation vom Juni 2013 eine Entschädigung von 25.000 EUR durch die Beklagte und die Kostenübernahme für 80 Therapiestunden zuerkannt. Im Schreiben wurde darauf hingewiesen, dass diese Entschädigungsleistung von der Beklagten in Wahrnehmung ihrer Verantwortung finanziert werde und als Anerkennung für das am Kläger begangene Unrecht gedacht sei, ohne den Anspruch zu erheben, dieses Unrecht aufzuwiegen. Es enthielt auch den Hinweis: „Natürlich steht Ihnen auch weiterhin der Rechtsweg offen.“
Mit seiner am 6. 3. 2014 eingebrachten Klage begehrt der Kläger von der Beklagten 325.000 EUR sA an Schadenersatz und die Feststellung ihrer Haftung für sämtliche künftigen, derzeit nicht bekannten Schäden aus dem Aufenthalt im Kinderheim. Dieses sei ein Vertragsheim der Beklagten gewesen. Er sei beinahe täglich massiven körperlichen, psychischen sowie sexuellen Übergriffen und Misshandlungen durch Erzieher und mit der Aufsicht betraute Mitzöglinge ausgesetzt gewesen. Diese Übergriffe seien systematisch erfolgt. Dadurch sei er schwer traumatisiert worden. Er leide seit damals unter Panikattacken und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die psychische Traumatisierung habe dazu geführt, dass er nach seiner Entlassung aus dem Kinderheim die Erinnerung an die Übergriffe durch eine Dissoziation verloren habe. Dabei seien die Erinnerungen vom normalen Bewusstsein abgespalten worden und es sei ihm nicht möglich gewesen, diese Erinnerungen aus dem Gedächtnis abzurufen. Seine Mutter habe von den Missbrauchsvorfällen keine Kenntnis erlangt. Erst die psychotherapeutische Behandlung habe bewirkt, dass ab Jänner 2013 die abgespaltenen Erinnerungen an den Missbrauch wieder präsent geworden seien. Im Jänner 2013 sei ihm bewusst geworden, dass er ein Missbrauchsopfer sei. Durch den Heimaufenthalt sei er verhaltensgestört und aggressiv geworden, weshalb er zu massivem Alkoholmissbrauch neige und weder eine Lehre abschließen noch eine geregelte Berufslaufbahn einschlagen habe können. Die Beklagte hafte ihm für das seelische Leid und dafür, dass er kein normales Berufsleben führen habe können. Mit dem Schreiben der Opferhilfeorganisation habe die Beklagte im Juni 2013 ihre Haftung anerkannt. Sie habe darin auf den Verjährungseinwand verzichtet. Ihr Verjährungseinwand verstoße gegen Treu und Glauben. Die Äußerung im Schreiben, ihm stehe der Rechtsweg weiterhin offen, könne nur so verstanden werden, dass die von ihm behaupteten Ansprüche nur mit sachlichen Einwendungen ohne Verjährungseinwand bekämpft werden würden.
Die Beklagte bestritt die behaupteten Übergriffe und den Kausalzusammenhang zwischen der Erkrankung des Klägers und seinem Aufenthalt im Heim. Die Heimunterbringung sei über ausdrücklichen Wunsch und mit Zustimmung seiner Mutter erfolgt und keine Zwangsmaßnahme gewesen, weshalb kein hoheitliches Handeln vorliege. Sie sei weder Rechtsträgerin noch Betreiberin des Heims gewesen, vielmehr sei dies ein näher genannter Verein. Sie hafte nicht für ein Verschulden dieses Vereins und von dessen Dienstnehmern. Ihr sei nicht bekannt gewesen, dass eine Unterbringung in diesem Heim eine Gefährdung des Klägers mit sich bringen könnte. Die Klagsforderungen seien bereits vor Klagseinbringung verjährt gewesen. Der Kläger habe an keiner Dissoziation gelitten und selbst im Fall ihres Vorliegens hätte diese keinen Einfluss auf die Verjährung haben können. Eine Dissoziation sei keine Geisteskrankheit. Sie habe weder ein Anerkenntnis der Klagsansprüche noch einen Verjährungsverzicht erklärt.
Das Erstgericht wies die Klagebegehren ab. Der Kläger sei im Zeitpunkt der letztmöglichen Schadenszufügungen, dem Ende des Heimaufenthalts am 2. 7. 1976, unter der Obsorge seiner Mutter gestanden. Gründe für einen relevanten Interessenkonflikt seien nicht behauptet worden. Die Verjährungszeit beginne daher spätestens mit diesem Datum zu laufen. Durch die behauptete Dissoziation sei keine Beeinträchtigung vorgelegen, die die Bestellung eines Sachwalters erfordert oder erlaubt hätte. Der Hemmungstatbestand des § 1494 ABGB knüpfe einerseits an das Vorliegen einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung an, andererseits an die weitere Voraussetzung, dass diesen Personen nicht durch die Bestellung eines Sachwalters eine Hilfestellung gegeben sei. Im vorliegenden Fall hätte die Bestellung eines Sachwalters nicht geholfen, weil einerseits die Voraussetzung der Bestellung eines Sachwalters nicht bestanden habe, andererseits ein mangelnder Zugriff auf Ereignisse der Vergangenheit durch einen Sachwalter nicht substituierbar sei. Gerade durch die Schaffung der dreißigjährigen Verjährungsfrist im allgemeinen Zivilrecht und der zehnjährigen Verjährungsfrist im Bereich der Amtshaftung habe der Gesetzgeber der Problematik jener Fälle Rechnung getragen, in denen der Schaden oder die Person des Schädigers über einen langen Zeitraum nicht bekannt geworden sei. Diese absolute Verjährungsgrenze diene sowohl der Wahrung der Rechtssicherheit als auch dem Ausschluss unüberwindlicher Beweisschwierigkeiten. Die behauptete Dissoziation bis Anfang 2013 stelle daher keinen möglichen Hemmungsgrund einer Verjährung dar. Da der Schaden dem Kläger nach seinen Behauptungen nicht bekannt geworden sei, liege der Fall des § 1489 Satz 2 erster Fall ABGB vor, weshalb von der Anwendbarkeit der dreißigjährigen Verjährungsfrist auszugehen sei, die am 2. 7. 1976 zu laufen begonnen habe. Da er 1981 volljährig geworden sei, wären selbst bei Annahme eines Verjährungsbeginns erst bei Volljährigkeit unter Zugrundelegung einer dreißigjährigen Verjährung die Ansprüche seit 2011 verjährt.
Die Beklagte habe die Klagsansprüche auch nicht anerkannt. Nach dem Erklärungswert des Schreibens der Opferhilfeorganisation handle es sich um ein nicht individualisiertes Standardschreiben. Die Formulierung „Natürlich steht Ihnen auch weiterhin der Rechtsweg offen“ sei dahin zu verstehen, dass mit der Annahme der zuerkannten Entschädigung kein Verzicht des Klägers auf weitere Ansprüche verbunden sein sollte und alle weiteren Ansprüche im Rechtsweg zu klären seien. Dass die Verjährungsfrage in einem solchen Prozess nicht aufgeworfen werde, sei dem Schreiben nicht zu entnehmen. Daher liege kein Verzicht der Beklagten auf die Verjährungseinrede vor.
Der Verjährungseinwand der Beklagten sei nicht sittenwidrig, weil die Erklärung in diesem Schreiben objektiv auch nicht so zu verstehen sei, dass im Fall einer Klage Forderungen des Klägers nur mit sachlichen Argumenten ohne eine Verjährungseinrede bekämpft würden. Eine Verjährungseinrede verstoße nur dann gegen Treu und Glauben, wenn das Fristversäumnis auf ein Verhalten des Gegners zurückgehe. Dies behaupte der Kläger aber gar nicht.
Das Berufungsgericht bestätigte das erstinstanzliche Urteil. Rechtlich führte es aus, da eine Dissoziation nach den Klagsbehauptungen in einem Abspalten ‑ also einem Verlust ‑ der Erinnerung an tatsächliche Ereignisse bzw Erlebnisse bestehe, wäre auch durch die Bestellung eines Sachwalters keine effektive Hilfestellung für den Kläger erfolgt, weil ein Sachwalter den fehlenden Zugriff des Klägers auf dessen Erinnerung nicht selbst substituieren hätte können. Der Sachwalter hätte sich nicht an Stelle des Klägers an dessen Erlebnisse erinnern können. Beim Fehlen der Erinnerung an (schädigende) Ereignisse der Vergangenheit liege keine „Geschäftsunfähigkeit“ im Sinne der Bestimmungen des ABGB vor, die aber die grundlegend notwendige Voraussetzung der Hemmungstatbestände des § 1494 ABGB wäre. Die absolut wirkende dreißigjährige Verjährungsfrist des § 1489 Satz 2 erster Fall ABGB habe spätestens am 2. 7. 1976 ‑ dem letztmöglichen Zeitpunkt von Gewalttaten der Heimerzieher ‑ zu laufen begonnen und sei ohne Hemmung am 2. 7. 2006 abgelaufen. Mit 3. 7. 2006 seien die Klagsansprüche nach § 1489 Satz 2 erster Fall ABGB daher verjährt gewesen.
Die Formulierung im Schreiben der Opferhilfeorganisation, dem Kläger stehe der Rechtsweg weiter offen, habe nach dem Verständnis eines redlichen Erklärungsempfängers lediglich den objektiven Erklärungswert, dass mit einer Annahme der angebotenen Zahlung kein Verzicht des Klägers auf die gerichtliche Geltendmachung weiterer Ansprüche verbunden sein solle. Da die schädigenden Handlungen gegenüber dem Kläger nach den Behauptungen nicht von der Beklagten selbst ‑ nämlich nicht durch zu ihrer Vertretung bevollmächtigte Personen ‑ begangen worden seien, gehe auch der Einwand, aufgrund dieser Handlungen sei der Verjährungseinwand sittenwidrig, ins Leere.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage bestehe, ob eine Dissoziation, also eine Abspaltung der Erinnerung an Misshandlungs‑ und/oder Missbrauchserlebnisse vom Bewusstsein, von § 1494 ABGB erfasst werde.
Die dagegen vom Kläger erhobene und von der Beklagten beantwortete Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Sie ist aber nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
1. Der damals minderjährige Kläger war aufgrund einer Einverständniserklärung seiner obsorgeberechtigten Mutter mit der Pflege und Erziehung durch die beklagte Stadt und damit auf vertraglicher Grundlage in einem Kinderheim untergebracht. Die Pflege und Betreuung des Klägers in diesem Heim erfolgte ‑ wovon auch die Parteien ausgehen ‑ nicht im Rahmen der Hoheitsverwaltung (vgl RIS‑Justiz RS0049758).
2. Nach § 1494 Satz 1 ABGB kann die Verjährungszeit unter anderem gegen Minderjährige nicht anfangen, sofern diesen ein gesetzlicher Vertreter nicht bestellt ist. Der Kläger wurde am 1. 4. 1981 volljährig (vgl § 21 Abs 2 ABGB idF BGBl 1973/108). Während der Zeit seiner Heimunterbringung und bis zur Volljährigkeit war er durch seine Mutter gesetzlich vertreten. Dass diese sich in einer Interessenkollision befunden hätte, behauptet er nicht; der Akteninhalt bietet dafür ebenfalls keinen Anhaltspunkt (vgl dazu 6 Ob 234/13z mwN). Damit begann die dreißigjährige Verjährungsfrist des § 1489 Satz 2 ABGB spätestens Anfang Juli 1976 zu laufen. Am 2. 7. 1976, dem unstrittig letztmöglichen Zeitpunkt von Gewalttaten der Heimerzieher, endete der Aufenthalt im Kinderheim. Zu diesem Zeitpunkt war dem Kläger bereits ein Primärschaden entstanden, behauptet er doch Panikattacken und eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund der Gewalt durch die Erzieher erlitten zu haben. Spätestens mit Ablauf des 3. 7. 2006 ‑ der 2. 7. 2006 ist ein Sonntag (vgl dazu 1 Ob 55/13i) ‑ sind daraus resultierende Schadenersatzansprüche ohne Berücksichtigung einer allfälligen Hemmung infolge Verstreichens der dreißigjährigen Verjährungsfrist jedenfalls verjährt.
3.1 Nach § 1494 Satz 2 ABGB läuft die einmal angefangene Verjährungsfrist zwar fort, sie kann aber nie früher als binnen zwei Jahren nach dem Wegfall des Hemmungsgrundes nach Satz 1 vollendet werden. Unter Mangel an Geisteskräften nach dieser Bestimmung ist ‑ abgesehen vom Fall mangelnden Alters ‑ nur eine Geisteskrankheit, das ist eine krankhafte Störung der Geisteskräfte, oder eine Geistesschwäche, das ist eine ungenügende geistige Entwicklung, zu verstehen (RIS‑Justiz RS0034652; M. Bydlinski in Rummel 3 § 1494 ABGB Rz 1). Die Regelung findet auch auf psychisch kranke oder geistig behinderte Personen Anwendung, für die nach § 268 ABGB (§ 273 ABGB aF) ein Sachwalter zu bestellen wäre (1 Ob 53/07m mwN = RIS‑Justiz RS0115342 [T3]; vgl 5 Ob 112/04p = ecolex 2005/82, 204 [M. Leitner]).
Der Kläger behauptet, nach seiner Entlassung aus dem Kinderheim die Erinnerung an die Übergriffe durch eine Dissoziation ‑ eine Abspaltung der Erinnerung an den Missbrauch von seinem Bewusstsein ‑ verloren zu haben. Feststellungen wurden dazu nicht getroffen. Fest steht nur, dass sich der Kläger im Jänner 2013 im Zuge einer psychotherapeutischen Behandlung an die näheren Umstände seiner Heimunterbringung, die von ihm als Missbrauch und Demütigungen erlebt worden waren, erinnerte.
3.2 Die zweitinstanzliche Rechtsprechung ist geteilter Ansicht, ob der Fall einer (solchen) Dissoziation von § 1494 ABGB erfasst ist oder nicht. Das Oberlandesgericht Innsbruck bejahte dies in der Entscheidung 3 R 34/13v (= RIS‑Justiz RI0100010 = AnwBl 2013, 626 = Zak 2013/581, 321; „wohl“ zustimmend R. Madl in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.02 § 1494 ABGB Rz 4), während das Oberlandesgericht Graz diese Frage zu 2 R 179/13f (nicht veröffentlicht; Berufungsgericht zu 6 Ob 234/13z) verneinte, weil derjenige, der sich ‑ ohne psychisch krank oder geistig behindert zu sein ‑ an ein schädigendes Ereignis nicht erinnere, nicht in seiner „rechtlichen Handlungsfähigkeit beschränkt“ sei, sondern nur in seiner Erinnerung an einen rechtserzeugenden Sachverhalt. In der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs wurde diese Frage offen gelassen (6 Ob 234/13z; 1 Ob 169/15g) oder musste mangels Erbringung eines Nachweises über eine dissoziative Störung nicht beantwortet werden (vgl 1 Ob 179/14a; 5 Ob 175/14t = iFamZ 2015/139, 178 [Parapatits]).
Zu dieser Frage hat der erkennende Senat erwogen:
3.3 § 1494 ABGB will handlungsunfähige Personen vor der Gefahr des Rechtsverlusts durch Verjährung (Ersitzung) schützen, wenn sie keinen gesetzlichen Vertreter haben, der ihre Rechte für sie verwalten könnte (R. Madl aaO § 1494 Rz 2; Vollmaier in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang 3 § 1494 ABGB Rz 1; Mader/Janisch in Schwimann, ABGB3 § 1494 Rz 1). Nach dem Gesetzeswortlaut sollen ganz allgemein jene Personen durch die Hemmung geschützt werden, welche aus „Mangel ihrer Geisteskräfte“ ihre Rechte selbst zu verwalten unfähig sind. Als Beispiel werden Personen genannt, die den Gebrauch der Vernunft nicht haben. In der ursprünglichen (mangels Übergangsbestimmung) bis zum 17. 8. 1999 geltenden Fassung war stattdessen noch von „Pupillen, Wahn‑ oder Blödsinnigen“ die Rede gewesen. Diese nicht mehr zeitgemäße Wendung wurde durch das Bundesgesetz BGBl I 1999/164 abgeändert, weil sie geistig behinderte Menschen diskriminierte; inhaltlich sollte sich dadurch nichts ändern (Vollmaier aaO § 1494 ABGB Rz 3 mwN).
Mit Personen, die den Gebrauch der Vernunft nicht haben, sind in erster Linie Volljährige gemeint, die an einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung leiden, derentwegen die Bestellung eines Sachwalters erforderlich ist (RIS‑Justiz RS0115342). Darunter fallen alle Arten geistiger Beeinträchtigungen, die die gehörige Besorgung der eigenen Angelegenheiten hindern (RIS‑Justiz RS0049003; Vollmaier aaO Rz 5).
Bei der vom Kläger behaupteten (nicht festgestellten) Dissoziation handelt es sich um ein geistig/psychisches Phänomen, im Zuge dessen Erinnerungen vom „normalen“ Bewusstsein abgespalten würden, auf die im Weiteren ein Zugriff nicht möglich sei, sondern die erst durch ein besonderes Ereignis wieder präsent würden. Dieses Ereignis könne von ihm ‑ so seine Behauptungen ‑ nicht willentlich gesteuert ausgelöst werden, weil ihm gar nicht bewusst sei, dass ihm ein Teil seines Erinnerungsvermögens fehle. In der einschlägigen Fachliteratur (Maywald, Misshandlung, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch ‑ Eine Übersicht aus sozialwissenschaftlicher Perspektive, FPR 2003, 299 [304]) wird dieses beschriebene Phänomen als eine sinnvolle („normale“) Reaktion auf eine in hohem Maße schädigende („unnormale“) Umwelt angesehen. Der Kläger behauptet nicht, dass er an einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung gelitten hätte, die solcherart gewesen wäre, dass deswegen zur Durchsetzung oder Abwehr von Ansprüchen ein Sachwalter zu bestellen gewesen wäre (vgl 5 Ob 112/04p). Die Dissoziation, also die Abspaltung der Erinnerung an bestimmte Vorfälle vom Bewusstsein, ist kein Mangel an Geisteskräften im Sinn des § 1494 ABGB. Der Kläger, der sich an die schädigenden Ereignisse im Kinderheim bis zum Jänner 2013 nicht erinnert haben will, war nicht in seiner „rechtlichen Handlungsfähigkeit beschränkt“, sondern nach seinem Vorbringen (nur) in seiner Erinnerung an einen rechtserzeugenden Sachverhalt.
Schadenersatzansprüche verjähren jedenfalls nach Ablauf der langen Verjährungszeit des § 1489 Satz 2 ABGB. Die dreißigjährige Verjährung beginnt bereits von dem Zeitpunkt an zu laufen, zu dem die Handlung begangen wurde, die den Schaden herbeigeführt hat (RIS‑Justiz RS0034504 [T3]; Dehn in KBB4 § 1489 ABGB Rz 9). Mit Ablauf der langen (objektiven) Frist ist der späteste Zeitpunkt für die Geltendmachung des Anspruchs verstrichen. Die lange Verjährungszeit von dreißig Jahren bildet eine absolute kenntnisunabhängige Höchstfrist; diese Frist läuft unabhängig von der Kenntnis ab, weshalb es nicht darauf ankommt, ob und wann der frühere gesetzliche Vertreter des Klägers Kenntnis von den behaupteten Misshandlungen erlangt hat und ob und wann der Geschädigte davon (wieder) Kenntnis erlangt hat (1 Ob 169/15g mwN). Da sich jedoch aus dem vom Kläger behaupteten und teilweise auch festgestellten Sachverhalt eine Hemmung der Verjährung im Sinn des § 1494 ABGB nicht ergibt (Punkt 3.), ist die dreißigjährige Verjährungsfrist, die Anfang Juli 1976 (mit dem letztmöglichen Zeitpunkt eines schädigenden Ereignisses) begonnen hat, vor Einbringung des Verfahrenshilfeantrags (am 9. 10. 2013) abgelaufen. Die klagsgegenständlichen Ansprüche sind daher verjährt. Auch die weiteren Einwände versagen nämlich:
4. Entgegen der Ansicht des Klägers hat die Beklagte die in der Klage geltend gemachten Schadenersatzansprüche mit dem Schreiben der Opferhilfeorganisation vom Juni 2013 weder (deklarativ) anerkannt, noch hat sie (konkludent) auf den Verjährungseinwand verzichtet. Die Verjährung wird zwar durch ein deklaratives Anerkenntnis als bloße Bestätigung oder Bekräftigung eines vom Schuldner als bestehend angenommenen Rechtsverhältnisses im Sinn einer Wissenserklärung unterbrochen (RIS‑Justiz RS0033015). Im Zeitpunkt des genannten Schreibens war aber die Verjährungsfrist bereits abgelaufen (Punkt 2.), weshalb eine Unterbrechung nicht in Betracht kommt. Beim Schreiben handelt es sich um eine standardisierte Information an Geschädigte, wie sie bereits Gegenstand der Entscheidung 1 Ob 169/15g war. Der Kläger hat erstmals mit der verfahrensgegenständlichen Klage (weitere) Schadenersatzansprüche gegenüber der Beklagten erhoben. Der Formulierung „Natürlich steht Ihnen auch weiterhin der Rechtsweg offen.“ ist nur der Erklärungswert beizumessen, dass durch die geleistete Entschädigungszahlung von 25.000 EUR kein Verzicht auf allfällige weitere Ansprüche des Klägers abgeleitet werden kann und es sich nicht um eine „Generalabfindung“ handelt.
5. Der Verjährungseinwand der Beklagten ist auch nicht sittenwidrig. Die Verjährungseinrede verstößt dann gegen Treu und Glauben, wenn die Fristversäumnis des Berechtigten auf ein Verhalten seines Gegners zurückzuführen ist. Dazu zählt nicht nur ein aktives Vorgehen des Schuldners dergestalt, dass er den Gläubiger geradezu abhält, der Verjährung durch Einklagung vorzubeugen, sondern es verstößt auch ein Verhalten des Schuldners gegen die guten Sitten, aufgrund dessen der Gläubiger nach objektiven Maßstäben der Auffassung sein konnte, sein Anspruch werde entweder ohne Rechtsstreit befriedigt oder nur mit sachlichen Einwendungen bekämpft, sodass er aus diesen Gründen eine rechtzeitige Klagsführung unterlassen hat (RIS‑Justiz RS0014838 [T5, T7, T11]; RS0034537 [T1, T4, T8, T9]).
Aus dem festgestellten Sachverhalt ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass sich die Beklagte gegenüber dem Kläger so verhalten hat, dass er mit Recht annehmen durfte, sie werde sich im Fall der Klagsführung nach Ablauf der Verjährungsfrist auf sachliche Einwendungen beschränken. Der Kläger vermag dies in der Revision auch nicht aufzuzeigen. Die Beklagte veranlasste ihn auch in keiner Weise, seinen Anspruch nicht innerhalb der Verjährungsfrist einzuklagen. Die behauptete Herbeiführung der Dissoziation des Klägers, der Opfer von Gewalt im Kinderheim wurde, ist kein solches Verhalten der Beklagten, das ihr die Befugnis nimmt, von ihrem gesetzlich eingeräumten Recht (§ 1501 ABGB) Gebrauch zu machen. Die geltend gemachten Schädigungshandlungen zielten erkennbar auch nicht darauf ab, den Kläger von der Geltendmachung seiner Rechte abzuhalten.
6. Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41 und 50 ZPO.
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